S. Geisler: Finnische Bauprojekte in der Sowjetunion

Cover
Titel
Finnische Bauprojekte in der Sowjetunion. Politik, Wirtschaft, Arbeitsalltag (1972–1990)


Autor(en)
Geisler, Saskia
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
335 S., 5 SW-Abb., 1 SW-Tab.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hajo Raupach, Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas, Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Lachend steckte der sowjetische Polizist das Pornoheft in seine Tasche. Die finnischen Arbeiter, denen er es abgenommen hatte, mussten es aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Doch das war verboten (S. 288). Für die Arbeiter hatte das kleine Vergehen keine weiteren Folgen – und doch verrät es viel über Arbeit und Alltag auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Und ihr Heft durften die Finnen schließlich nicht behalten.

Über viele Jahre hinweg lebten, pendelten und bauten mehrere Tausend finnische Bauarbeiter in der sowjetischen Stadt Kostomukša als Auftragsarbeiter. Die Planstadt wurde ab 1977 als Bergbausiedlung angelegt, um Eisenerz für die sowjetische Stahlindustrie zu fördern. Und die Finnen von Kostomukša waren nicht allein. Dutzende finnische Bauprojekte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion realisiert, etwa zur Instandhaltung von Staudämmen im karelischen Grenzgebiet. Doch zum Ende der 1960er-Jahre weiteten sich die Aufträge noch aus: Hotels, Industrieanlagen und Museen – immer häufiger vergab die Sowjetunion Auftragsarbeiten an westliche Baufirmen. Möglich wurde dies durch die immer reichlicher sprudelnden Einnahmen aus der Ölförderung.

Saskia Geisler untersucht diese Bauprojekte in ihrer Dissertation aus einer finnischen Perspektive. Dies scheint umso sinnvoller, als dass Finnland eine besondere Stellung in der Außenpolitik der Sowjetunion einnahm. Das kleine skandinavische Land, das trotz seiner Beteiligung am deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion auch nach 1945 seine Souveränität erhalten konnte, nahm eine Art Brückenfunktion zwischen Ost und West ein. Während das politische System Finnland als Teil der westlichen Welt verortete, blieb es mit der Sowjetunion über den Clearing-Handel verbunden, durch den sich die finnische Wirtschaft in Teilen der Sowjetunion anpasste. Dies sicherte Finnland die Möglichkeit, zahlreiche Bauaufträge aus der Sowjetunion zu akkumulieren.1

Eine große Stärke von Geislers Studie ist ihr breit gewählter Ansatz, mit dem sie die Einsätze der finnischen Bauarbeiter in der Sowjetunion analysiert. So gelingt ihr in der einführenden Beschreibung der politischen Situation zwischen Finnland und der Sowjetunion, die komplexe Gemengelage aus Innen- und Außenpolitik zu entzerren und herauszuarbeiten, welche Funktion die Kooperation im Baubereich für Finnland respektive die Sowjetunion hatte. Dabei stellt sie zunächst die Rolle des finnischen Langzeitpräsidenten Urho Kekkonen (1900–1986) in den Vordergrund. Durch seine lange Amtszeit von 1956 bis 1981 habe er es geschafft, eine Form von institutionalisiertem Vertrauen zu etablieren. Die diplomatische Interaktion zwischen sowjetischen und finnischen Vertretern sei in der Praxis durch gemeinsame Freizeitaktivitäten wie die gemeinsame Jagd oder Saunabesuche geprägt gewesen, die darauf abzielten, persönliche Beziehungen zwischen den Vertretern beider Staaten zu fördern. Dieses persönliche Vertrauen entwickelte sich laut Geisler mit der Zeit zu einer Quasi-Institution. Auch wenn es durch die Ausgestaltung der sowjetisch-finnischen Wirtschaftsbeziehungen, in denen immer ein Außenhandelsgleichgewicht hergestellt werden musste, sehr häufig zu Konflikten kam, stieg Finnland so in den Augen der sowjetischen Unterhändler insgesamt zu einem vertrauenswürdigen Partner auf.

