S. Troebst u.a. (Hrsg.): Zwischen Amnesie und Nostalgie

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Titel
Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa


Herausgeber
Brunnbauer, Ulf; Troebst, Stefan
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Kübler, Universität Wien / Lauder Business School, Wien

Der Umgang mit dem Nationalsozialismus – insbesondere mit dem Holocaust – war in den vergangenen zwei Jahrzehnten zentraler Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen zu nationalen Geschichtskulturen, kollektivem Gedächtnis und familiär tradierter Erinnerung. Daran anknüpfend entstanden – verstörenderweise auch manchmal stark simplifizierend den Vergleich zwischen den „beiden Diktaturen“ bedienend – Arbeiten zur DDR und rezente Auseinandersetzungen mit offiziellem, semi-offiziellem und privatem Gedenken an die realsozialistischen Regime in Mittelost-, Ost-, und Südosteuropa. Auf letztere Region fokussiert der Sammelband „Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa“, dessen interdisziplinäre Beiträge auf einer Konferenz im Dezember 2005 an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) und der Fritz Thyssen Stiftung erstmalig präsentiert wurden.

Die theoretisch und begrifflich allesamt exzellent begründeten Beiträge lassen sich entlang ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzungen in fünf Kategorien gliedern: ein Überblickstext zu unterschiedlichen Typen nationaler Erinnerungskulturen in Südosteuropa; Analysen nationalstaatlichen Gedenkens; historiographische Untersuchungen; soziologische und anthropologische Studien zur privaten Auseinandersetzung mit dem Alltag im realsozialistischen System; künstlerische Strategien des Umgangs mit der Vergangenheit zwischen 1945 und 1989. Auf letztere wird im Rahmen dieser Rezension ein Schwerpunkt gelegt, da ihnen in einer herrschaftszentrierten Geschichtsschreibung ohnehin selten gebührende Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird.

Vier Typen im Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit macht Stefan Troebst (GWZO Leipzig) in seinem Eingangstext aus. In Estland, Lettland, Litauen, Kroatien und dem Kosovo wird das realsozialistische System als von „ethnisch fremden“ Mächten aufoktroyiert erinnert. Kontroversen über die Deutung der diktatorischen Vergangenheit werden in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und in der Ukraine geführt. Es gibt jedoch Länder, in denen auch an die Modernisierungseffekte der realsozialistischen Ära gedacht wird (Albanien, Makedonien, Serbien, Montenegro, Rumänien, Bulgarien). In die vierte Kategorie gehören schließlich jene Staaten, die starke Elitenkontinuitäten von den „alten“ zu den „neuen“ autoritären Regimen aufweisen (Russländische Föderation, Belarus, Moldova und die moldauische Abspaltung Transnistrien).

Aufbauend auf Stefan Troebsts Einteilung werden die Länderbeispiele Rumänien (Dietmar Müller, Universität Leipzig), Bulgarien (Nikolai Vukov, Akademie der Wissenschaften, Sofia) und Griechenland (Hagen Fleischer, Universität Athen) diskutiert. Vorderhand etwas verwundern mag der Beitrag zu Griechenland, doch Hagen Fleischer legt überzeugend dar, dass dort Erinnerung an den Widerstand gegen die NS-Besatzung und an den griechischen Bürgerkrieg ebenfalls zu politischen und historiografischen Deutungskonflikten zwischen nationalistischen und kommunistischen Kräften führten.

Mit institutionellen und inhaltlichen Unzulänglichkeiten der Zeitgeschichtsforschung in Südosteuropa beschäftigt sich Ulf Brunnbauer (Freie Universität Berlin). Während die stalinistisch geprägte Phase der kommunistischen Machtergreifung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schon breiter bearbeitet wurde, harren spätere Jahrzehnte einer wissenschaftlichen Analyse, was sowohl der Dokumentenzentriertheit als auch der persönlichen Verwicklung führender HistorikerInnen in einem von gerontokratischen Strukturen geprägten Forschungsumfeld geschuldet ist. Der Niedergang der realsozialistischen Systeme und der Zerfall Jugoslawiens beförderten die Tendenz, „die Vergangenheit der Nation wieder in das rechte Licht zu rücken, um an vergangene Glanzperioden anschließen zu können.“ (S. 91), wobei auch vor 1989 Geschichtswissenschaft hauptsächlich in nationalen Kategorien betrieben wurde. „Es war daher grundsätzlich ausreichend, die obligatorischen Referenzen zu Klassikern des Marxismus-Leninismus weg zu lassen.“ (S. 101)

Eine zentrale Schnittstelle zwischen nationalem Geschichtsbild und historischer Forschung untersucht Augusta Dimou (Universität Leipzig) mit einer von 1991 bis heute angelegten Längsschnittanalyse von Schulbüchern in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Péter Ápor (Central European University, Budapest) hingegen beleuchtet die wichtigsten Stränge ungarischer Zeitgeschichtsforschung.

