Titel
Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933-1938


Autor(en)
Seefried, Elke
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 147
Erschienen
Düsseldorf 2006: Droste Verlag
Anzahl Seiten
594 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gerber Friedrich-Schiller-Universität Jena

Das Österreich der Zwischenkriegszeit stellt für die deutsche Geschichtswissenschaft vielfach noch eine Terra incognita dar. Dieser Befund gilt trotz der in Österreich selbst während der 1950er-Jahre einsetzenden Forschungen zur ersten Republik, die ihre unter wechselnden Perspektiven getroffenen Einschätzungen auch in leicht rezipierbaren Übersichtsdarstellungen vorlegte, etwa dem noch 1992 von Dieter A. Binder neu publizierten Band Walter Goldingers von 1962 und zuletzt dem von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik herausgegebenen zweibändigen Werk zu Österreich zwischen 1918 und 1938.1 Besonders in den 1980er-Jahren wuchs die Forschung zum österreichischen „Ständestaat“ zwischen 1934 und 1938 stark an. Das – und an dieser Stelle setzt Elke Seefrieds eingehende Studie zum deutschen politischen Exil in Österreich an – gilt auch und besonders für das Exilland Österreich zwischen 1933 und 1938. Denn obgleich die erste Republik im Laufe des Jahres 1934 einer mit dem Etikett des „Ständestaates“ versehenen „autoritären Lösung“ wich, stellte Österreich zunächst durchaus ein Refugium für politisch verfolgte unterschiedlicher Couleur aus dem Reich dar. Erst im Zeichen außenpolitischer Isolation unter Kanzler Kurt Schuschnigg suchte Österreich zunehmend die Verständigung mit Deutschland, die schließlich im deutsch-österreichischen Juliabkommen von 1936 gipfelte. Bis in die Mitte der 1930er-Jahre dagegen hatte in Österreich sowohl mit Blick auf die notwendige Unterstützung des faschistischen Italien als auch und vor allem im Interesse der innenpolitischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eher eine Abgrenzung von NS-Deutschland auf dem Programm gestanden.

Elke Seefried zeichnet einleitend die zeithistorisch-forschungsgeschichtlichen Ursachen des Desiderates nach, das ihre Untersuchung behebt: Neben einer auch noch in der frühen zweiten Republik nachwirkenden „vorwiegend deutschen Selbstwahrnehmung“ Österreichs und einem Blick auf das deutschsprachige Exil, der nicht zwischen der Emigration aus Deutschland und dem 1938 „angeschlossenen“ Österreich unterschied, war dieses vor allem durch aktuellpolitische Perspektiven und Rahmenbedingungen der Exilforschung bedingt. In der frühen Bundesrepublik mit dem „Malus des Landesverrats belegt“ (S. 13), rückte mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der 1960er-Jahre, mit der Kanzlerschaft des früheren Emigranten Willy Brandt ab 1969, das sozialistische und kommunistische Exil in den Mittelpunkt des Interesses. Die Emigration von liberalen, besonders aber von konservativen, christlich-konservativen und katholischen Protagonisten fand nur wenig Interesse. Doch konnte gerade für sie der sich formierende österreichische „Ständestaat“ als ein vielversprechender Anlaufpunkt, ja als ein Modell jener Überwindung der parlamentarischen „Formaldemokratie“ erscheinen, die viele dieser Kräfte in der Endphase Weimars verstärkt diskutiert hatten.