Nach der Analyse der politischen Voraussetzungen für die finnisch-sowjetischen Baukooperationen wendet Geisler sich den wirtschaftlichen Überlegungen vor allem in Finnland zu. An diesem Punkt der Arbeit tritt ein hybrider Akteur auf die Bühne, der in der Gesamtkomposition eine ambivalente Rolle einnimmt – der finnische Baukonzern Finn-Stroi. Schon die Namensgebung – „stroi“ ist Russisch für Bau und Namensbestandteil zahlreicher sowjetischer Bautrusts – zeigt an, dass der Konzern eigens für den sowjetischen Markt gegründet wurde. Er trat als Konsortium finnischer Baufirmen auf, um zu scharfe innerfinnische Konkurrenz bei Angeboten an die Sowjetunion zu vermeiden und gleichzeitig der sowjetischen Seite einen einzigen Ansprechpartner für Verhandlungen, Beschwerden und Abnahmen zur Verfügung zu stellen.

Das Kapitel zu Finn-Stroi ist zwischen den Kapiteln über die politischen Voraussetzungen für die Baukooperation und die Mikrogeschichte der Baustellen angesiedelt. Dies ergibt durchaus Sinn, da die Erzählung über Finn-Stroi in der Gesamtkomposition des Buches erklärt, wie die politischen Entscheidungen auf Regierungsebene sich auf die Arbeiter vor Ort auswirkten. Geisler charakterisiert den Konzern als Teil einer „verflochtenen Staatlichkeit“ (S. 89), der auf dem Territorium der Sowjetunion staatliche Aufgaben übernahm und dabei durchaus eigene Interessen verfolgte. Dies mag ebenso wenig überraschen wie die Tatsache, dass der Konzern trotz anderweitiger Beteuerungen bei allen staatlichen Aufgaben immer als kapitalistischer Akteur auftrat, der Gewinn erwirtschaften wollte. So kann die Analyse von Finn-Stroi sehr gut erklären, warum beispielsweise der politische Wert der Völkerverständigung, den die finnische und die sowjetische Regierung gerade bei dem Leuchtturmprojekt Kostomukša sehr stark betonten, in der praktischen, von Finn-Stroi organisierten und verwalteten Bauausführung nur eine eher untergeordnete Priorität besaß.

In den Abschnitten über die Gründung Finn-Strois wird besonders deutlich, wie stark einzelne Personen sowohl die sowjetische Seite als auch innerfinnische Interessengruppen bespielten. So stand Kauko Rastas (1925–2007), ein enger Vertrauter von Langzeitpräsident Kekkonen, im Jahr 1972 vor dem Dilemma, dass die Sowjetunion einen Auftrag für Svetogorsk I an ein einzelnes finnisches Unternehmen vergeben wollte. Gleichzeitig war keines der finnischen Unternehmen liquide genug, um dieses Bauprojekt zu stemmen. Die Lösung, die Rastas sowohl der finnischen Industrie als auch den sowjetischen Handlungsführern präsentierte, war ein Konsortium aus verschiedenen finnischen Firmen, die unter einer Führung auftreten würden: Finn-Stroi war geboren. Gleichzeitig bestanden die sowjetischen Unterhändler auf dem Einsatz einer vertrauten Person an der Spitze des neuen Konsortiums, die mit Risto Kangas-Ikkala (geb. 1937) gefunden wurde (S. 94). In dieser Episode zeigen sich sowohl die Stärken als auch die Schwächen von Geislers Konzeption des institutionalisierten Vertrauens. Denn Vertrauen war für die sowjetische Seite primär personell strukturiert, während die Institutionalisierung unter dem Dach von Finn-Stroi mehr den Bedürfnissen der finnischen Seite entsprang. Es bleibt der Eindruck, dass Kompromisse und Lösungen am Ende doch immer einzelnen Personen zu verdanken waren.