Mit dem schematischen Aufsatz „Der Sozialismus und seine sieben „S“-Werte der Nostalgie“ eröffnet Predrag J. Marković (Institut für Zeitgeschichte, Belgrad) die Studien zur privaten Erinnerung an den Alltag in den realsozialistischen Gesellschaften Südosteuropas. Solidarität, Sicherheit, Stabilität, soziale Inklusion, Soziabilität, Solidität (Seriosität) und Selbstachtung sind laut Marković jene Konstanten, an denen sich nostalgische Vorstellungen ausrichten. Der Realsozialismus wurde und wird von der älteren Erlebnisgeneration eng verknüpft mit dem Modernisierungsprozess und der Überwindung von Armut und ländlichem Traditionalismus gesehen.

Nur scheinbar konterkariert wird diese Identifikation mit dem vorherrschenden Gesellschaftssystem in den Schilderungen über Einkaufsfahrten von SlowenInnen ab den späten 1950er-Jahren in das benachbarte Triest, die im Beitrag von Breda Luthar (Universität Ljubljana) besprochen werden. Während vordergründig das Eintauchen in die bunte Konsumwelt und in das italienische Lebensgefühl einen Gegenentwurf zum entbehrungsreichen und monotonen Dasein in Jugoslawien darstellen, wird bei genauem Hinsehen deutlich, dass erst nachbarschaftliche Netzwerke die Organisation dieser Einkaufsfahrten und die damit verbundenen Schmuggelaktionen ermöglichten.

Die Besetzung christlicher Feiertage mit sozialistischen Inhalten in Bulgarien analysiert Daniele Koleva (Kliment-Ochridski-Universität Sofia). Die Strategie der machthabenden Eliten war insofern erfolgreich, als sie die religiöse Grundbedeutung aus den Festritualen vielfach verdrängen, sich gleichzeitig aber Legitimität für die Umdeutung bei breiten Teilen der Bevölkerung durch die Einhaltung gewohnter Feiertagsrhythmen und familiärer, nachbarschaftlicher und betrieblicher Zusammenkünfte erzeugen konnten.

In den Aufsätzen von Éva Kovács (Akademie der Wissenschaften in Budapest / Universität Pécs) und von der klinischen Psychologin Oltea Joja (Titu-Maiorescu-Universität Bukarest) geht es um selbstreflexiver Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung. Joja legt Formen individuellen und familiär tradierten Erinnerns und Vergessens in Rumänien frei. Sie orientiert sich dabei an den Grundlagenarbeiten von Margarethe und Alexander Mitscherlich1 sowie Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall2 zum Umgang mit dem Nationalsozialismus. In Jojas kurzem Forschungsbericht zu Interviews mit sieben Personen im Alter zwischen 17 und 38 Jahren (beziehungsweise von drei bis 23 im Revolutionsjahr 1989) können verblüffende Ähnlichkeiten in den Bereichen familiärer Tradierungsmuster (glückliche Kindheit, schwierige Umstände, Aufopferung der Eltern, gemeinschaftliche Freizeitmöglichkeiten), Verharmlosung und Verschweigen festgestellt werden. Lediglich eine sehr junge Interviewpartnerin monierte, dass sich die zahlreichen RumänInnen ihrer Schuld am Regime nicht einzig in Richtung Ceauşescu entledigen könnten.

Stephanie Schwandner-Sievers (University College London) und Isabel Ströhle (Südosteuropa-Institut Regensburg) zeichnen das Bild einer dreigliedrigen Erinnerungskultur im Kosovo. Während im privaten Umfeld eine gewisse Tito-Nostalgie ausgemacht werden kann, ist der öffentliche Raum spätestens seit dem Krieg 1998-1999 von einem albanischen ethnonationalistischen Märtyrerkult besetzt. Der nicht endgültige Status des Kosovo verschärft diesen Zustand. Thema geschichtspolitischer Kontroversen ist hingegen die Verortung Ibrahim Rugovas, zumal an seiner Person auch die Frage der Legitimität von Gewalt als Mittel des Widerstandes aufgehängt wird.

