Die vom Verlag im Klappentext untergebrachte Annotation betont an zwei Stellen, dass Leben und Werk des römisch-deutschen Kaisers und böhmischen Königs Karl IV. (1316/1346–1378) zum ersten Mal aus europäischer Perspektive geschildert werden und dass es sich um die erste moderne Biographie seit über dreißig Jahren handelt. Das Auswahlliteraturverzeichnis, besonders die Auflistung der Arbeiten auf S. 352–353, fordern jedoch zum Nachdenken auf. Etwa deshalb, weil die Ausdehnung von Karls Herrschaft bereits von Ferdinand Seibt im Untertitel seiner Arbeit aufgeführt wurde1 und weil sich Monnets Auffassung in vielerlei Hinsicht mit dem Porträt Karls deckt, unter das Václav Žůrek bereits drei Jahre zuvor seinen Namen gesetzt hat.2
Pierre Monet gliederte seine Überlegungen in zehn weiter unterstrukturierte Kapitel, in denen er drei Grundproblemkreise erörterte: Im ersten fasste er mehr oder weniger traditionell das Schicksal Karls IV. von der Wiege bis zum Grab zusammen (Erobern, S. 22–89), im zweiten verweilte er bei seiner Herrschaftspraxis (Herrschen, S. 104–178) und das dritte widmete er Karls Selbstdarstellung und seinem Nachleben (Überdauern, S. 184–286). Die einzelnen Themenblöcke trennte der Verfasser durch „Akte“ voneinander ab, deren Sinn er in der Einführung zu erhellen versuchte (S. 21). Karls Pläne sollen auf besonders verständliche Weise aus seinem letzten Besuch von Paris (S. 90–103), ferner aus der feierlichen Beisetzung seiner Gebeine im Veitsdom auf der Prager Burg (S. 179–182) und schließlich aus dem von ihm sich selbst errichteten Denkmal (S. 287–289) zu uns sprechen. Gerade diese Schichten seines Handelns sollen uns helfen zu verstehen, wer und vor allem was Karl war und welche Möglichkeiten, Grenzen und verborgene Motive seine Entscheidungen hatten.
Ein angenehmer Mehrwert der Arbeit ist der übersichtliche, in kurze Unterkapitel gegliederte Text, der auf die klar formulierten, am Anfang jeden Themas gestellten Fragen Antworten liefert. Eine Leseanleitung liefert auch die sorgfältig durchdachte Einführung, in der sich Pierre Monnet zu den von Jacques Le Goff3 1989 formulierten methodischen Ansätzen bekennt (S. 20). Die Absicht des Autors wird zusätzlich noch in der abschließenden Zusammenfassung erläutert (S. 290–295), und der Text- und Kartenanhang kann für den Leser als zuverlässige Stütze dienen (S. 303–311). Verweise auf weiterführende Literatur und Quellen sind in den Fußnoten zu finden (S. 312–343), deren Inhalt sich in der Gesamtbibliographie jedoch nur teilweise widerspiegelt (S. 344–353).
Karl IV. hatte im Erbe der Přemysliden einen soliden Hintergrund, was ihn für die tschechische Mediävistik zum Gegenstand des Interesses machte. Möglicherweise auch deshalb hatte Pierre Monnet das Bedürfnis darauf hinzuweisen, dass er die tschechische Sprache nicht beherrscht (S. 20) und er Martin Nejedlý und seinem ehemaligen Doktoranden Václav Žůrek für ihre umfassende Hilfe dankbar ist (S. 297). In Kenntnis des Resultats kann man festhalten, dass sie gute Arbeit geleistet haben, da der Autor sich auch mit den tückischen Stellen der böhmischen Geschichte auseinanderzusetzen wusste. Als Beispiel pars pro toto sei hier die treffende Beschreibung der Stellung der böhmischen Länder im römisch-deutschen Reich genannt (S. 108), wodurch sich die auf unselige Weise berühmte Wortverbindung „Böhmen und das Reich“ aus den Darlegungen verflüchtigt hat.
Nicht allem kann man jedoch vorbehaltlos zustimmen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Peter von Zittau kann man wohl nicht zu einem gebürtigen Böhmen erklären (S. 26), wenngleich Zittau damals zum Königreich Böhmen gehörte. Ich fürchte ebenfalls, dass die Vorstellung, die stärker werdende deutsche Minderheit habe das Königreich Böhmen davor bewahrt, die Bindung zum römisch-deutschen Reich zu lösen (S. 111), an den Rand nachprüfbarer Annahmen verwiesen werden muss, dem sei hinzugefügt, dass Pierre Monnet an anderer Stelle (S. 108–109) mit Recht auf die eigene, sich auf alte heimische Traditionen gründende Identität der Gemeinschaft der Böhmen hinwies, für die Handlungsfreiheit ein sehr charakteristischer Zug war.