Aus dieser konservativen und katholischen Affinität zu Österreich als Exilland, wie auch aus der politisch-gesellschaftlichen Relevanz der einzelnen Exilgruppen in Österreich leitet Elke Seefried ihre nachvollziehbare Schwerpunktsetzung auf das katholische und konservative Exil ab, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, auch das liberale und „linke“ Exil von Sozialdemokraten unterschiedlicher Ausrichtung sowie Kommunisten zu betrachten. Schnell stellt sich bei der Lektüre der inhaltlich überzeugenden Studie allerdings die Frage, ob dieser Anspruch nicht besser doch zugunsten einer expliziten Beschränkung auf die eingehend dargestellten christlich-konservativen Exilgruppen und ihre Interaktion hätte zurücktreten sollen. So stellt z. B. der knappe Abschnitt über den DDP-Politiker Kurt Häntzschel zwar eine aufschlussreiche biographische Exemplifikation der Erosion des deutschen Linksliberalismus in der Weimarer Republik und der auch im liberalen „Lager“ zunehmenden Zweifel am Parlamentarismus dar, denen Häntzschel im österreichischen Exil schließlich auch publizistischen Ausdruck verlieh. Er kann aber kaum die „liberale Emigration“ paradigmatisch charakterisieren, wie es die Überschrift des Abschnitts nahe legt, in dem die allgemeinen Informationen zur Verfassungspolitik und Parteientwicklung der DDP zwischen 1918 und 1933 zudem recht breiten Raum einnehmen. Ähnliches gilt auch für die durchaus interessanten, sozialdemokratische Parlamentarismusdiskussionen und kommunistische Anverwandlung der „Österreich-Idee“ nachzeichnenden Ausführungen zum „linken“ Exil. Trotz der einleuchtenden Orientierung Seefrieds an einem „integrative[n], Gruppen und Repräsentanten aller politischen ‚Lager‘ einbindende[n] Zugriff“ (S. 17), der die „vergleichende Analyse der Ordnungsvorstellungen des Exils“ (S. 388) ermöglichen kann, trotz aufschlussreicher punktueller Vergleichsergebnisse – z. B. struktureller Ähnlichkeiten in der Hinwendung konservativer und kommunistischer Exilanten zur „Nation“ Österreich als „Antithese zum Nationalsozialismus und zur Sozialdemokratie“ (S. 407) – wirken beide Kapitel, die zusammengenommen lediglich 32 von 490 Seiten der Studie umfassen, etwas „angeklebt“. Eine Ausweitung der Vergleichsbasis, das muss bei dieser Kritik im Blick bleiben, hätte freilich den Rahmen der vorliegenden Untersuchung gesprengt, die nicht auf einen Schlag nachholen kann, was die Exilforschung der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte versäumt hat.

Hervorzuheben ist demgegenüber, dass der methodische Zugriff der Studie für eine solche (wohl von der künftigen Forschung zu leistende) Ausweitung gute Voraussetzungen schafft. Das von Elke Seefried angewandte Konzept einer „modernen“ Ideengeschichte fragt nach „gedachten Ordnungen“, Weltbildern, und Identitätskonstruktionen der Exilanten. Die daraus hervorgehende zentrale Frage nach „den Auswirkungen lebensgeschichtlicher Brüche auf die Ideenwelten der Emigration“ kann sowohl die seinerzeit zurecht kritisierten sozialgeschichtlichen Defizite älterer Geistesgeschichte ausgleichen, vermag aber auch die besonders aufgrund der Quellenproblematik selten überzeugend eingelösten Postulate einer „Sozialgeschichte der Ideen“ hinter sich zu lassen. Dies erweist sich für die Untersuchung des deutschen katholischen und konservativen Exils im österreichischen „Ständestaat“ als eine tragfähige Basis. Um über Lebensgeschichten zur Ideenwelt der Exilanten zu gelangen und von dort über publizistische und politische Aktivitäten zu den Wirkungen so geprägter Ideen im Exil zurückzukommen, stellt Seefried „ideelle und politische Biographien und Gruppenbiographien“ (S. 19) in den Mittelpunkt. Neben der überzeugenden Eignung für die Erfassung eines zugleich konzeptionell heterogenen und durch das Agieren eines überschaubaren Personenkreises strukturierten Gegenstandes wie des konservativen und katholischen Exils im Österreich der-Jahre 1933 bis 1938 liefert Elke Seefrieds Vorgehen einen beeindruckenden Nachweis dafür, was biographische Zugriffe für die historische Erfassung komplexer Konstellationen und Prozesse leisten können, die ein „syntagmatisches“ und „paradigmatisches“ Interesse an den betrachteten Individuen miteinander verbinden und sie in keiner Richtung hin überfordern.

