Traditionell wurde die Harlem Renaissance in erster Linie als eine Literatur- und Kunstbewegung betrachtet, die sich in Harlem, New York, konzentrierte, aus der Great Migration der Afroamerikaner:innen entstand und im Aufstieg Harlems zur Schwarzen Kulturmetropole der USA mündete. In der Forschung wurden Musik, Film und Theater zwar erwähnt, jedoch mehr als Atmosphäre und Flair denn als mit Literatur und Kunst konkurrierende Ausdrucksformen. So wurden etwa der Blues und Jazz oft als Inspirationen für die Poesie eines Langston Hughes oder als Thema in den Romanen eines Jean Toomers betrachtet. Eine eingehendere Analyse der Rolle der Musik innerhalb der Bewegung blieb meist aus.1 Glücklicherweise hat sich diese enge Sichtweise geändert. Die Harlem Renaissance wird zunehmend aus einem breiteren Blickwinkel betrachtet, der sie als nationale Bewegung mit Verbindungen zu internationalen Entwicklungen in Kunst und Kultur anerkennt und die nichtliterarischen Aspekte der Bewegung stärker betont.2
Die Herausgeberinnen von A History of the Harlem Renaissance, Rachel Farebrother und Miriam Thaggert, führen diese umfassendere, komplexere Perspektive mit ihrem Band fort. Von Anfang an, so die Herausgeberinnen, war die Harlem Renaissance eine Emanzipationsgeschichte Schwarzer Künstler:innen, die sich stark auf die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen fokussierte. Und es sei gewinnbringend, so die Herausgeberinnen, für eine historische Einordnung dieses Phänomens, die zeitgeschichtlichen Identitätskrisen als Leitfaden zu berücksichtigen. Entsprechend zieht sich die Beschäftigung mit Fragen der Identität wie ein roter Faden durch diese hervorragende Anthologie. Aufgeteilt in vier Hauptteile mit jeweils fünf Beiträgen konzentriert sich das Buch auf Neuinterpretationen der gesamten Bandbreite der Bewegung unter Berücksichtigung der komplexen Genrevielfalt, immer mit dem Blick auf die kontroversen Diskurse, in denen die historischen Akteur:innen involviert waren.
Der erste Teil („Re-Reading the New Negro“) konzentriert sich auf eine Reevaluation der Harlem Renaissance durch neue Interpretationsansätze. Im ersten Artikel befasst sich Daniel G. Williams mit kulturellem Nationalismus und Kosmopolitismus (S. 21–37). Als Minderheitenbewegung, so Williams, sei es ein Merkmal der Harlem Renaissance gewesen, die eigene Vielfalt und die Fähigkeit zur Integration anderer zu betonen. Der Wunsch, die hybriden, multikulturellen Eigenschaften in den Vordergrund zu stellen, sei ein genreübergreifendes Phänomen afroamerikanischer Kultur jener Zeit gewesen. Williams demonstriert dies eindrucksvoll anhand der Felder Musik (Duke Ellington), Literatur (Jean Toomer) sowie Ethnographie (Zora Neale Hurston). Der Autor zeigt, wie sich alle drei Künstler:innen gegen die statischen, homogenen und primitivistischen Ansichten über Schwarze Menschen und die Forderung vieler (weißer) Zeitgenoss:innen nach einer kulturellen Assimilation der Afroamerikaner:innen wehrten.
Der zweite Teil des Bandes („Experimenting with the New Negro“) untersucht verschiedene Arten von Innovationen innerhalb der Harlem Renaissance, mit besonderem Augenmerk auf afroamerikanische Schriftstellerinnen, die in Debatten über die Avantgarde sonst eher eine Randposition einnehmen. Fionnghuala Sweeneys Beitrag (S. 144–158) ist hier hervorzuheben, die Eslanda Goode Robesons Paul Robeson, Negro (1930) als ein seltenes Beispiel einer modernistischen Biografie begreift, in der die Politik der Männlichkeit im Mittelpunkt steht. Sweeney macht deutlich, wie bestimmte Identitätsdebatten der Harlem Renaissance die Grenzen der von Schwarzen, männlichen Autoren selbst geforderten sexuellen, politischen sowie kulturellen Freiheiten gleichzeitig aufzeigten und definierten. Sie argumentiert, dass die Neuartigkeit von Robesons Biografie ihres Mannes dem Schauspieler, Sportler, Sänger und Bürgerrechtler Paul Robeson – darin liegt, dass sie sich mit breiteren Debatten über die Politik hinter der Kunst auseinandersetzt. Denn einerseits, so Sweeney, wird Robeson als das idealisierte Gesicht der Errungenschaften der Harlem Renaissance konstruiert – ein Mann, dessen einzigartige Karriere ihn zur Personifizierung afroamerikanischer Kultur auf nationaler sowie internationaler Ebene machte (S. 145). Auf der anderen Seite aber dekonstruiere Eslanda Robeson dieses Bild mit einer „Politik des Persönlichen“ (S. 147), einer Strategie, welche die Kluft zwischen der öffentlichen und der privaten Person Robesons (dem Ehemann und Vater) überbrücke und damit einen kritischen Raum schaffe, in dem das Ideal selbst auf den Prüfstand gestellt wird. Darin stecke auch eine Kritik am Bild des „New Negro“, das immer kulturellen Fortschritt implizierte und das jeweilige Subjekt vom scheinbar rückständigen und passiven „Old Negro“ abhob.
