Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können

Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können

Veranstalter
Deutsches Historisches Museum Berlin
PLZ
10117
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2022 - 11.01.2026

Publikation(en)

Cover
Backhaus, Fritz; Diner, Dan; Franke, Julia; Gross, Raphael; Paul-Jacobs, Stefan; Reyels, Lili (Hrsg.): Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können. Deutsche Zäsuren 1989–1848. München 2023 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-80094-8 288 S., zahlr. Abb. € 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

„Was wäre gewesen, wenn?“ Alternativen zum tatsächlichen Verlauf zu imaginieren und in unterschiedlichen Facetten durchzuspielen, ist auch im Privaten nicht ungewöhnlich: Wenn zu bestimmten Anlässen – „runden“ Geburtstagen, Silvester oder anderen biographischen bzw. lebensweltlichen Zäsuren – Zwischenbilanzen formuliert und Entscheidungen reflektiert werden, können sich daraufhin Fatalismus, Melancholie, Erleichterung oder andere Gefühle einstellen. Als Theorieangebot hatte Reinhart Koselleck Ende der 1970er-Jahre betont, dass die Geschichte und Gegenwart stets auch „vergangene Zukunft“ sei – eine Zukunft, deren frühere Offenheit den späteren Zeitgenossen häufig nicht mehr bewusst sei.1

Über alternative Verläufe nicht nur nachzudenken, sondern diese künstlerisch umzusetzen und einem größeren Publikum vorzustellen, ist eine populäre Gattung in Literatur, Film und Theater: Der Roman „Vaterland“ von Robert Harris (1992), der Kinofilm „Inglourious Basterds“ in der Regie von Quentin Tarantino (2009) oder die US-amerikanische Science-Fiction-Serie „The Man in the High Castle“ (2015–2019), die auf Philip K. Dicks Roman „Das Orakel vom Berge“ aus dem Jahr 1962 basiert, sind nur drei Beispiele für künstlerische Aneignungen und Produktionen, in denen Alternativweltgeschichten präsentiert werden. Diese Formen der Verarbeitung und Verformung historischer Wirklichkeiten wecken Interesse und Neugierde, sie lösen wechselweise Faszination und Begeisterung oder Unbehagen und Schrecken aus. Und auch in geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen stellt das Nachdenken über das Kontrafaktische schon lange kein Tabu mehr dar. Vielmehr erfreut sich das Genre der „Counterfactual History“ vor allem unter angelsächsischen Historikerinnen und Historikern einer gewissen Beliebtheit2, hierzulande jedoch kaum weniger.3

Die seit Dezember 2022 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu besichtigende Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ spekuliert nicht so sehr mit dem Kontrafaktischen, fragt aber durchaus, zu welchen historischen Zeitpunkten auch andere als die letztlich eingetretenen Wegrichtungen möglich gewesen wären. Die Ausstellung, die inhaltlich wie darstellerisch ein Experiment ist, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner und der Alfred Landecker Foundation. Sie wurde von Julia Franke, Stefan Paul-Jacobs und Lili Reyels kuratiert; die Projektleitung hatte Fritz Backhaus. Das Besondere an ihr ist nicht nur der Zugriff auf das historische Geschehen und der damit verbundene Ansatz, für denkbare Alternativverläufe zu sensibilisieren, sondern auch deren ungewöhnliche Darbietung: Auf rund 1.000 Quadratmetern mit etwa 500 Exponaten und zahlreichen Medienstationen erfolgt ein chronologischer Rückwärtsgang durch die deutsche Geschichte der vergangenen 175 Jahre. 1989 beginnend und 1848/49 endend werden anhand von 14 Zäsuren Schlüsselmomente und Wendepunkte in den Blick genommen, für die mehr oder weniger realistische, zumindest nicht völlig utopische, aber am Ende nicht eingetretene Szenarien als alternative Ausgänge angedeutet werden. Letzteres wird allerdings kaum vertieft und beschränkt sich weitgehend auf kleine Extra-Tafeln in unterschiedlichen Farben – wohl auch, um nicht allzu sehr ins Spekulative abzudriften. Das Ziel des Ausstellungsteams lautet, unser Bewusstsein für die Kontingenzen geschichtlicher Entwicklungen zu schulen und eine Ent-Teleologisierung mutmaßlicher Eindeutigkeiten zu fördern. Mögliche alternative Abzweigungen der Neuesten Geschichte sollen an konkreten Beispielen vorgeführt werden.