Dem biographisch-ideengeschichtlichen Ansatz entsprechend werden in den Abschnitten des ersten und zweiten Kapitels im Hauptteil der Studie differenziert verschiedene Ausprägungen der katholischen und konservativen Emigration dargestellt. So wird beispielsweise am Fall von Hubertus Prinz zu Löwenstein eindrücklich das im katholischen Bereich nicht selten anzutreffende „Oszillieren“ zwischen der Zustimmung zu Demokratie, Parlamentarismus und Republik einerseits und einer nicht nur bei Löwenstein aus der-Jugendbewegung stammenden Sehnsucht nach überzeugendem „Führertum“, nach einer christlich geprägten „Volksgemeinschaft“ jenseits der „Klassengegensätze“ und einer romantisch-ständischen Überformung oder Erweiterung des parlamentarischen Parteienstaates andererseits beschrieben. Der gruppenbiographisch angelegte Abschnitt zur Zeitschrift „Der Christliche Ständestaat“, um die sich unter der Ägide des Philosophen und Publizisten Dietrich von Hildebrand katholisch-konservative Exilanten in entschiedener Gegnerschaft zu NS-Ideologie und -system sammelten, verdichtet das Bild. Auf der Basis weiterer Porträts, etwa des publizistisch intensiv tätigen Jesuiten Friedrich Muckermann, des ehemaligen NSDAP-„Linken“ Otto Strasser oder der Kooperationsversuche zwischen katholisch-konservativen und revolutionär-konservativen Teilen des deutschen Exils gelangt Seefried zu dem Urteil, dass gerade der Blick auf konservative und katholische Gruppen aktuelle Interpreten vor einer wohlmeinend-sinnstiftenden demokratiegeschichtlichen Überhöhung des deutschen Exils insgesamt bewahren sollte. In nahezu sämtlichen Richtungen des deutschen Exils in Österreich bewegten sich die politischen Ideen zwischen „demokratischen, semidemokratischen und antidemokratischen“ Positionen (S. 488).

Diesem Befund Seefrieds ist ebenso nachdrücklich zuzustimmen wie ihrem anschließenden Hinweis darauf, dass zur Erklärung der intellektuellen Anziehungskraft von Alternativkonzepten zur parlamentarischen Demokratie im Exil die Erfahrung der krisenhaften Formierung und vor allem des Scheiterns der ersten deutschen Republik entscheidend war. So nährten zumindest bis 1936 viele Exilanten die Erwartung, die 1934 in Österreich vollzogene autoritäre Wende biete mittel- und langfristige Entwicklungsperspektiven für einen „dritten Weg“ zwischen Parlamentarismus und revolutionärer Diktatur. Noch immer freilich scheint es notwendig zu sein darauf hinzuweisen, dass an solche Alternativansätze „nicht die Maßstäbe der stabilen bundesrepublikanischen Wirklichkeit angelegt werden“ dürfen (S. 484). Die gelungene und informative Studie macht nicht zuletzt in ihrem abschließenden Kapitel zur Remigration nach 1945 deutlich, dass das deutschsprachige Exil in Österreich ein „Laboratorium“ jener Verarbeitung der „Weimarer Erfahrung“ war, die im Dritten Reich in dieser öffentlichen Form nicht möglich war und die für die frühe Bundesrepublik wie für die junge zweite österreichische Republik weitreichende Bedeutung erlangen sollte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Goldinger, Walter; Binder, Dieter A., Geschichte der Republik Österreich 1918-1938, Wien 1992. Weinzierl, Erika; Skalnik, Kurt (Hrsg.), Geschichte der ersten Republik, 2 Bde., Graz 1983.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension