: Politik und Gedächtnis. . Weilerswist 2008 : Velbrück Wissenschaft, ISBN 978-3-938808-50-4 712 S. € 45,00

Heinrich, Horst-Alfred; Kohlstruck, Michael (Hrsg.): Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie. . Stuttgart 2008 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-09183-1 144 S. € 31,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Die Politikwissenschaft hat sich hierzulande lange schwer getan, innerhalb der zuletzt immer weiter ausufernden Erinnerungs- und Gedächtnisforschung ihren Platz zu finden und eigene Zugänge zu entwickeln. Seitdem kulturwissenschaftliche Ansätze für die Erforschung politischer Phänomene in den letzten Jahren zunehmend salonfähig geworden sind1, findet nun aber auch das zum „Leitbegriff der Kulturwissenschaften“ erhobene Gedächtniskonzept2 eine spezifisch politikwissenschaftliche Ausbuchstabierung. In diese Richtung deuten zumindest die beiden hier zu besprechenden Bücher, die auf ganz unterschiedliche Weise dem Verhältnis von Politik, Geschichte und Erinnerung nachgehen.

Der in Aachen lehrende Helmut König gehört zu den wenigen Hochschullehrern im Fach Politikwissenschaft, die sich seit langem mit den historischen Grundlagen von Politik und speziell mit Fragen des politischen Umgangs mit der Vergangenheit (vor allem mit Blick auf den Nationalsozialismus) beschäftigen. König hat eine rund 700 Seiten starke Abhandlung über die Bedeutung des Gedächtnisses für politische Ordnung und politisches Handeln vorgelegt3, die im Dezember 2008 auf Platz eins der von Süddeutscher Zeitung, Norddeutschem Rundfunk und Börsenblatt zusammengestellten Bestenliste der Sachbücher gesetzt wurde. Wie auch immer solche Rankings zustande kommen – Königs Buch besticht durch eine äußerst klare, verständliche Sprache, die den Leser nicht nur mit dem zugemuteten Lesepensum versöhnt, sondern es auch Nicht-Spezialisten erlaubt, komplexe Sachverhalte nachzuvollziehen, seien es geschichtsphilosophische Überlegungen zu Erinnern und Vergessen oder unterschiedliche Interpretationen des Gedankengebäudes von Thomas Hobbes.

Im ersten Teil seines Buches gibt der Verfasser einen umfassenden Überblick zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, in dem alle wichtigen Themen, Ansätze und Autoren dieses Forschungsfelds kurz und prägnant vorgestellt werden. Im zweiten, etwa zwei Drittel des Buches umfassenden Teil wird die Bedeutung des Gedächtnisses für die Begründung unterschiedlicher politischer Ordnungen analysiert. König hat hierfür vier Fälle ausgewählt: Zuerst behandelt er die Logik des religiösen Gedächtnisses und diskutiert das Verhältnis von Bund und Gedächtnis im Alten Testament. Zweitens fragt er nach dem Platz des Gedächtnisses in der Vertragstheorie des schon erwähnten Thomas Hobbes. Die dritte Fallstudie ist dem „Gedächtnis der Nation“ gewidmet. Es geht somit um die Konstitutionsbedingungen politischer Gemeinschaften auf der Grundlage kollektiv geteilter Erinnerungen. An vierter und letzter Stelle untersucht König das „postnationale Gedächtnis“. Vor allem unter Berufung auf das politische Denken Hannah Arendts definiert er dieses als eine Form politischer Vergemeinschaftung, bei der auch negativ bewertete Teile der Vergangenheit in das Selbstbild integriert werden und die Reflexion über die eigene Vergangenheit dauerhaft institutionalisiert wird.

König verbindet in seiner Darstellung breite Sachkenntnis mit profundem Detailwissen. Obwohl er um Anschlüsse und Übergänge zwischen den einzelnen Abschnitten bemüht ist, stehen der erste Teil des Buches wie auch die vier Fallstudien weitgehend nebeneinander und können somit auch jeweils separat gelesen werden. In seiner Gesamtheit beeindruckt der Band weniger durch die Originalität der vorgestellten Autoren und Interpretationen, sondern in erster Linie durch die Zusammenführung einer Vielzahl von Diskussionssträngen. Diese reichen von unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Erinnerns und Vergessens über die Darstellung der ‚Erinnerungsgeschichte‘ der Bundesrepublik bis hin zur klassischen politikwissenschaftlichen Frage, was ‚Politik‘ sei und was eine politische Ordnung konstituiere.