Abb. 1 und 2: Doppelte Darstellung der Wegmarke 1989 – die Jubelszenen vom Brandenburger Tor in Berlin werden mit den rollenden Panzern auf dem Tian’anmen-Platz in Peking kontrastiert.
(Fotos: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Den Ausgangspunkt bildet das Jahr 1989 mit der in der DDR zumindest intern erwogenen „chinesischen Lösung“, folglich eine gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen wie in Peking auch in Ost-Berlin, Leipzig, Plauen und anderswo; eine Reaktion des Regimes, die glücklicherweise nicht eingetreten ist.4 Ein weiteres Gedankenexperiment geht davon aus, dass das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt im Jahr 1972 geglückt, dessen Amtszeit folglich ein früheres Ende gefunden und ein gewisser Rainer Candidus Barzel zu seinem Nachfolger gekürt worden wäre. Dieses Scheitern der sozialliberalen Koalition hätte gleichbedeutend sein können mit dem Ende der Entspannungs- und Ostpolitik; dadurch wären – so zumindest die Annahme der Ausstellung – jegliche Fortschritte in Bezug auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und auch in Menschenrechtsfragen erst mit jahrelanger Verzögerung eingetreten. Für Barzel fehlten lediglich zwei Stimmen, und inzwischen ist bekannt, dass die DDR-Staatssicherheit daran mit Bestechungsgeldern beteiligt war5 – was in der Ausstellung aber nicht erwähnt wird.


Abb. 3: „German Angst“ 1961 – atomare Gefahr und Mauerbau sowie Möbel aus dem Regierungsbunker im Ahrtal (südlich von Bonn), jeweils mit erstaunlichem Gegenwartsbezug
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Dass das Jahr 1961 bei solchen markanten Wegmarken der deutschen Geschichte nicht fehlen darf, scheint nachvollziehbar. Weniger jedoch der Bau der Mauer, sondern vielmehr die Möglichkeit einer weltweiten atomaren Auseinandersetzung wird an dieser Stelle vertieft, unterstrichen durch Hinweise auf Lebensmittelrationen („Aktion Eichhörnchen“, „Vorratsbrot“) und Schutzräume, die im Lichte von Hamsterpaketen und „Preppern“ die Aktualität des Ausgestellten hervorheben und die Zeitgeschichte so zu einer bedrohlich wirkenden Gegenwart werden lassen. Während für das Jahr 1952 ein (freilich wenig realistischer) alternativer Umgang mit der Stalin-Note imaginiert wird – große Zustimmung hierfür in Westdeutschland, freie Wahlen, keine europäische Einigung, stattdessen eine deutsch-sowjetische Annäherung –, repräsentieren die Ereignisse um die Berliner Luftbrücke und den Koreakrieg gewissermaßen die Folie für eine weitere Suggestion: eine mögliche militärische Eskalation im geteilten Deutschland, wie sie sich stattdessen mit allen bekannten Folgen auf der koreanischen Halbinsel abspielte. Wäre die Offensive der Alliierten im Frühjahr 1945 gestoppt worden, so wird am nächsten, vielleicht eindringlichsten Kipppunkt der gesamten Ausstellung argumentiert, wenn also der Wehrmacht etwa die beabsichtigte Sprengung der Rheinbrücke bei Remagen gelungen wäre, hätte dies fatale Folgen für Deutschland gehabt: Nicht Hiroshima, sondern Ludwigshafen (einer der Produktionsstandorte der IG Farben) hätte Ziel einer Atombombe vom Typ „Little Boy“ werden können. Das hier installierte interaktive Tool einer „Nukemap“ (2012 vom Wissenschaftshistoriker Alex Wellerstein entwickelt, siehe auch https://nuclearsecrecy.com/nukemap/) ist zwar ein durchaus makabres Element der Ausstellung, unterstreicht aber umso deutlicher die potentiell drastischen Folgen von Atombomben-Explosionen mitsamt anschaulich-einschüchterndem Gegenwartsbezug.


Abb. 4: Alternativgeschichtliches Szenario, raumgestalterisch eingebunden – Atomtest der USA in der Wüste von Nevada, 1957
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Das gescheiterte Attentat auf Hitler im Sommer 1944 wäre zweifellos, wie auf einer Tafel an der nächsten Station vermerkt, die „bessere Alternative“ gewesen, hätte es doch wahrscheinlich die finale Eskalation des Krieges und die Unzahl an Opfern im letzten Kriegsjahr abwenden können. Aber wie ein übergroßes „ZU SPÄT / TOO LATE“ deutlich macht: Dieser Akt wäre angesichts der damals bereits in die Millionen gehenden Opferzahlen nicht rechtzeitig erfolgt.


