Cover
Titel
Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven


Herausgeber
Loenhoff, Jens
Erschienen
Weilerswist 2012: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lukas Lehmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Intuition, Könnerschaft, erfahrungsgeleitetes Handeln, Alltagstheorie, Habitus, Routinewissen oder ganz einfach: ‚Tun‘ – allesamt sind dies Begriffe, die irgendwie mit dem gegenwärtig stark nachgefragten Konzept des impliziten Wissens in Zusammenhang stehen1; teilweise als spezifische Aspekte davon oder aber als Synonyme oder Alternativbegrifflichkeiten. Bereits der Blick auf das Inhaltsverzeichnis des von Jens Loenhoff zusammengestellten Sammelbands zeigt eine ebensolche Bandbreite von Entwürfen und Modellen: Da ist unter anderem die Rede von Empirischem Wissen (Kogge), von Können (Schneider) und von konjunktivem Erkennen (Schützeichel nach Mannheim); da werden die Konzepte einmal theoriegeschichtlich angegangen (Loenhoff), einmal eher experimentell begründet (Collins) oder schließlich auf ihre praktische oder pragmatische Relevanz (Bongaerts, Renn) hin überprüft. Entsprechend ist das Buch in vier größere (in den Abgrenzungen nicht wirklich klar) getrennte Blöcke eingeteilt (epistemologische und handlungstheoretische Diskurse, sprachtheoretische und kognitionspsychologische Reflexionen).

In der Heterogenität steckt eine große Herausforderung. Dies gilt besonders für einen Sammelband, der sich einer epistemologischen und handlungstheoretischen Sondierung verschrieben hat. Die Aufgabe heißt also erst einmal: Ordnung bringen in das Ordnungslose. Der Einleitung kommt somit die durchaus schwierige Aufgabe zu, wenn nicht eine eindeutige, dann doch wenigstens eine einheitliche Umschreibung dessen zu liefern, was denn genau die Notion ‚implizites Wissen‘ beinhalte. Doch dies vermag dem Herausgeber in den einleitenden Zeilen nicht durchweg zu gelingen: Zwar gibt er einen guten Aufriss der Problembereiche im Bezug auf die Voraussetzungen und das Zustandekommen von Konzepten impliziten Wissens und auch umreißt er die teils prekär konstruierten Verbindungen zwischen Handeln und Deuten, die dem Konzept inhärent sind. Er kann jedoch insgesamt den Gegenstand (oder dessen Heterogenität) zu wenig prägnant und zusammenhängend umschreiben. So sieht sich der oder die Lesende am Ende dann mit dem Verhältnisproblem von Wald und Bäumen konfrontiert – wobei die teils sehr dichte Beschreibung komplexer Problemstellungen und potentieller Fallstricke dem Verstehen nicht wirklich förderlich sind. Wer trotzdem weiterliest, wird an unterschiedlichen Stellen aber durchaus belohnt. Einige und nicht alle dieser ‚Gewinne‘ seien im Folgenden kurz dargestellt und kommentiert:

Eingangs führt Werner Kogge aus, dass explizites und implizites Wissen nur dürftig mit dem gängigen Gegensatzpaar Wissen versus Können erfasst werden können. Er versucht deshalb, anhand einer Neuauslegung des Erfahrungsbegriffs, „das Phänomen, dass wir mehr ‚wissen‘ und ‚können‘, als wir ‚sagen können‘, konzeptionell zu erschließen“ (S. 34). In Anlehnung an eine Denktradition, die von Aristoteles begründet worden ist, hält er abschließend fest, dass die häufig gebrauchte Unterscheidung impliziter und expliziter Wissensarten durch die Differenzierung nach sprachlichen und nicht-sprachlichen Komponenten bei Weitem nicht adäquat erscheint. Denn auch bei der Produktion von explizitem Wissen – par excellence: in der Wissenschaft – spielen nicht-explizite Erfahrungen und damit vor- oder nichtsprachliche Aspekte eine wesentliche Rolle. Durchaus spannend formuliert Kogge, dass ein weit gefasstes Verständnis des Erfahrungsbegriffs solche Widersprüchlichkeiten auffangen könnte. Unter der Prämisse einer Erweiterung der aristotelischen Emperia im „anspruchsvollen Sinne“ (S. 48) plädiert er in der Folge für das Ersetzen der allzu diffusen Konzeption ‚implizites Wissen‘. Dies ist in sich durchaus plausibel und das Konzept hat durchaus Potential. Dennoch ist es etwas irritierend, dass gerade der Versuch, das namengebende Konzept des Sammelbands als unzulänglich zu verwerfen, an erster Stelle steht.

Der Begrifflichkeit bedeutend mehr abgewinnen kann Hans Julius Schneider. Und gerade weil er den Terminus (zumindest empirisch) stark vereinfacht, wird er umso fassbarer: Implizites Wissen ist demnach mehr als nur das als „naturalistisch“ bezeichnete „Bauchgefühl“ (S. 84), und: es erscheint immer auch als „potentiell explizites Wissen“ (S. 83). Konkret bezeichnet es gemäß Schneider ein Vorstadium, das auf Erfahrung und dessen Verdichtung beruht – also regelgeleitet erfolgt und somit explizierbar ist. Implizites Wissen markiert folglich eine Art „Zwischenposition“ (S. 88) in einem Deutungsvorgang, die den reflexiven Abschluss der Explikation gegenüber Dritten jedoch (noch) nicht beinhaltet. Es ist bedauerlich, dass an dieser Stelle von Schneider nicht weiter darauf eingegangen wird, inwiefern diese durchaus einsichtige Modellierung empirisch-wissenschaftlich nutzbar gemacht wird, respektive an welche Theorietraditionen damit angeschlossen werden könnte (zeigt das Modell doch gewisse Verwandtschaften mit einigen hermeneutischen Methodologien).2 Als Fazit jedenfalls bleibt die bei Weitem nicht triviale Einsicht, dass implizites und explizites Wissen keineswegs zwei voneinander trennbare ‚Wissensphänomene‘ darstellen.