Der dritte Teil („Re-Mapping the New Negro“) greift in die kritischen Debatten über die Bedeutung des Raumes für die Kultur der Harlem Renaissance ein und präsentiert Analysen, die die Bewegung in Bezug auf das Transnationale, das Nationale und das Lokale untersuchen. Denn auch wenn die Kontakte zu anderen Bewegungen und Nationen oft erwähnt werden, so wird deren Bedeutung für die Harlem Renaissance oftmals unterschätzt. Jak Peake, zum Beispiel, wendet sich in seinem Beitrag (S. 211–232) dem kulturellen Zentrum Harlem zu und macht deutlich, dass dieses Teil eines karibischen Netzwerks war, das in den Schriften und der Geschichtsschreibung zur Ära des New Negro teilweise vernachlässigt wurde. Peake analysiert in diesem Zusammenhang eine selten diskutierte karibische Hintergrundgeschichte des Symposiums über „Negro Art“, das W.E.B. Du Bois 1926 veranstaltete. Er zeigt auf, dass das in der Karibik handelnde Buch The Wooings of Jezebel Pettyfer des britischen Autors Haldane Macfall – und dessen Exotisierung der Schwarzen Kultur – der entscheidende Antrieb für das Symposium war. The Wooing war 1898 erschienen, aber eine Neuauflage veranlasste DuBois dazu das Buch und seine Rezeption als Beispiel eines Black Minstrelsy zu interpretieren und er sah sich Peak zufolge dazu veranlasst, die Dilemmata von Schwarzer Repräsentation in der Kunst zu diskutieren.
Ein Beitrag des vierten und letzten Teils dieser Anthologie („Performing the New Negro“), welcher meines Erachtens die Debatten um Identität am stärksten verdeutlicht, ist Wendy Martins „Jazz and the Harlem Renaissance“ (S. 345–360). Martin beschreibt hier den widersprüchlichen und oftmals polarisierenden Charakter einer Musikform, die heute so selbstverständlich zur Harlem Renaissance zu gehören scheint, aber zu Anfang der Bewegung von vielen Akteur:innen abgelehnt wurde. So erklärt Martin, wie W.E.B. Du Bois, Jazz anfangs als „vulgär“ und „unzivilisiert“ beschimpfte (S. 347). Diese Meinung wurde aber von anderen, wie etwa Alain Locke, abgelehnt. Locke war der Meinung, Jazz sei nicht nur eine eminent wichtige Ausdrucksform des „New Negro“, sondern anthropologisch betrachtet ebenso wichtig wie die von Du Bois favorisierten Spirituals (S. 348). Es sind diese Debatten, so Martin in Anknüpfung an den Grundton der Anthologie, die das eigentliche Wesen der Harlem Renaissance beschreiben – die Uneinigkeiten, Widersprüche und komplexen Hintergründe, die in der Identitätssuche der afroamerikanischen Intellektuellen zum Ausdruck kamen.
Man könnte diesen offenen, eklektischen Blick auf die Harlem Renaissance noch weiterführen, indem man etwa zusätzliche interkulturelle Einflüsse einbezieht. Wie wirkte sich beispielsweise die Kultur der Native Americans auf Musikstile wie Jazz und Blues aus? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegende Anthologie ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Harlem Renaissance darstellt, gerade weil sie die großen Deutungsmuster ablehnt und den Fokus auf Zwischenräume, vermeintliche Nebenschauplätze und Aushandlungsprozesse legt. So gab es innerhalb des New Negro Movement große Dispute darüber, wie afroamerikanische Kunst, Literatur, Film, Tanz, Theater, Ethnographie oder eben Musik auszusehen oder zu klingen haben, um sich von alten Stereotypen zu verabschieden und gleichzeitig die künstlerischen Ausdrucksformen Schwarzer Künstler:innen in den USA und darüber hinaus zu erweitern. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bereichert das Verständnis dieser spannenden Kulturepoche maßgeblich.
Anmerkungen:
1 Vgl hierzu das zweibändige Standardwerk von Sandra L. West Aberjhani, Encyclopedia of the Harlem Renaissance, New York, 2003. Wenn auch umfassend und gut organisiert, vernachlässigt das Werk dennoch oft die genreübergreifenden Arbeiten von Akteur:innen wie Langston Hughes, der hier vor allem als Schriftsteller und Dichter präsentiert wird, dessen ethnographischen und anthropologischen Arbeiten jedoch unerwähnt bleiben.
2 Ein wichtiger neuer Ansatz war Henry Louis Gates Jr und Evelyn Brooks Higginbothams Harlem Renaissance Lives, New York 2009.