Cover
Titel
Inventing Human Rights. A History


Autor(en)
Hunt, Lynn
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
£ 15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan-Ludwig Hoffmann, Ruhr-Universität Bochum

Das Bekenntnis zu den Menschenrechten gehört in der Gegenwart zu den säkularen Glaubensartikeln liberaler Demokratien. Wer die Menschenrechte anzweifelt, stellt sich scheinbar außerhalb der Regeln des moralisch Sagbaren im Zeitalter der Weltinnenpolitik. Oft erscheint das individuell-unveräußerliche „Recht auf Rechte“ (Hannah Arendt) wie eine überhistorisch-naturrechtliche Selbstverständlichkeit.

Die Menschenrechte sind aber selbst historisch, auch wenn ihre Geschichte bislang nur in Umrissen bekannt ist. So gibt es weder eine Begriffsgeschichte der „Menschenrechte“, zumal in transnational vergleichender Perspektive, noch eine überzeugende Globalgeschichte der Genese und Geltung von Menschenrechtsregimen. Schon die Frage, wo eine Geschichte der Menschenrechte einsetzen müsste, ist umstritten. Von den wenigen Synthesen, die bislang zum Thema vorliegen und die ausnahmslos nicht von Historikern geschrieben wurden, nehmen einige die Antike, andere erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt. Lynn Hunt gibt in ihrem neuen Buch die konventionellste Antwort auf die Frage der Ursprünge: Für sie sind die Menschenrechte eine Erfindung des 18. Jahrhunderts.

Originell an dieser These ist ihre Begründung. Die Menschenrechte gewannen im 18. Jahrhundert an Evidenz, weil sie auf neuen Erfahrungen und sozialen Praktiken aufruhten, einer neuen Gefühlsordnung, deren Herzstück das Mitleiden mit anderen (imagined empathy) wurde. In fünf Kapiteln verfolgt die in Los Angeles lehrende Historikerin die Entstehung dieser emotionalen Grundierung des Rechtediskurses. Nicht von ungefähr folgt sie in der Auswahl einigen Themen der neuen politischen Kulturgeschichte, die Hunt Mitte der 1980er-Jahre selbst mit auf den Weg gebracht hatte.

Für Lynn Hunt ist es kein Zufall, dass die drei Romane des Jahrhunderts, die besonders eindrücklich eine neue, sentimentale Innerlichkeit beschworen – Richardsons „Pamela“ (1740) und „Clarissa“ (1747-48) sowie Rousseaus „Julie“ (1761) – einer begrifflichen Fassung der Menschenrechte zeitlich unmittelbar vorausgingen. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der neuen gefühlten Gleichheit jenseits überkommener Standesgrenzen, die sich die Leser – und vor allem die Leserinnen – dieser Briefromane aneigneten. Für die Aufklärer war die politische Ordnung auf der seelischen Verfassung der einzelnen Individuen aufgebaut. Die Moralisierung gewann so ihre politische Bedeutung. Die Briefromane dienten folglich nicht nur der moral emulation; sie verbanden das eigene Gefühlsleben mit dem Leid anderer und entfalteten so eine politische Eigenlogik.

Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang im zweiten Kapitel. Die Moralkampagnen zur Abschaffung der Folter seit den 1760er-Jahren (vor allem die bekannte Calas-Affäre) verknüpften die neue Betonung von körperlicher Autonomie mit dieser moralischen Sensibilität und Empathie. „Once sacred only within a religiously defined order, in which individual bodies could be mutilated or tortured for the greater good, the body became sacred on its own in a secular order that rested on the autonomy and inviolability of individuals.“ (S. 82) Zwischen den 1760er- und den 1790er-Jahren änderte sich die Sicht der politischen Eliten nicht nur Frankreichs auf den Körper: Die Folter wurde nicht mehr als notwendiges Mittel zur öffentlichen Wiederherstellung der Ordnung des politischen Körpers angesehen, sondern nur noch als Schmerz und Leid von Individuen.