In der Breite der berücksichtigten Facetten liegt jedoch auch die zentrale Schwachstelle des Buches: Wer sich für einzelne der im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Themen interessiert, wird in den entsprechenden Kapiteln anschauliche, häufig sehr anregende Einblicke gewinnen. Doch wer eine systematische Erörterung des Beziehungsgeflechtes von Politik, Erinnerung und Vergessen erwartet, wird enttäuscht werden. Auch wenn König zum Abschluss seines ersten Teils die besondere politische Bedeutung des Gedächtnisses als die notfalls mit staatlicher Hilfe erzwungene „Erinnerung an die Erfüllung eingegangener Verpflichtungen“ bestimmt, welche die Grundlage für den Zusammenhalt politischer Gemeinschaften bilde (S. 182), werden im Verlauf der anschließenden Falldarstellungen so viele verschiedene Dimensionen des Vergangenheitsbezugs unter politischen Vorzeichen angeführt, dass der zunächst auf das Versprechen bzw. den Vertrag bezogene politische Gedächtnisbegriff letztlich verschwimmt. Bezeichnenderweise endet das Buch auch nicht mit einer Synthese über das Verhältnis von Politik und Gedächtnis, sondern verweist unter der Überschrift „Anstelle eines Resümees: Europas Gedächtnis“ auf die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen eines europäischen Gedächtnisses.

So liefert Helmut Königs voluminöse Studie auf eher disparate Weise viele Anregungen, wie das „Gedächtnisthema“ stärker als bislang innerhalb einer „funktionalistisch auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen“ fokussierten Politikwissenschaft (S. 16) verankert werden könnte. Ob dies ausreichen wird, um das Gedächtnis als politisch relevanten Begriff im politikwissenschaftlichen „mainstream“ (ebd.) zu etablieren, bleibt allerdings abzuwarten.

Um eine fachwissenschaftliche Verortung der Forschung zum Verhältnis von Politik, Geschichte und Erinnerung geht es auch dem seit 1997 bestehenden Arbeitskreis Politik und Geschichte der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Mit dem von Horst-Alfred Heinrich (Universität Stuttgart) und Michael Kohlstruck (Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin) nun herausgegebenen Sammelband werden zum dritten Mal Forschungsergebnisse aus dem Zusammenhang des Arbeitskreises in Buchform präsentiert.4 Während Helmut Königs Erörterungen der politischen Bedeutung von Erinnerung und Gedächtnis letztlich im Bereich der politischen Theorie angesiedelt sind, zielt der von Heinrich und Kohlstruck zusammengestellte Band darauf ab, „ausgewählte Ansätze aus den Sozialwissenschaften hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für Geschichtspolitik“ zu präsentieren (S. 9). Geschichtspolitik führen die Herausgeber in ihrer Einleitung dabei nicht als Forschungsgegenstand ein, sondern als Forschungsfeld, das „Frageperspektiven“ umfasse, „die von einer politisch relevanten Durchdringung von Geschichte und Politik bis zur expliziten und strategischen Thematisierung von Geschichte in politischen Kontexten reichen“. Der ‚Arbeitsauftrag‘ der Herausgeber für die Autoren lautete entsprechend, je nach Forschungsansatz und Erkenntnisinteresse einen eigenen geschichtspolitischen Zugang zu entwickeln und diesen theoretisch zu begründen. Im Unterschied zur Vielzahl der in den letzten Jahren veröffentlichten Studien und Sammelbände, welche die Indienstnahme der Vergangenheit zu politischen Zwecken an unterschiedlichen empirischen Beispielen herausgearbeitet haben, wird hier also der Versuch unternommen, das Feld der Geschichtspolitik theoretisch zu erschließen. Drei unterschiedliche Wege, dies zu tun, lässt der Sammelband erkennen.

