In seiner 2020 an der Universität des Saarlandes angenommenen und nun in Buchform vorliegenden Dissertation hat Philipp Höhn sich den Konfliktpraktiken hansischer Kaufleute rund um die spätmittelalterliche Stadt Lübeck (ca. 1370–1470) gewidmet. Erklärtes Ziel ist, wie das einleitende Kapitel darlegt, die Komplexität mittelalterlichen Konflikthandelns nachzuzeichnen und anachronistische Lesarten zu überwinden, die hansische Kaufleute „vor allem unter ökonomischen Kosten-Nutzen-Vorstellungen untersucht haben.“ (S. 25) Dies ist Höhn gelungen. Gestützt auf eine sorgfältige Quellenlektüre und eine breite Theoriepalette aus Soziologie, historischer Kriminalitätsforschung und Anthropologie hat er eine im besten Sinne moderne Rechtsgeschichte mittelalterlichen Konflikthandelns geschrieben.
Seinen Gegenstand entwickelt Höhn im zweiten Kapitel in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand hansischer Konfliktgeschichte. Es gelte „die Heraushebung der Kaufleute aus der mittelalterlichen Lebenswelt zu überwinden“ (S. 46), zu der die jüngste wirtschaftsgeschichtliche Ausrichtung der Hanseforschung geführt habe. So setze diese von den New Institutional Economics beeinflusste Perspektive voraus, dass mittelalterliche Kaufleute Konflikt als „externen Faktor“ (S. 46) betrachteten, den es durch die Überwindung von Rechtspluralismus und die Schaffung effizienter Institutionen zu verhindern galt. Höhn dagegen versteht die „rechtliche Fragmentierung der Vormoderne, die Überschneidungen verschiedener Rechtskreise und die Zugehörigkeit zu verschiedenen normativen Bezugsrahmen [...] als Erweiterung der Handlungsoptionen der beteiligten Akteure.“ (S. 49) Rechtliche und ökonomische Prozesse gelte es, in ihren sozio-kulturellen Kontext einzubetten und Konflikte jenseits einer isoliert-ökonomischen Fortschrittsgeschichte als Vergesellschaftungsprozesse zu begreifen. Der Autor vermeidet daher Begriffe wie „Konfliktregulierung“ oder „Konfliktlösung“ (S. 50), welche ein grundlegendes Interesse aller Beteiligten an der Beendigung von Streitigkeiten implizieren. Denn dass Konfliktparteien grundsätzlich an einer (schnellstmöglichen) Lösung ihrer Auseinandersetzungen interessiert gewesen seien, ist bei Höhn nicht Voraussetzung, sondern Untersuchungsgegenstand.
Das dritte Kapitel ist den Quellen gewidmet. Zwar stützt Höhn sich auf eine breite Auswahl an diplomatischem wie administrativem Material, im Zentrum stehen jedoch die Lübeckischen Niederstadtbücher. Die wohl bedeutendste Erkenntnis aus dieser methodischen Abhandlung ist das Konzept der “Konfliktschriftlichkeit” (S. 57). Höhn versteht schriftliche Quellen nicht allein als Resultat oder Dokumentation von Konflikten, sondern als Konfliktpraktik. So geben uns die verwendeten Quellen oft wenig Auskunft über die Konflikte an sich, aber dafür Einblick in die Absichten und Intentionen von Akteuren.
Das vierte Kapitel bietet mit der Untersuchung des hansischen Rechtspluralismus auf über 110 Seiten das Kernstück der Arbeit, in welchem Höhn die Vielzahl simultaner, überlappender Normen und rechtlicher Foren – von ratsherrlicher Schlichtung bis zur Königsgerichtsbarkeit – unter dem Aspekt mittelalterlicher Ordnungsvorstellungen untersucht. Zentral steht dabei die Maxime der Friedenswahrung, die Höhn zunächst in der Schlichtungspraxis des städtischen Rates nachweisen kann. Die Vermittlung zwischen Konfliktparteien war Bestandteil ratsherrlicher Verantwortung und diente nicht vornehmlich den ökonomischen Interessen kaufmännischer Eliten, sondern der generellen Wahrung städtischen Friedens. Höhn legt überzeugend dar, wie der Lübecker Rat sich durch seine Schlichtungstätigkeiten aus einem Netzwerk von Freunden zur überparteilichen Institution entwickelte. Die Tätigkeit als Wahrer des Stadtfriedens diente dabei dem Rat als Legitimierung eigener Herrschaft. Auch die Rolle der Hanse in der Konfliktführung sieht Höhn weniger in einer gerichtlichen Funktion. Vielmehr bestand „die hansische Ebene des Konfliktaustrags [...] darin, individuelle Konflikte potentiell zu politischen Fragen, die die ganze Hanse berührten, zu machen.“ (S. 192). In Konflikten mit außerhansischen Gegnern wurde somit eine hansische „Ganzheitsfiktion“ (S. 192) als potentes Druckmittel entwickelt. Innerhansisch ermöglichten Tagfahrten und andere hansische Foren dagegen die Fortsetzung von Kommunikation und somit der Vermeidung von Eskalation. Bestechend ist hierbei Höhns Argument, dass die oft als Schwäche ausgelegte Entscheidungsvermeidung durch Vertagung deeskalierend und stabilisierend wirken konnte. Denn eindeutige, zur Konfliktlösung führende Beschlüsse bargen das Risiko, zu Kommunikationsabbruch, Gesichtsverlust oder Ausschluss zu führen.
