Nur noch wenige Monate bleiben bis zur Jahrtausendwende, in Zeitschriften und im Fernsehen drängen sich die Serien mit Rückblicken auf das 20. Jahrhundert - da wollen auch die Kunsthistoriker nicht zurückstehen und geraten in eine retrospektiven Taumel. Während in Berlin die Nationalgalerie seit dem 4. September in drei Häusern die Monumentalschau über die deutsche Kunst dieses Jahrhunderts präsentiert, ist in Köln noch bis Anfang Oktober die Ausstellung "At the End of the Century - 100 Jahre gebaute Vision" zu sehen. Auch sie ist eine Schau der Superlative: Etwa 700 Zeichnungen, Fotos, Möbel, Filmausschnitte und zum Teil riesige Modelle und Relieftafeln hat das Museum of Contemporary Art Los Angeles (MOCA) zusammengetragen, um "in lockerer Abfolge die bedeutendsten Stationen der Architekturgeschichte" des 20. Jahrhundert nachzuzeichnen und die Ikonen der modernen Baukunst in einen historischen Kontext zu setzen. Stolz vermerkt das Museum Ludwig, das den Rückblick in der Josef-Haubrich-Kunsthalle zeigt, daß Köln die einzige europäische Station dieser internationalen Ausstellungstournee ist.
Die Architektur des 20. Jahrhunderts beginnt in dieser aus amerikanischer Sicht zusammengestellten Schau mit dem Plan für Chicago von 1909, der aus der Weltausstellung von 1893 hervorging. Der Vergleich mit dem fast zeitgleich entstandenem Projekt von Bruno Schmitz für ein "Gross-Berlin" und die Eingemeindungspläne für Wien verdeutlichen, was an dieser zunächst konventionell erscheinenden Architektur das fundamental Neue ist: Allen Planungen ist gemein, daß sie die Stadt als einen anonymen Ort der Menschenmassen sehen. Die Bevölkerungsentwicklung, die die Städte vor allem im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hat explodieren lassen, sucht sich nun einen adäquaten architektonischen Ausdruck.
Die Masse war gewissermaßen das Leitmotiv dieses Jahrhunderts - ob als Massenproduktion, als Massenkonsum oder als Massenvernichtung. Folgerichtig taucht das Problem der Masse in der Ausstellung auch immer wieder auf, meist in der Form der Auseinandersetzung der Architekten mit der Gesellschaft. Die Architekten arbeiteten nun nicht mehr primär für kirchliche, höfische oder staatliche Auftraggeber, sondern waren darum bemüht, von sich aus in die Gesellschaft einzugreifen und sie mit den Mitteln der Architektur zu verändern. Einen ersten Höhepunkt dieses Gestaltungswillens stellt das Große Schauspielhaus in Berlin von 1918/19 dar, für das Hans Pölzig einen ehemaligen Zirkus in ein Volkstheater mit 5000 Plätzen umbaute. Seine ungewohnte Architektur wurde als programmatische Kampfansage verstanden: Auf den konservativen Kritiker Karl Scheffler wirkte der Bau mit seinem dunkelroten Verputz wie ein "drohendes Revolutionsgebilde" (Wolfgang Pehnt).
Ungleich radikaler gerät hingegen die Architektur im Mutterland der Revolution. So wie die russische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert wird, sollen sich auch die Sichtweisen des Neuen Menschen verändern. Der sowjetische Konstruktivismus will mit seine gewagten Bauten zeigen, daß dem Menschen alles möglich ist, wenn er den Willen dazu hat. Die Architektur probt die Wiederholung des Turmbaus zu Babel: Eine beeindruckende Computersimulation montiert das von Tatlin geplante, 300 Meter hohe Monument für die Dritte Internationale in die Stadtlandschaft von Leningrad. Leider wird dies in der Ausstellung nicht zu den späteren Projekten der Sowjetunion, wie dem Palast der Sowjets, in Beziehung gesetzt, dessen Entwürfe erst einige Räume später gezeigt werden. Dann nämlich würde deutlich, wie zwar die Bauten nach und nach "versteinern", der gigantomanische Ansatz jedoch von Beginn an vorhanden war.
Die "Vermassung" des Lebens ist insbesondere an den Konzepten für den Wohnungsbau abzulesen. So wie die industrielle Produktion in den Betrieben immer weiter optimiert wurde, hatte auch das Alltagsleben nach Ansicht der Architekten noch enorme Rationalisierungspotentiale. In einem Stummfilm von 1926 demonstrieren zwei Damen mit Bubikopf die praktische Vielseitigkeit der Möbel im Dessauer Wohnhaus von Walter Gropius - indem sie die schlichte Lesecouch mit wenigen Handgriffen in ein bequemes Sofa am Teetischchen umbauen, wirken die Frauen wie Darstellerinnen in einem frühen Ikea-Werbefilm. Das bemerkenswerteste Beispiel für die Industrialisierung des Alltagsleben ist aber die 1925 von Margarete Schütte-Lihotzky für die Frankfurter Großsiedlungen entworfene Miniküche, in der jeder Handgriff berechnet war, um der Hausfrau unnötige Schritte zu ersparen. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Küche als Ort der Hausfrau gesehen wurde, verdeutlicht allerdings, daß in Frankfurt von einer neuen Gesellschaft längst keine Rede mehr war. Selbst die Sowjetunion nahm bald Abschied vom Neuen Menschen, zumal sich gezeigt hatte, daß auch die Bewohner von Moisei Ginzburgs Kollektivwohnmaschine aus dem Jahre 1928 an der traditionellen Familienstruktur festhielten.