Im letzten Abschnitt geht es darum, auf welchen Wegen sich KünstlerInnen der realsozialistischen Erfahrung in Südosteuropa annähern. Am Beispiel des teils autobiografische Züge tragenden Werkes der außerhalb ihres Herkunftslandes lebenden kroatischen Literatin Dubravka Ugrešić zeigt Anne Cornelia Kenneweg (Universität Leipzig) die konsequente Verweigerung eines Dienstes an der neu entstandenen Nation und die damit verbundene Delegitimierung in der kroatischen Öffentlichkeit. Außerhalb Kroatiens ist Ugrešić wiederum mit der Etikettierung als „East European Writer“ konfrontiert, was sie letztlich zur intensiven „Auseinandersetzung mit Identität und den Prozessen ihrer Herstellung und Aneignung“ (S. 277) zwingt.

Noch konfrontativer sind die beiden Erinnerungsdiskurse an das ehemals realsozialistische Südosteuropa, die in der autobiographischen CD-ROM „An Anecdoted Archive from the Cold War“ von George Legrady zusammen treffen. Der Medienkünstler wurde in Ungarn geboren, wuchs in Kanada auf und lebt heute in den Vereinigten Staaten. Tasja Langenbach (freie Kunsthistorikerin) fasst zusammen: „Es ist zum einen eine Illustration des Versuchs, ein individuelles Gedächtnis in eine Form zu bringen, es zu verewigen und damit gleichzeitig dem Betrachter ein an die Darstellungsform gebundenes spezifisches Bild der Zeit des Kalten Krieges zu vermitteln.“ (S. 293) So wählt Legrady für sein interaktives Projekt die per se selektiv inszenierende Architektur eines historischen Museums und stellt in einer virtuellen Referenzbibliothek westliche und östliche Dokumente aus der Epoche des Kalten Krieges gegenüber.

Erinnerung, Macht und Zeitverständnis bilden die Grundlinien des Beitrages von Zoran Terzić (Kunstwissenschaftler, Berlin). Seinem Befund zufolge muss zuallererst nach dem Zeitverständnis gefragt werden, das Systemwechseln, politischen Krisen und Umbrüchen zu Grunde liegt. „Erst das Begründen und Sichern von Herrschaft kontextualisiert die Sphäre von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (S. 251) Daran anknüpfend formuliert Terzić seine scharfe Kritik an „EU-Konformisten und -pragmatisten“ (S. 253), die in der liberalen Demokratie das Ende der Ideologie sähen und dabei den Blick für die Untrennbarkeit von Realsozialismus und Postsozialismus verlören. Ersterer habe über das Primat der Politik Kritik verunmöglicht, während es heute die Ökonomie sei: „Wer gegen die Partei spricht, ist ein Usurpator, und wer gegen den Wirtschaftsstandort agitiert, ist ein Saboteur [...]“ (S. 253). Zwei besonders wichtige Einwände finden sich lediglich im Fußnotentext. Terzić zeigt erstens den Zynismus der EU-Politik zur Heranführung des Balkans an Europa nach den Kriegen auf, seien doch sowohl die Konstruktion des Raumes „Balkan“ als auch Krieg prototypisch europäische Produkte (vgl. Fußnote 13, S. 253). Zweitens bringt Terzić die in allen Beiträgen des Sammelbandes anklingende Kritik am postsozialistischen Nationalismus auf den Punkt: Während der Kommunismus verhandel- und widerlegbar sei, sei der Nationalismus „in der Totale des Gefühls der Zugehörigkeit [...] apodiktisch“ (Fußnote 6, S. 249).

Dubravka Ugrešić stößt sich daran, permanent mit dem Label der osteuropäischen Autorin versehen zu werden, während Zoran Terzić missfällt, wie südosteuropäische Gesellschaften gemessen an ihrer Wirtschaftskraft und politischen Stabilität in EU-Beitrittszonen (Stichwort: Westbalkan) eingeteilt werden. Der Blick der deutschsprachigen LeserInnenschaft auf Südosteuropa findet nicht selten durch eine ähnlich oberflächliche Brille statt. Die multiplen Strategien der Auseinandersetzung mit der realsozialistischen Vergangenheit, die in „Zwischen Amnesie und Nostalgie“ gleichzeitig wissenschaftlich und zugänglich besprochen werden, lösen dieses monochrome Bild theoretisch fundiert und inhaltlich detailliert auf.

Anmerkungen:
1 Margarethe Mitscherlich / Alexander Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München, Zürich 1967.
2 Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschugnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2003.

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