Das hier anzuzeigende Buch ist eine grundlegende Untersuchung zur historischen Einordnung des Babylonischen Talmuds (Bavli), der zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert aus tannaitischen, amoräischen und unspezifizierten Quellen zusammengefügt wurde. Der Autor Richard Kalmin, seines Zeichens „Theodore R. Racoosin Professor of Talmud and Rabbinics at the Jewish Theological Seminary“, ist Spezialist auf dem Gebiet der Jüdischen Geschichte in der Spätantike und seit langem mit der historischen Einordnung des Bavli befasst.1 In der Tat gehört die Frage, wie man die beiden Talmudim, den babylonischen (Bavli) und den Jerusalemer (Yerushalmi) für die Geschichte der Juden nutzbar machen kann, für Historiker der Spätantike zu den größten Problemen. Der Quellenwert der rabbinischen Literatur, insbesondere ihr Repräsentationsgrad für die jüdischen Gemeinden, wird neuerdings wieder intensiv auch von althistorischer Seite diskutiert.2
Kalmin nähert sich dem Themenkomplex, mit herausragender Fach- und Sprachkompetenz ausgestattet, wieder von judaistischer Perspektive aus. Gleich der erste Satz (S. 3) verspricht entscheidende Fortschritte: „This book advances our understanding of late antique Babylonia as partly eastern (i.e. Persian) and partly western (i.e. Palestinian and provincial Roman) in character“. Im Mittelpunkt der folgenden Analysen stehen dann allerdings in erster Linie die Rabbis Babyloniens, weniger die jüdische Gemeinde dort, noch weniger Babylonien und die sassanidische Umwelt. Im Jahre 224 n.Chr. hatte die sassanidische Dynastie das parthische Reich abgelöst und richtete eine eigene Herrschaft für mehr als vier Jahrhunderte auf; wie man weiß mit weitreichenden Konsequenzen, nicht nur für die dortigen jüdischen Gemeinden, sondern auch für die römische Außenpolitik.3 Kalmin versucht nun die Frage zu erörtern, welche Auswirkungen diese Entwicklung für die jüdischen Gemeinden in dem Gebiet zwischen Euphrat und Tigris hatten, soweit jedenfalls eine Antwort anhand allein des Bavli gegeben werden kann: „The book attempts in part to refine our understanding of Babylonian rabbis, bearers of elite Jewish culture, in the context of Persian culture and society“ (S. 8). Das Ergebnis lautet, dass die „Jüdische Gesellschaft“ zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert persische Vorbilder widerspiegelte, dass aber gleichzeitig immer auch Einflüsse aus dem Westen von den palästinischen Rabbis und anderen Texten spürbar sind. Diese Ergebnisse sind aus intensiver, methodisch stringenter Textinterpretation des Bavli gewonnen. Sie resultieren aus der optimistischen Grundidee, dass der Bavli entschlüsselt, seine verschiedenen Lagen und Quellen eindeutig identifiziert und damit für die historische Interpretation nutzbar gemacht werden können. Das erfordert eine klare Methodologie, die sich mittig zwischen zwei entgegengesetzten Positionen verortet: (1.) derjenigen vor allem von Jacob Neusner vertretenen Position, dass Bavli nur die Auffassung des babylonischen Editors enthält, und (2.) derjenigen Position, die das gesamte als tannaitisch bzw. palästinisch-amoräisch gekennzeichnete Material im Bavli auch als authentisch ansieht (S. 17).4 Diese mittlere Position ist gut begründet und wird in der Einleitung dezidiert als gangbarer Weg zu neuen Erkenntnissen präsentiert.