In einigen Nebenerzählungen berichtet die Autorin zudem davon, dass in konkreten Verhandlungssituationen häufig die Appellation an Ingenieursehre als Verhandlungsstrategie gewählt wurde. Hier wäre es interessant gewesen, diesem verbindenden Element zwischen Verhandlern aus Marktwirtschaft und Planwirtschaft intensiver nachzugehen. Während die grundsätzlichen Überlegungen der Autorin zu Finn-Stroi, insbesondere auch der Verweis auf den hybriden Charakter des Konsortiums zwischen Markt und Staat, überzeugend wirken, finden sich in dem Kapitel über Finn-Stroi zahlreiche Nebenschauplätze, die zwar thematisch passend und für sich interessant sind, aber teilweise den Fluss der Analyse eher hemmen.

Im letzten Teil des Buches widmet sich die Autorin der Mikroperspektive und nimmt die Leser:innen mit auf die finnischen Baustellen der Sowjetunion. Hier gelingt ihr eine ausgesprochen ertragreiche mikrogeschichtliche Studie, die in der Lage ist, zahlreiche Aspekte sowohl der finnischen als auch der sowjetischen Gesellschaft zu beleuchten. Gemeinsam mit den finnischen Arbeiter:innen fährt man als Leser:in mit dem Trolleybus zu Hotelneubauten in Tallinn, verfolgt die Ermittlungen in einem Mordfall und besucht finnisch-sowjetische Tanzabende. In scharfen Kontrasten hebt sich das Bild der Baustellen, das Geisler in diesem Kapitel zeichnet, von den glatten Berichten der Finn-Stroi-Manager aus dem vorangegangenen Kapitel ab.

Den Spitzen der finnischen Politik dienten die Bauaufträge in der Sowjetunion zur Demonstration der eigenen Handlungsfähigkeit. Durch neue Auslandsaufträge konnten Lösungen für die angespannte Lage auf dem finnischen Arbeitsmarkt präsentiert werden. Die sowjetische Führung wollte – ganz im Sinne des Geistes der Entspannung der 1970er-Jahre – demonstrieren, dass die Sowjetunion für kapitalistische Unternehmen aus dem Westen ein attraktiver Markt sein könne. Leuchtturmprojekte wie der Bau von Kostomukša waren zudem in Beton gegossene Beweise dafür, dass die sowjetische Führung es mit der Völkerverständigung und den Friedensbemühungen ernst meinte. Das Finn-Stroi-Management hingegen wollte – trotz teilweise anderweitiger Rhetorik – primär die eigenen Gewinne steigern. Während sich am Ende keine dieser doch recht unterschiedlichen Interessen auf Dauer durchsetzen konnte, kann Geisler in ihrer beinahe mikroskopischen Betrachtung des Alltags auf den Baustellen zeigen, dass sich unabhängig von den Interessen der großen Akteure tatsächlich in den konkreten Interaktionen zahlreiche kleine Geschichten finden lassen, die in der Summe die großen Fragen der Politik fast schon redundant erscheinen lassen. Gerade Geislers Auswertung zahlreicher Gespräche mit Bauarbeiter:innen und Bewohner:innen von Kostomukša zeigt nicht nur, dass diese als Akteure durchaus über „Eigen-Sinn“ verfügten, sondern eröffnet auch neue Perspektiven auf Ehe und Partnerschaft, Freizeitverhalten, politische Organisationen, Verbrechen und Strafe und tatsächlich vereinzelt so etwas wie Völkerfreundschaft. Auch wenn sich letztere häufig ganz anders organisierte, als es von den politischen Akteuren erwünscht war.

Geisler präsentiert eine interessante und lehrreiche Studie über die Bautätigkeit finnischer Arbeiter:innen in der Sowjetunion. Ihre Alltagsbeschreibungen und ihre Untersuchungen aus der Mikroperspektive geben dabei der Erzählung nicht nur Farbe, sondern ermöglichen einen detaillierten Blick auf die Alltagserfahrungen sowohl der Finn:innen als auch der sowjetischen Bürger:innen, die mit ihnen in Kontakt traten.

Anmerkung:
1 Zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Finnland und der Sowjetunion siehe auch die Studie über die Schiffbauindustrie von Saara Matala, A History of Cold War Industrialisation. Finnish Shipbuilding between East and West, Abingdon 2021. Vgl. auch die Besprechung von Max Trecker, in: H-Soz-Kult, 11.12.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-118551 (15.01.2024).