Abb. 5: Zugespitzt, auch räumlich – ein geglücktes Attentat auf Hitler im Juli 1944 hätte die finale Eskalation des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust vermutlich abkürzen, aber nicht mehr abwenden können.
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)


Abb. 6: Apokalyptische Landschaft, musizierende Skelette, makabrer Totentanz – Felix Nussbaum (1904–1944) malte sein wohl letztes Gemälde „Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz)“ 1944 in einem Versteck in Brüssel. Am 21. Juli wurden Felix Nussbaum und seine Ehefrau Felka Platek verhaftet und bald darauf nach Auschwitz deportiert. Das Bild befindet sich heute im Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück. Zu Beginn der DHM-Ausstellung war das Original zu sehen (wie hier auf dem Foto), inzwischen wird nur noch eine Reproduktion gezeigt.
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Nicht zu spät, sondern gänzlich ausgeblieben ist in der realen Geschichte eine Reaktion Frankreichs auf die 1936 erfolgte deutsche Besatzung des Rheinlands. Hätte Paris mit Militär interveniert, wie hier durchgespielt, wäre ein herber Image-Verlust Hitlers eingetreten, woraufhin die militärische Opposition um General Ludwig Beck die politische Führung hätte übernehmen können. Dies war, so zumindest der nächste Halt der Ausstellung, aber keineswegs die erste Möglichkeit, den Aufstieg Hitlers zu stoppen. Denn 1933 hätte eine „Machtergreifung“ durch die seinerzeit im Niedergang befindliche NSDAP nicht zwangsläufig geschehen müssen, zumal die Wirtschaft nach den großen Krisen wieder in Schwung kam. Eine Militärdiktatur um Kurt von Schleicher und Kurt von Hammerstein-Equord wäre ebenfalls im Bereich des historisch Vorstellbaren gewesen. Dass sich diese Station (mit störender akustischer Dauerschleife) etwa in der Mitte der Ausstellung befindet, ist gewiss kein Zufall; vielmehr wird hiermit eine geschichtliche Phase besonders konturiert, in der verschiedene Möglichkeitsräume eng beieinander lagen.


Abb. 7: Imaginierter Aufschwung ohne „Machtergreifung“ – die Wegmarke 1932/33 alternativ erzählt
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Es folgt das imaginierte Jahr 1932, in dem sich anstelle des Sturzes von Reichskanzler Brüning die Wirtschaft erholt und bis zu 600.000 Menschen in sogenannter Notstandsarbeit eine Anstellung finden. Statt Revolution und Beginn der parlamentarischen Demokratie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stabilisiert ein neuer Monarch die politische Ordnung, so wird es für das Jahr 1918 kurz angerissen. Doch hätte der Weltkrieg womöglich gar nicht stattfinden müssen, wäre dessen Ausbruch durch Proteste der Arbeiterbewegung und ein geschlossenes Vorgehen des Exekutivkomitees der Sozialistischen Internationalen vereitelt worden – so zumindest das Vorgestellte an der nächsten Weggabelung.

Etwas unverständlich bleibt nun eine längere zeitliche Lücke (was ist mit dem Kolonialismus, speziell dem Genozid an den Herero und Nama, oder mit dem „Dreikaiserjahr“?), ehe das Ende des Deutschen Krieges von 1866 anders als bisher erzählt wird: Das Kriegsglück in der Schlacht bei Königgrätz wendet sich gegen Preußen, weil unter anderem das Zündnadelgewehr nicht die gewünschte Wirkung entfalten kann. Als historische Alternative entsteht ein „Drittes Deutschland“, behütet von der Garantiemacht Frankreich, und der Deutsche Bund wird nachhaltig wiederbelebt. Die Ausstellung endet mit 1848/49, einem Anfangs- und auch Endpunkt der deutschen wie europäischen Geschichte, hier materialisiert durch einen tatsächlich geprägten, aber nicht zum Einsatz gekommenen Doppelgulden aus dem Jahr 1849, versehen mit der Bezeichnung Friedrich Wilhelms IV. als „Kaiser der Deutschen“ – der er unter den Umständen der Revolution nicht werden wollte.