Der Gegensatz von Vision und Realität im Massenwohnungsbau läßt sich sodann besonders deutlich am Kontrast zwischen dem Projekt für die "Broadacre-City" von 1934 und der ab Mitte der vierziger Jahre vor den Toren von New York wuchernden "Lewittown" studieren. Während Frank Lloyd Wright mit seinem Entwurf in jeweils zehn Quadratkilometer großen Siedlungen für 1400 Familien eigenständige, von der Natur geprägte Kleinstädte plante, um den schädlichen Einfluß der Urbanisierung zu stoppen, hatten die Brüder Lewit zehn Jahre später die zündende Idee, preiswerte Fertighäuser auf billig aufgekaufte Äcker zu stellen. Bis in die fünfziger Jahre hinein wurden bis zu 150 Häuser pro Woche hergestellt. Von den sozial-reformatorischen Ideen Wrights war in diesem seinerzeit größten privaten Wohnungsbauprojekt nichts zu finden: Das für alle erschwingliche, eigene Häuschen im endlosen Vortort brachte nicht die von dem amerikanischen Architektur-Heroen erhoffte Autonomie, da die Arbeit weiterhin in den industriellen Zentren verblieb.
Statt dessen verursachten die neuen Vorstädte eine folgenschwere Wende im Verkehrssektor. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, daß das Jahrhundert der Eisenbahnen war, weil diese kompakte Städte miteinander verband, wurde das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert des Autos, weil das Leben der Stadtbewohner zunehmend räumlich aufgegliedert wurde. Die Abteilung "Zukunft des Verkehrs" zeigt zudem die wirtschaftliche Seite dieser Konzentration auf das Auto: Angesichts von Albert Kahns gewaltigen River Rouge Ford-Fabriken in Michigan begreift man, welche enormen Bedürfnisse die neue Siedlungsweise in den USA weckte, die für die Konsumförderung der amerikanischen New-Deal-Politik benötigt wurden. Dem steht als Pendant eine mehrere Meter hohe Karte der deutschen Reichsautobahnen von 1935 gegenüber, deren wirtschaftliche Stimulanz jedoch hinter ihrer politischen Bedeutung zurückblieben - bemerkenswerterweise reichen die eingetragenen Autobahnprojekte bereits über die Grenzen von 1937 hinaus und demonstrieren somit den Anspruch auf mehr "Lebensraum".
In der dann folgenden Abteilung "Monumentalbauten in der Architektur der dreißiger Jahre" zeigt sich, daß die Ausstellung keineswegs durchweg auf "fundierten Studien der jüngeren Architekturgeschichte" aufgebaut ist, wie das Faltblatt der Kunsthalle vermerkt. Anstatt einen neuen Blick auf die Architektur der Diktaturen zu werfen, wird diese weiterhin entlang des Geschmackes der jeweiligen Diktatoren betrachtet und lediglich auf die staatliche Repräsentationsarchitektur geschaut. So entgeht den Ausstellungsmachern, daß der stalinistische Klassizismus keineswegs der radikale Bruch mit der Avantgarde war, wie dies bei oberflächlicher Betrachtung scheint. Das bis heute wohlwollendere Bild von der Sowjetunion Lenins ist nicht zuletzt durch die "fliegenden" Bauten von Melnikow, Golsov und anderen geprägt. Daß transparente Architektur jedoch keineswegs auch zwangsläufig ein Ausdruck politischer Freiheit war, könnten die Bauten aus Mussolinis Italien der zwanziger Jahre zeigen, die aber in der Ausstellung völlig fehlen. Zweifelhaft ist auch die Feststellung im Ausstellungstext, die sowjetische Avantgarde-Architektur sei in die Kritik geraten, "da ihre Formensprache dem einfachen Volk, das in die Städte zog (...) unverständlich blieb." Das mag ja sein - aber ob Geschmacksfragen in einem Land von Bedeutung waren, in dem Millionen Menschen auf Befehl Stalins umgesiedelt wurden und schließlich jahrelang in der Steppe in Erdhütten hausen mußten?