Nur sechs Wochen nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 beschloss die Nationalversammlung die Abschaffung der Folter. Im dritten Kapitel beschreibt Hunt, wie die Erklärungen von 1776 und 1789 die vorangegangene Evolution neuer Gefühlsregime in Rechte verwandelte. Wie in den vorangegangenen Kapiteln werden hier keine grundstürzend neuen Forschungsergebnisse präsentiert. Vielmehr geht es Hunt darum, eine neue Interpretation des rights talk im letzten Drittels des 18. Jahrhunderts vorzulegen. Für sie zerfällt das Reden von Rechten in dieser Zeit in eine partikularistische (auf das eigene Volk bezogene) und eine universalistische (die Menschheit umfassende) Variante. Die englischen Kolonisten in Nordamerika benutzten beide Varianten je nach politischer Konfliktlage. Für die französischen Revolutionäre stand dagegen der moralische Universalismus außer Frage, vor allem, weil damit der Monarchie mit einem Schlag die traditionellen Rechte entzogen wurden.

Die in der Forschung diskutierte Frage, ob die Revolution von 1776 vielleicht gerade deshalb erfolgreicher (im Sinne von politischer Legitimität) war als die von 1789, weil sie die partikular-traditionale mit der universal-menschheitlichen Konzeption der Rechte verknüpfte, wird von Hunt ausgespart. Für sie ist die radikale, sich kaskadenhaft entfaltende Eigenlogik, die die Menschenrechte besaßen, weit wichtiger: Das vierte Kapitel zeigt, wie eine soziale Gruppe nach der anderen in der Französischen Revolution ihre Rechte einforderte und auch erhielt: zuerst die Protestanten, dann 1791 die Juden und, nach der Niederschlagung der Rebellion auf Saint Domingue, die freien Schwarzen. 1794 wurde die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft (und einige Jahre später von Napoleon wieder eingeführt). Nur den Frauen wurde die rechtliche Gleichheit in der Revolution nicht zugesprochen. Einmal in der Welt, ließ sich der Anspruch auf Menschenrechte aber auch ihnen nicht auf ewig verwehren. Wie eng gesteckt die Grenzen der Erklärungen von 1776 und 1789 in der Praxis auch immer waren: Auf lange Sicht haben sie, so Hunt, einen politischen Raum eröffnet, in dem immer neue Rechte eingefordert werden konnten. „The promise of those rights can be denied, suppressed, or just remain unfulfilled, but it does not die.“ (S. 175) Am Ende, so Hunt, werden sich die Menschenrechte schon durchsetzen, weil sie einer Gefühlsordnung entsprechen die, einmal in der Welt, kraft ihrer politischen Eigenlogik für Recht und Gerechtigkeit sorgen wird, irgendwie, irgendwann.

Die Menschenrechte lassen sich nicht definieren, sondern nur erfühlen, schreibt Lynn Hunt am Schluss ihres Buchs. „You know the meaning of human rights because you feel distressed when they are violated.“ (S. 214) Die gewaltförmige Konsequenz, die eine solche Politisierung des Mitleidens zeitigen konnte, und auf die Kritiker der Menschenrechte von Burke bis Arendt hingewiesen haben, werden von Hunt nicht diskutiert – für eine Historikerin der politischen Kultur der Französischen Revolution eine erstaunliche Blindstelle. So bekommt Hunts Geschichte besonders im Schlusskapitel, das sich mit der Entwicklung der Menschenrechte im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, eine evolutive Teleologie und ärgerliche Oberflächlichkeit. Dass Rassismus und Nationalismus zu den beherrschenden Ideen des Jahrhunderts nach den Erklärungen von 1776 und 1789 aufsteigen konnten, die Betonung von Menschenrechten im liberalen Völkerrecht zwischen 1870 und 1960 kaum eine Rolle spielte, es gerade die Staaten mit einer liberalen Rechtstradition wie das Britische Empire und Frankreich waren, die einen besonders expansiven Kolonialismus hervorbrachten, sich Humanitarismus und Kolonialismus mithin nicht ausschlossen und schließlich die globale Dissimination der Gewalt gerade auch durch Bilder funktionierte (und noch immer funktioniert), die empathy with distant suffering zu erzeugen suchen – das alles wird in dem Schlusskapitel konstatiert, aber nicht historisch analysiert. Schade. So bleiben die „Menschenrechte“, wie Lynn Hunt selbst vor einigen Jahren formuliert hat, der vielleicht meistdiskutierte, aber am wenigstens verstandene politische Begriff unserer Gegenwart. 1

Anmerkungen:
1 Hunt, Lynn, The Revolutionary Origins of Human Rights, in: dies. (Hrsg.), The French Revolution and Human Rights. A Brief Documentary History, Boston 1996, S. 1.

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