Abb. 8: 1848/49 mit abweichendem Ausgang – hier angedeutet mit einer Eisenbahnszene. Die Ausstellung inszeniert den Weg der Deputation von Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche, die unterwegs begeistert empfangen wurden, nach Berlin. Dort lehnte der preußische König die angetragene Kaiserkrone jedoch ab, da sie mit dem „Ludergeruch der Revolution“ behaftet sei. Die Raumüberschrift „Scheitern“ irritiert hier.
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Offenkundig ist, dass diese stark geschichtsphilosophisch grundierte Herangehensweise eine nicht eben geringe didaktische bzw. museumspädagogische Vermittlung erfordert. Die vom Berliner Szenografie-Büro chezweitz (https://www.chezweitz.com) gestaltete Präsentation bietet suggestive Erzählungen, die die historischen Selbstverständlichkeiten auf die Probe stellen. Diese werden an den einzelnen Stationen in unterschiedlicher Konsequenz elaboriert. So werden jeweils die Beziehungen zwischen Struktur und Ereignis sowie die Rolle und Verantwortung der handelnden Personen angesprochen, während die einzelnen Stationen zumindest implizit die Grade von Wahrscheinlichkeiten erörtern. Das gelingt über weite Strecken, doch ist hierfür das Mittun der Besucherinnen und Besucher vorausgesetzt, gerade weil die Ausstellung trotz hunderter Gemälde, Grafiken, Zeichnungen, Film- und Tondokumente sowie interaktiver Stationen bisweilen etwas textlastig ist, jedenfalls bei den thematischen Hinführungen. Besucherinnen und Besucher müssen einiges im Kleingedruckten suchen, wobei andere Zitatschnipsel prominent an der Wand auftauchen – hier wären weitere Inszenierungen wünschenswert gewesen. Die eigentlich kontingenten Momente und die Wahrscheinlichkeit eben genau jener eingeschlagenen Option kommen gelegentlich etwas zu kurz, ebenso wie die Motive der Handelnden und das Ausmalen der Alternativen. Dies liegt möglicherweise darin begründet, dass es gar nicht leicht ist, Objekte ausfindig zu machen, die historische Alternativen materialisieren – zumal das Porträtieren des Kontrafaktischen nicht zu den üblichen Aufgaben eines historischen Museums gehört. Gerade deshalb wäre mehr Ausschmücken, Fabulieren, Fantasieren wünschenswert gewesen.

Auch die Wegeführung in einem Zick-Zack-Parcours mit der Gegenüberstellung zwischen Möglichkeits- und Wirklichkeitsraum kann zunächst verwirren. Soll damit das erhoffte Aufbrechen der linearen Darstellung betont werden? Durch die Anordnung der Stationen ergeben sich immer wieder Blickachsen, welche die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen realen Ereignissen verdeutlichen – was möglicherweise aber eine unbeabsichtigte Nebenwirkung ist, denn die Ausstellung richtet sich ja gerade gegen solche mutmaßlichen Kausalitäten. Die prominente „Hätte-Frage“ wäre gewiss auch anhand anderer Stationen aufzuzeigen gewesen (das Scheitern des Schuman-Plans 1950/51, das Elser-Attentat auf Hitler 1939, oder, bleiben wir nur bei Anschlagversuchen, jene auf Bismarck 1866 in Berlin oder acht Jahre später in Bad Kissingen). Die gewählten Kipppunkte orientieren sich allesamt an den „großen“, ohnehin bekannten bzw. erwartbaren politikgeschichtlichen Zäsuren – der Rezensent hätte sich bei der Auswahl der Weggabelungen etwas mehr Mut gewünscht.

Interessant zu erfahren wäre, welche Bedeutung den beiden letzten Räumen der Ausstellung zukommen wird: In der Station zum Jahr 2023 befindet sich eine „Werkstatt Geschichte“, die das interaktive Gesamtkonzept in zusätzliche Diskussions- und Austauschangebote weiterführen soll, jedoch etwas lieblos gestaltet wirkt. In der sich daran anschließenden Gamestation erhalten die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit, in die große Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 einzutauchen. Anhand sieben verschiedener Personen wird hier exemplarisch die Multiperspektivität von Ereignissen durchgespielt, wodurch Geschichte individuell beeinflusst werden kann: etwa aus der Sicht einer Bürgerrechtlerin, von Kurt Masur oder Egon Krenz („Herbst 89 – Auf den Straßen von Leipzig“). Es handelt sich dabei um eine interaktive Graphic Novel, die über die Website des Museums ebenfalls nutzbar ist (https://www.dhm.de/ausstellungen/roads-not-taken-oder-es-haette-auch-anders-kommen-koennen/herbst-89-auf-den-strassen-von-leipzig/).