Der Aufbau des Buches orientiert sich an dem zur Verfügung stehenden Quellenmaterial. Es weist sieben inhaltliche Kapitel auf, von denen die ersten vier an konkreten Themen die bereits früher von Kalmin vertretene These bestätigen, dass babylonische und palästinische Rabbis ganz verschieden mit nichtrabbinischen Juden kommunizierten und dementsprechend unterschiedliche Bilder traditioneller Überlieferungen transportierten. Im ersten Kapitel (S. 9-36) geht es etwa um die Differenzen zwischen palästinischem und babylonischem Talmud zum Bar-Kochba-Aufstand, im zweiten (S. 37-60) zur Bedeutung von Rabbis in der Zeit des Zweiten Tempels, im dritten (S. 61-85) um das erkennbar deutliche babylonische Hineininterpretieren von Rabbis in Traditionen aus dem Zweiten Tempel, im vierten (S. 87-101) um das konsequente Heraushalten von Nichtrabbis aus der babylonischen Bearbeitung älterer Traditionen. Das fünfte Kapitel (S. 103-120) schließlich handelt vom Einfluss persischer Haltungen und Praktiken in Bezug auf Bilderverehrung auf Babylonien, in Kapitel 6 (S. 121-147) geht es um die Einschätzung des Sassanidenstaates in seiner Religionspolitik, für die allerdings schon die jüngere althistorische Forschung wichtige Modifikationen erarbeitet hat;5 im letzten Kapitel (S. 149-172) schließlich wird anhand der Sadduzäer-Berichte des Josephus die Bedeutung literarischer Texte innerhalb der babylonischen Überlieferung hervorgehoben bzw. ihre Umformung erläutert. Die Texte werden in englischer Übersetzung präsentiert, mit Parallelüberlieferungen palästinischen Hintergrunds konfrontiert und dann analysiert. Alle Kapitel zeichnen sich durch tief in die Texte eindringende Quelleninterpretationen sowie umfassende Diskussionen moderner judaistischer Forschungen aus.
Kalmin entwirft ein ganz bestimmtes Bild des babylonisch-rabbinischen Lebens, seiner Beziehungen zu sich selbst, zur weiteren jüdischen und schließlich zur nichtjüdischen Umwelt, der Differenzen zur palästinischen Lebenswelt, der persischen bzw. römischen Einflüsse. Die babylonische jüdische Gesellschaft erscheint in der Zeit zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert hauptsächlich, aber nicht ausschließlich von der persischen Umwelt beeinflusst gewesen zu sein. Dieses Bild ist aus einer tief durchdrungenen Kenntnis der jüdischen Texte und einer methodologisch stringenten Interpretation dieser Texte gewirkt. Das macht das Buch so wertvoll. Es will darüber hinaus, wohl in der Hauptsache, einen Beitrag zur historischen Lesung des Bavli leisten. Vieles ist überzeugend, allerdings ist das entwickelte methodologische Konzept selbst wieder voraussetzungsreich (S. 12f.). Kalmin will Tendenzen herausarbeiten, keine Schwarz-Weiß-Malerei betreiben (S. 9). Er erlaubt dem Leser, mögliche kritische Einwände selbst zu überprüfen, da er sie aus der Forschungsliteratur erörtert bzw. auch vorwegnimmt. Historiker registrieren allerdings die fast ausschließliche Konzentration auf rabbinische Texte, die insbesondere in den Kapiteln, die sich mit den Sassaniden befassen, eine deutlich eingeschränkte Sicht bewirkt, auch wenn Kalmin sich hier durch die Sekundärliteratur sachkundig gemacht hat. In jedem Fall aber hat Kalmin eine eindrucksvolle Studie zum Charakter des Babylonischen Talmuds als eines vielschichtigen, aber durchaus auch als eines in seiner Gestaltung und seinen verschiedenen Lagen analysierbaren Werks vorgelegt; mit diesem Buch können neben Judaisten auch Historiker hervorragend arbeiten.
Anmerkungen:
1 Besonders hervorzuheben ist sein Buch über: The Sage in Jewish Society of Late Antiquity, London 1999, auf dessen Ergebnisse auch im vorliegenden Buch immer wieder zurückgegriffen wird.
2 Vgl. Strobel, Karl, Aspekte des politischen und sozialen Scheinbildes der rabbinischen Tradition. Das spätere 2. und das 3. Jh. n.Chr., in: Klio 72 (1990), S. 478-497; ders., Landwirtschaft und agrarische Gesellschaft Palästinas im 3. Jh. n.Chr., in: Münsterische Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 10, 2 (1991), S. 47-88, vor allem S. 49ff.; Schwartz, Seth, Imperialism and Jewish Society. 200 B. C. E. to 640 C. E., Princeton 2002, S. 103-128.
3 Vgl. jetzt den luziden Überblick bei: Brosius, Maria, The Persians. An introduction, London 2006, S. 139-200.
4 Dazu ausführlicher Kalmin, Richard, The Formation and Character of the Babylonian Talmud, in: The Cambridge History of Judaism, Bd. 4: The Late Roman-Rabbinic Period, Cambridge 2006, S. 840-876, hier S. 843-852.
5 Etwa: Brosius (wie Anm. 3), S. 187-196; Wiesehöfer, Josef, Das antike Persien. Von 550 v.Chr. bis 650 n.Chr., Düsseldorf 1998, S. 266-289.