Ist das vierte Kapitel also noch stark auf Institutionen ausgerichtet, kommt im anschließenden Teil die akteurszentrierte Perspektive auf die individuellen Konfliktparteien zum Tragen. Ausgangspunkt ist dabei das Konzept der Justiznutzung, welches die vermehrte Verrechtlichung von Konflikten nicht als allein von oben durchgesetzte Zentralisierungs- und Staatsbildungsmaßnahmen versteht, sondern fragt, warum Akteure verschiedene Institutionen nutzten – und wann sie darauf verzichteten. Diese Ansätze der Kriminalitätsforschung erweitert Höhn um eine historisch-anthropologische Perspektive, um die Begründung kaufmännischen Handelns mit ökonomischer Nutzenmaximierung zu hinterfragen. Höhn kann dabei überzeugend darlegen, dass Denken und Konflikthandeln hansischer Kaufleute fest verankert waren in mittelalterlichen Ehrvorstellungen und die Nutzung verschiedener gerichtlicher wie nicht-gerichtlicher Foren daher vorrangig der Schaffung von Öffentlichkeit diente. Diese Erkenntnis verknüpft Höhn mit dem Konzept der Kreditwürdigkeit: Die kaufmännischen Netzwerke verwoben ökonomische Schulden mit moralischer Schuld und „[erzeugten] ein Bündel emotionaler, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Verbindlichkeiten.“ (S. 273). Diese Verbindung von Ehre und Kredit ist einleuchtend, bleibt in den Fallbeispielen jedoch oft implizit. Dies mag auch daran liegen, dass unklar ist, wie – oder ob – Höhn Ehre konzeptuell von Reputation und Vertrauen abgrenzt. Daher bin ich mir beispielsweise unsicher, worin sich die Schilderung eines Versuch, sich vom Vorwurf des Handels mit minderwertigen Waren reinzuwaschen (S. 231–234), wesentlich von der von Höhn kritisierten wirtschaftsgeschichtlichen Konzeptualisierung der Reputation unterscheidet.1 Überzeugender hingegen sind Höhns Ausführungen zur Konfliktpraktik. Anhand der Beispiele säumiger Schuldner kann er nachzeichnen, dass Gläubiger eine bemerkenswerte Geduld an den Tag legen konnten. Eine schnelle Konfliktlösung hätte oft zum Konkurs der Kreditnehmer geführt und den Gläubigern größere Verluste bereitet, als „dem Schuldner und seinem Umfeld Zeit ein[zu]räumen, um ihre Ansprüche womöglich doch bedienen zu können.“ (S. 272) Wichtiger als eine schnelle Beilegung in Ehr- und Kreditkonflikten war den Akteuren eine Aufrechterhaltung der Konfliktkommunikation, um jederzeit eine im Raum stehende Eskalation verhindern zu können.
Im abschließenden sechsten Kapitel widmet Höhn sich dem in den vorausgehenden Teilen bereits immer wieder durchscheinenden Thema der Gewalt. „Gewaltsame Güterwegnahme“ (S. 284) und Fehdehandlungen dienten als fester Bestandteil kaufmännischer Konfliktführung der Kompensation von Verlusten, als Druckmittel und Verhandlungsmasse, und nicht zuletzt zur Wahrung der Kreditwürdigkeit. Die zunehmende Kriminalisierung dieser Praktiken unter dem Begriff der Piraterie war, wie Höhn anschaulich demonstriert, weniger Resultat einer frühkapitalistischen Sorge um ungestörten Handel als vielmehr politisches Kalkül des lübeckischen Rats zur Lenkung ökonomischer Ströme im eigenen Interesse. Gewalthandeln stand jedoch nicht am Ende eines linear-hierarchischen Rechtswegs, sondern war verwoben mit anderen Praktiken der Konfliktkommunikation. Die verbreitetste Konflikttaktik war die Androhung von Gewalt, um Verhandlungen zu erzwingen, und selbst in eskalierenden Konflikten brach die Kommunikation zwischen Parteien selten vollends ab.
Das Buch verbindet eine beeindruckende Vielzahl an innovativen und weiterzuverfolgenden Ideen und Ansätzen, so dass hier nicht jeder die gebührende Aufmerksamkeit zukommen konnte. Bisweilen wirkt diese Fülle jedoch erdrückend, da sie das zentrale Thema der Arbeit in den Hintergrund treten lässt. Besonders im fünften Kapitel lassen daher ausführliche Nacherzählungen einzelner Fallbeispiele (S. 215–230), Exkurse (S. 255–256) und die bisweilen verwirrenden Netze der prosopographischen Verbindungen im Konflikt (S. 262–269) den roten Faden zerfasern und erschweren so den Zugang. Solche Kritikpunkte am strukturellen Aufbau sollen jedoch die Leistungen des Autors nicht schmälern, der nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Hansegeschichte, sondern auch eine Vielzahl Anknüpfungspunkte für die vormoderne Rechts- und Konfliktgeschichte liefert.
Anmerkung:
1 Stephan Selzer / Ulf Christian Ewert, Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters. Konzepte – Anwendungen – Fragestellungen, in: Gerhard Fouquet / Hans-Jörg Gilomen (Hrsg.), Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 72), Ostfildern 2010, S. 21–47, besonders S. 37–38.