Abb. 9: Geschichtliche Verläufe selbst beeinflussen – in der Gamestation zum Ende der Ausstellung können Besucherinnen und Besucher im Stile einer Graphic Novel sieben verschiedene Perspektiven von historischen Akteurinnen und Akteuren durchspielen.
(Foto: © Deutsches Historisches Museum / David von Becker)

Die auch in Leichter Sprache und Gebärdensprache sowie in Braille- und Großschrift dargebotene und somit hoch inklusive Ausstellung, die noch bis November 2024 zu sehen sein wird, ist wie gesagt ein Experiment. Dies glückt in dem Anliegen, historische Plausibilitäten auszutesten, zumindest teilweise. Mit dem für die Seh- und Denkgewohnheiten in mancher Hinsicht herausfordernden Format der Darstellung gelingt es mehrfach, das Bewusstsein für historische Zufälle zu schärfen und auf diese Weise das Eingetretene umso stärker mit möglichen Alternativen zu kontrastieren (die, wie beschrieben, allerdings erstaunlich farblos und unspezifisch bleiben). Dieser Zugriff kann dabei helfen, scheinbare Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen. Daraus ergibt sich ein die Fantasie anregendes, immer wieder auch auf Provokationen beruhendes Gedankenspiel im Spannungsfeld zwischen historischer Möglichkeit und Wirklichkeit, zwischen dem Imaginativen und dem Faktischen. Das Einbeziehen auch kontrafaktischer Entwicklungen, die dann auf ihre Plausibilität geprüft werden, sollte für professionelle Historikerinnen und Historiker ohnehin zum methodischen und heuristischen Rüstzeug gehören. Dass die Ausstellung den Versuch macht, dies an konkreten Beispielen einem breiteren Publikum zu vermitteln, ist anzuerkennen. Während der angekündigte Begleitband leider noch nicht vorliegt und die Filmreihe auf Januar / Februar 2023 beschränkt war6, gibt es über die Laufzeit der Ausstellung hinweg ein attraktives Gesprächsprogramm.7 Man darf gespannt sein, ob und wie die gedankliche Aufforderung ankommt. Ein höheres Maß an historisch informierter Fantasie für alternative politische und gesellschaftliche Entwicklungspfade ist derzeit dringend zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979.
2 Siehe nur Niall Ferguson (Hrsg.), Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London 1997; Martin Bunzl, Counterfactual History. A User’s Guide, in: American Historical Review 109 (2004), S. 845–858; Kathleen Singles, ‘What If?’ and Beyond. Counterfactual History in Literature, in: Cambridge Quarterly 40 (2011), S. 180–188; Richard J. Evans, Altered Pasts. Counterfactuals in History, Waltham 2013.
3 U.a. Carola Stern / Heinrich August Winkler (Hrsg.), Wendepunkte deutscher Geschichte. 1848–1990, Frankfurt am Main 1994; Alexander Demandt, Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Berlin 2010; Christoph Nonn / Tobias Winnerling, Wozu eigentlich kontrafaktische Geschichte?, in: dies. (Hrsg.), Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017. Was wäre wenn ..., Paderborn 2017; siehe zuvor bereits Uta Heimann-Störmer, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtsschreibung. Eine Fallstudie zur Historiographie des Bismarck-Reiches, Frankfurt am Main 1991. Beim 54. Deutschen Historikertag in Leipzig ist für den 21. September 2023 eine Diskussion geplant, an der u.a. Dan Diner teilnehmen wird: https://www.historikertag.de/Leipzig2023/programm/veranstaltungen/kontrafaktische-geschichte-fake-history-oder-methodische-innovation/ (05.05.2023).
4 Mit Schwerpunkt auf Deutschland, aber auch andere Länder einbeziehend: Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012.
5 Siehe https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/28290403_misstrauensvotum01-200574 (05.05.2023).
6 Siehe https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/roads-not-taken/ (05.05.2023).
7 Siehe https://www.dhm.de/ausstellungen/roads-not-taken-oder-es-haette-auch-anders-kommen-koennen/begleitprogramm/ (05.05.2023).

Anm. der Red., 12.7.2023:
Der Begleitband ist jetzt erschienen.
Anm. der Red., 15.11.2023:
Die Ausstellung wurde verlängert bis zum 11. Januar 2026.