Die Autoren der ersten drei Beiträge nähern sich dem geschichtspolitischen Feld, indem sie einen spezifischen Theorieansatz zunächst für sich genommen erläutern und ihn dann auf sein Erklärungspotenzial für Geschichtspolitik befragen. Horst-Alfred Heinrich stellt hierfür die Theorie sozialer Identität nach Henri Tajfel vor, um zu erklären, wann und warum zur Ausbildung und Stärkung von Identität auf die Vergangenheit zurückgegriffen wird. Johannes Marx diskutiert die Orientierungsfunktion von Geschichtsbildern für das Handeln individueller Akteure anhand des Rational-Choice-Ansatzes nach James Coleman und Hartmut Esser. Marc Arenhövel unternimmt den Versuch, geschichtspolitische Phänomene mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu erfassen und zu erklären.

Die beiden anschließenden Beiträge von Harald Schmid und Birgit Schwelling stellen demgegenüber keinen einzelnen Theorieansatz in den Mittelpunkt, sondern zielen ähnlich wie Helmut König darauf ab, unter Berufung auf kulturwissenschaftliche Konzepte einen ‚neuen‘ Blick auf das Politische zu begründen. Im Gegensatz zu König legt vor allem Schwelling den Fokus explizit auf das Handeln von Akteuren, womit sie die Erwartung verbindet, „zu einer ‚Erdung‘ der Gedächtnis-Forschung“ beizutragen, „die immer noch allzu häufig von frei flottierenden Erinnerungen ausgeht und Gedächtnis ohne Akteure, ohne Strategien, ohne Interessen und ohne Macht und Herrschaft denkt“ (S. 118).

Der letzte Beitrag von Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck ist schließlich der Untersuchung des Topos ‚Aus der Geschichte lernen‘ gewidmet. Obwohl für sich genommen schlüssig, wirken die Ausführungen mit Blick auf das übergeordnete Thema des Bandes und im Vergleich zu den Schwerpunkten der anderen Aufsätze etwas fehl am Platz, hebt dieser Beitrag doch in erster Linie auf die inhaltliche Rekonstruktion und Bewertung unterschiedlicher Bedeutungsdimensionen der genannten Alltagsmaxime ab – und weniger auf eine Diskussion der in diesem Zusammenhang angesprochenen wissenssoziologischen, moralpsychologischen und pädagogischen Prämissen.

Insgesamt erlaubt die Heterogenität der im Sammelband behandelten Ansätze keine allgemeine Synthese, zumal die von den einzelnen Autoren postulierte theoretische Erklärungskraft für geschichtspolitische Phänomene nicht in allen Fällen gleich stark überzeugt. Wie bei Helmut König werden durch diesen Band allerdings einige vielversprechende Möglichkeiten aufgezeigt, in welche Richtung sich eine theoretisch informierte politikwissenschaftliche Forschung zum Verhältnis von Politik, Geschichte und Gedächtnis weiterentwickeln könnte: sei es, dass man im Anschluss an Horst-Alfred Heinrich auf neue Arten zu klären versucht, wann und vor allem warum politische Gemeinschaften den Bezug zu einer (vermeintlich) gemeinsamen Vergangenheit benötigen, oder sei es, dass man die von Birgit Schwelling vorgeschlagene Erweiterung des Politikbegriffs aufgreift, der sowohl die Herstellung als auch die Darstellung kollektiv geteilter Sinnbezüge umfasst. Man darf also gespannt sein, wohin sich die politikwissenschaftliche Forschung zu Politik, Geschichte und Erinnerung künftig bewegen wird.

Anmerkungen:
1 Z.B. Michael Müller u.a. (Hrsg.), Der Sinn der Politik. Kulturwissenschaftliche Politikanalysen, Konstanz 2002; Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004.
2 Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner / Gotthard Wunberg (Hrsg.), Kulturwissenschaften: Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 27-45.
3 Das Buch kann über den Verlag Humanities Online (<http://www.humanities-online.de>) auch als lizensierte PDF-Version zum Preis von 15 Euro heruntergeladen werden.
4 Die beiden ersten Publikationen waren Claudia Fröhlich / Michael Kohlstruck (Hrsg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, sowie Claudia Fröhlich / Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Stuttgart 2004. Siehe auch Elena Temper: Rezension zu: Fröhlich, Claudia; Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004, in: H-Soz-u-Kult, 16.09.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7137>; Philipp Stelzel: Rezension zu: Fröhlich, Claudia; Heinrich, Horst-Alfred (Hrsg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004, in: H-Soz-u-Kult, 29.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-073>.

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