Dieser kleine Widerspruch bestätigt, dass Pierre Monnet längst Gesagtes nicht wiederholen wollte und er die Zusammenhänge jener Zeit mit Respekt vor dem Stand der Erkenntnisse freilegte, ohne auf einfallsreiche Ansätze und unverbrauchte Lösungen zu verzichten. Überraschend viel Raum sparte er für Karls Biographie (Vita Caroli) aus, ein Denkmal, das sich gegen eine eindeutige Genrezuordnung sträubt. Das Werk geringen Umfangs wird mit gewisser Vorsicht zu den Fürstenspiegeln gezählt, wobei die ersten vierzehn Kapitel, deren Urheberschaft man Karl IV. zuzuschreiben pflegt, die Ereignisse bis zum Jahr 1340 umfassen, der Rest des Textes wird nur bis zum Jahr 1346 weitergeführt.4
Durch alle Kapitel zieht sich eine frische Lektüre der Vita Caroli. In Karls Biographie fand Pierre Monnet die Erklärung dafür, warum er einen anderen Namen annahm, bzw. vielmehr erhielt (S. 124), und auch den Schlüssel zu seinen Vorstellungen darüber, wer er eigentlich sein wollte. Treffende Beobachtungen zu Karls Selbstdarstellung beleuchten gleichzeitig seinen leichtfertigen Umgang mit Geld, was sich in Schuldverschreibungen niederschlug und auch zum Niedergang des Prager Groschen (S. 147–148) sowie zu Karls widersprüchlicher Beziehung zu den Stadtgemeinden beitrug (S. 165–178).
Als kurzatmig erscheint in Monnets Darlegung auch Karls so sehr gerühmte diplomatische Gewandtheit. Die bitteren Früchte dessen hat jedoch erst sein Sohn Wenzel IV. (1378–1419) geerntet, der sich mit den Schulden und der politischen Isolation auseinandersetzen musste. Gönnen wir ihm also zumindest ein wenig Anteilnahme, und wenn Pierre Monnet ausführte, er habe für Karls Herrschaftsstil kein Verständnis gehabt (S. 291–292), fragen wir uns, ob er überhaupt eine Wahl gehabt hat? Wenzel hat sich der alten Ratgeber aus den Reihen des Hochadels doch nicht deshalb entledigt, um den Nachlass seines Vaters zu ignorieren, sondern deswegen, weil nur gebildete und erfahrene Wirtschaftsexperten die zerrütteten Finanzen in Ordnung bringen konnten, die niederer Abkunft waren, ggf. dem bürgerlichen Stand angehörten.
Die unvermeidlichen Reformen haben in Böhmen einen schmerzhaften Zehnt nach sich gezogen. Die gesellschaftlichen Spannungen wuchsen zu blutigen Unruhen und einer heftigen Kritik aus, der verfolgte und durch zweimalige Gefangenschaft gebrochene Wenzel IV. verfiel dem Alkohol. Inmitten der Ungewissheiten war es wohl unmöglich, sich an seinen Vater anders als im Guten zu erinnern. Karl wurde postum der Ehrentitel Vater des Vaterlandes verliehen, und noch im Jahr 2005 wurde er in einer Umfrage mit Abstand zum „größten Tschechen“ gewählt.
Monnets Karl IV. hat sich jedoch nicht an den tschechischen Leser gewandt, sondern an den französischen, den wohl überraschen konnte, dass das 14. Jahrhundert nicht nur ein Zeitalter der Pogrome war, und dass die Länder hinter dem östlichen Lauf des Rheins bemerkenswerte Reformen durchgemacht haben. Für den deutschen Leser kann die gesunde Distanz zu den Reichsverhältnissen neu sein, besonders wenn der Autor vor den dunkelsten Seiten von Karls Herrschaftspraxis nicht die Augen verschließt. Pierre Monnet hat dann allen unterschiedslos gezeigt, dass auch sehr vertraute Orte mit nicht geringem Nutzen aufgesucht werden können.
Anmerkungen:
1 Ferdinand Seibt, Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346 bis 1378, München 1978.
2 Václav Žůrek, Karel IV. Portrét středověkého vládce [Karl IV. Portrait eines mittelalterlichen Herrschers], Praha 2018.
3 Jacques Le Goff, Comment écrire une biographie historique aujourd´hui?, in: Le Débat. Histoire, politique, société, No 54, mars-avril 1989, S. 48–53.
4 Jana Nechutová, Die lateinische Literatur des Mittelalters in Böhmen, Köln 2007, S. 170–171.