Etwas vertrackter, aber dennoch lesenswert sind die Denkexperimente von Harry Collins. Er versucht, drei unterschiedliche Aspekte impliziten Wissens (relationales, somatisches und kollektives implizites Wissen) anhand ihrer Abgrenzung zum Begriff des Expliziten verständlich zu machen – und er tut dies mit Zuhilfenahme durchaus erfrischender und zugänglicher Beispiele. Explizites Wissen stellt gemäß Collins erstens eine Art materialisiertes Wissen dar, denn man kann es „sehen und riechen“ (S. 92), implizites Wissen hingegen sei „unsichtbar“ (S. 92). Damit zusammen hängt der zweite Unterschied, nämlich dass implizites Wissen nicht vom Akteur losgelöst tradiert werden kann (vgl. dazu die Position Polanyis bzw. sein Konzept des personalen Wissens3). Beide Argumente zusammen genommen machen gemäß Collins die Schwierigkeiten in der Vermittlung von Erkenntnis respektive Wissen aus. So kommt er zum Schluss, dass überhaupt der größte Teil des Wissens implizit sei und dies auch bleibe. Denn aufgrund von situativen Kontextabhängigkeiten des Wissens ist dieses nur in definierten Fällen erfolgreich tradierbar. Der Text von Collins endet jedoch mit dieser Feststellung, und der theoretische Gewinn dieses Einmal-Anders-Denkens bleibt im Keim erstickt. Gerne hätte man hier etwas mehr erfahren.

Aufgrund der Popularität der Konzepte impliziten Wissens in der Soziologie darf schließlich ein entsprechender Beitrag aus diesem Fachbereich in dem Sammelband natürlich nicht fehlen. Diesen Part übernimmt Rainer Schützeichel mit einem Text, der eigentlich als hervorragender Einstieg in die gesamte Thematik hätte dienen können. In systematischer Art führt er einleitend die drei gegenwärtig gültigen großen Traditionslinien aus (zurückgehend auf ihre namensgebenden Autoren, jeweils benannt als Ryle/Wittgenstein-, Polanyi- und Mannheim-Linien). Interessanterweise arbeitet Schützeichel heraus, dass, obwohl alle Konzepte durchaus eigene Antworten finden, in welcher Beziehung das implizite Wissen zu formalisierten, verbalisierten oder intentionalem Wissen steht, ihnen doch eines gemeinsam ist: Alle wehren sich gegen eine rein individuell-rationale Zugänglichkeit („die Vorstellung eines selbst-reflexiven Individuums“ [S. 109]) zum Wissen. Seine Analyse der Implizitheit von Wissen führt ihn dazu, eine wissenssoziologisch untermauerte Kritik an ebendiesem epistemischen Individualismus vorzunehmen: Jegliches Wissen kann nur in „seiner situativen Einbettung in seine Umwelt“ (S. 128) gedeutet respektive verstanden werden. So gesehen beschreibt das implizite Wissen primär die Beziehungen in einer epistemischen Gemeinschaft und schafft damit die Voraussetzungen, dass in einer solchen Gemeinschaft überhaupt Wissen geteilt werden kann.

Abschließend lässt sich also festhalten: Ein in der Vielfalt interessant zusammengestellter Sammelband, welcher den Lesenden durchaus reichhaltige Angebote unterbreitet, dem Konzept des impliziten Wissens auf die Spur zu kommen. Denn versammelt sind in diesem Band nicht nur historische, theoretische oder fachlich-systematische Beiträge, sondern auch anwendungsbezogene Transformationen und Weiterentwicklungen, die mit der Notion ‚implizites Wissen‘ irgendwie in Verbindung stehen. Diese Vielfalt hat gerade im Bezug auf das behandelte Thema durchaus Berechtigung, können wir doch „ein Gesicht nur dann wahrnehmen, wenn wir nicht auf die Teile konzentriert sind“ (S. 115). Leider fehlt dann aber die zweite Voraussetzung einer erfolgreichen Wahrnehmungsleistung, nämlich die Unterstützung dafür, dass die einzelnen Teile auch in eine Gesamtheit integriert werden. So bleibt am Ende intensiver, aber auch bereichernder Lektüre ein etwas schaler Nachgeschmack, da man auf die simple Frage: ‚Was ist eigentlich mit implizitem Wissen gemeint?‘ noch immer keine Antwort hat. Insofern wäre eine stärkere Bündelung der Debatten einstweilen sinnvoll gewesen.

Anmerkungen:
1 Als Überblick und stellvertretend für andere vgl: (a) Stefan Böschen / Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003; (b) Fritz Böhle u.a., Umbrüche im gesellschaftlichen Umgang mit Erfahrungswissen. Theoretische Konzepte, empirische Befunde, Perspektiven der Forschung. ISF München Forschungsberichte, München 2002.
2 Als Überblick vgl. hierzu: Ronald Hitzler / Anne Honer, Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997.
3 Michael Polanyi, Personal knowledge towards a post-critical philosophy, London 1973 [1958].

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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