Auch der Abschnitt "Zerstörung und Wiederaufbau. Die Neuordnung der Städte" enttäuscht. Als einzige Stadt wird in diesem Zusammenhang die Planung für Berlin vorgestellt, die allerdings untypisch für den Wiederaufbau (west-) europäischer Städte ist, da von den Projekten der fünfziger Jahre kaum etwas realisiert wurde. Somit lassen sich an den Zeichnungen zwar die erschreckenden Phantasien der Architekten ablesen, die im Westen planten, aus der Hauptstadt einen Ort von locker zwischen Kiefernwäldern und Autobahnen verstreuten Hochhäusern und Einfamilienhaussiedlungen zu machen, während im Osten großzügige Demonstrationsrouten zum Parteihochhaus an der Spree freigeräumt werden sollten. Über die Realität des Wiederaufbaus hingegen, der in diesem Zeitraum vor allem in anderen Städten Europas stattfand, erfährt der Besucher nichts.
Zudem ist die Darstellung der Vorbilder für den Wiederaufbau recht fragwürdig. Le Corbusier, über dessen sattsam bekannten Bauten und Entwürfe man in dieser Schau in jedem zweiten Raum stolpert, war eben nur in seiner Radikalität der geistigen Vater des Nachkriegsstädtebaus. Sein Plan für eine "Zeitgenössische Stadt für drei Millionen Einwohner" von 1922 jedoch, der an dieser Stelle mit gleich drei Abbildungen präsentiert wird, basiert zwar auch auf Autobahnen und Hochhäusern, doch war er wohl eher für Fritz Lang als für Hans Scharoun von Bedeutung. Während Le Corbusiers Plan ein strenges Raster von sich rechtwinklig schneidenden Straßen vorsah, wurden nach 1945 vornehmlich geschwungene Stadtgrundrisse bevorzugt: Die Stadt galt nicht mehr als Maschine, sondern als Organismus. Zumindest in Deutschland klang hier auch noch der Biologismus der Architekten nach, die meinten, sie könnten mit ihrer Architektur als Arzt an der Gesellschaft arbeiten.
Besonders ärgerlich fällt schließlich die nachlässige Beschriftung der Exponate auf: Da gab es laut Ausstellungstext 1957 (vier Zeilen später: 1958, so genau ist das anscheinend nicht feststellbar) einen städtebaulichen Wettbewerb zur "Neugestaltung Ostberlins als Hauptstadt der DDR". Ein kurzer Blick in ein Architekturlexikon hätte genügt, um festzustellen, daß dieser Wettbewerb von der Bundesregierung und dem Westberliner Senat ausgelobt wurde, um den Anspruch auf die Wiedervereinigung zu verdeutlichen. Durch den Blick auf eine andere Zeichnung hätten die Ausstellungsmacher feststellen können, daß es sich hier nicht um einen Entwurf für die Stalinallee von 1951 handeln kann, da auf der Zeichnung neben der Unterschrift des Architekten deutlich die Jahreszahl 1958 zu lesen ist und zudem die Türme des Berliner Gendarmenmarktes zu erkennen sind. Leider sind diese falschen Beschriften in der Ausstellung keine Einzelfälle; so werden beispielsweise im Raum der sowjetischen Avantgarde-Architektur Postkarten von schwülstigen, stalinistischen Interieurs mit monumentalen Stucksäulen als Innenansichten von Konstantin Melnikows konstruktivistischen Rusakow-Klubs gekennzeichnet, angeblich von Alexander Rotschenko im Jahre 1926 fotografiert.
Offensichtlich wurde die Ausstellung für die Haubrich-Kunsthalle recht hastig zugeschnitten, denn anders ist es nicht zu erklären, daß auch die Angaben auf dem Orientierungsblatt mit dem tatsächlichen Thema der Räume in mehreren Punkten nicht übereinstimmen. So findet sich der Abschnitt "Massensiedlungen und industrielle Fertigung nach 1945" nicht wie auf dem Blatt angeben nach dem Abschnitt über den Wiederaufbau, sondern im zweiten Teil der Ausstellung, der die aktuellen Tendenzen in der Architektur behandelt. Für diesen zweiten Teil der Ausstellung scheinen die Nummern der einzelnen Abteilungen zudem mit der Lostrommel gezogen worden zu sein: Würde man versuchen, diesen Ausstellungsteil Kapitel für Kapitel durchzuarbeiten, müßte man kreuz und quer durch die Etage laufen. Also läßt man das Orientierungsblatt am besten beiseite und schaut sich ohne Anspruch auf Erkenntnisgewinn die hier versammelten Stars der Ausstellung an - allen voran das großartige Modell von Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum im Bilbao in der Abteilung "Architektur als Ausdrucksträger".
Die Internetpräsentation der Ausstellung erläutert kurz die insgesamt 21 Abschnitte der Ausstellung in einer Kurztextversion von je drei Sätzen mit ein oder zwei Bilder und einer Langtextversion von etwa 20 Zeilen. Für das Lesen empfiehlt sich ein kontrastreicher Bildschirm, da der Text grau auf schwarz geschrieben ist.
Der Katalog hat mit der Ausstellung nur bedingt zu tun; er läßt sich am besten als ein anläßlich der Ausstellung publizierter Essayband charakterisieren.