: States, Markets and Education. The Rise and Limits of the Education State. Houndmills/New York 2014 : Palgrave Macmillan, ISBN 9781137326478 208 S. £ 61.00

: Die Öffentlichkeiten der Erziehung. Eine historisch vergleichende Untersuchung. Wiesbaden 2014 : Springer VS, ISBN 978-3-658-08279-6 X, 269 S. € 39,99

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anja Giudici, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Gemäß Axel Honneth waren im „politisch-philosophischen Diskurs der Moderne“ Demokratietheorie und Pädagogik noch „Zwillingsschwestern“: Die großen Demokratietheoretiker waren gleichzeitig auch immer Verfasser von Monographien zur öffentlichen Erziehung, denn ohne entsprechende pädagogische Theorie schien jedes Demokratiekonzept zum Scheitern verurteilt.1 Heute, so Honneth, sei dieses Band gerissen. Dies mag vielleicht auch daran liegen, dass die Forschung mittlerweile von einer komplexen Beziehung zwischen Staat und Erziehungswesen ausgeht, die sich nicht einfach als ein funktionales Verhältnis der zweiten Instanz gegenüber der ersten bestimmen lässt2. Die Arbeiten von Ansgar Weymann und Tomoko Kojima stellen zwei sehr unterschiedliche Zugänge dar, um diese gekappte Verbindung zwischen Staat, Öffentlichkeit und Erziehungswesen (wieder) herzustellen.

In Weymanns Analyse wird das Erziehungswesen ausschließlich aus staatlicher und öffentlicher Sicht betrachtet. Es ist einerseits des Autors Ziel, den engen Zusammenhang zwischen Staat und Erziehungswesen darzulegen – er verbindet die zwei Instanzen auch konzeptuell und spricht von einem „education state“. Andererseits fragt Weymann ausgehend von einer Gegenwartsdiagnose, ob der Erziehungsstaat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit mittlerweile erreicht hat (S.1).

Weymann geht davon aus, dass Erziehung in der Moderne zunächst und vor allem als eine staatliche Angelegenheit verstanden werden muss (S. 2). Diese Prämisse erlaubt es ihm, spannende Zusammenhänge zu erörtern. Der Autor führt sie im ersten Teil seines Buches („The Political Economy of the Education State“, S. 15–26) auf drei Gründe zurück: a) Das Erziehungssystem sichert via meritokratischem Prinzip die politische Macht im Staat; b) Die „Allianz“ zwischen Staat und Kapitalismus bedingt, dass Investitionen in den Erziehungsstaat als Investitionen in das Humankapital und damit in die Staatswohlfahrt gelten; c) Das Erziehungswesen erlaubt die Schaffung einer kulturell homogenen Gesellschaft, die Verbreitung staatlicher Nationalprojekte und die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Dass sich dadurch das Erziehungswesen zur „classic prerogative of the modern nation-state“ (S. 16) herausgebildet hat, belegt der Autor in Teil 2 („The Rise of the Education State in History“, S. 29–80) erstens anhand des Wandels normativer Ideale zur Verbindung Erziehung-Staat bei einer Reihe europäischer „Klassiker“ der Staatstheorie von Machiavelli bis Weber, zweitens anhand der Entwicklung des vor allem deutschen und französischen „Erziehungsstaates“ in seiner „Blütezeit“ bis ins 20. Jahrhundert, sowie drittens mit der Expansion des höheren US-amerikanischen Schulwesens im 20. Jahrhundert. Weymann zeichnet in vier Etappen das Bild einer parallelen Entwicklung staatlicher Bedürfnisse und der Ausweitung bzw. Ausrichtung des Erziehungswesens, vom Mittelalter – „the state held little responsibility for education because the state itself was poorly developed“ (S. 41) –, über die Staatenbildung im 16. bis 18. Jahrhundert und die Konsolidierung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert, zum 20. Jahrhundert, dem „human capital century“ (S. 60). Innerhalb dieses Zeitraums, so der Autor, habe sich der Glaube an die Wirkungskraft des Erziehungsstaates zur „civil religion“ (S. 59) entwickelt. Seit den 1980er-Jahren allerdings schwinde dieser Glaube allmählich. Die in das Bildungswesen gesetzten Hoffnungen scheinen nicht in Erfüllung zu gehen: Soziale Ungleichheit bleibt bestehen, so wie Produktivität, Wohlstand und Schulleistungen sich nicht stetig zu verbessern scheinen. Außerdem werden Souveränität und Hegemonie westlicher Staaten immer stärker durch neue Weltmächte sowie durch Internationalisierung und Globalisierung in Frage gestellt.

Diese Periodisierung braucht Weymann, um anschließend die Hypothesen seiner in Teil 3 („Limits of Public Interest in Education Policy“, S. 83–142) dargelegten empirischen Analyse zu entwickeln. Hypothesen, die der Autor anhand quantitativer und inhaltlicher Analysen der „front-page coverage“ der größeren Tageszeitungen vierer Länder (Frankfurter Allgemeine Zeitung, The Times, New York Times und Le Figaro) zwischen 1900 und 1909 sowie zwischen 1950 und 2004 prüft. Weymann geht also davon aus, dass der in diesen Zeitungen offenbarte „öffentliche Diskurs“ (S. 80) den Wandel des Erziehungsstaates widerspiegelt. Und obwohl der Autor in Teil 2 in Bezug auf die letzten Jahrzehnte eigentlich von einer Art Verfallsthese ausgeht, besagen seine Hypothesen, dass a) Zeitungen das Erziehungswesen wegen dessen politischen, ökonomischen und nationalstaatlichen Implikationen stets als prominentes Thema portieren, dabei b) im Zuge der Globalisierung internationalen Aspekten immer mehr Gewicht schenken und c) politisch relevante Aspekte gegenüber rein pädagogischen oder humanistischen priorisieren. Nach der Analyse verwirft Weymann seine ersten zwei Hypothesen. Er stellt nämlich fest, dass das Erziehungswesen während seines Untersuchungszeitraums immer weniger prominent vorkommt, und dass insbesondere die Thematisierung der internationalen Dimension schwindet. Dieses Ergebnis erklärt der Autor einerseits damit, dass sich die Bedeutung des Erziehungswesens für die Positionierung von Staaten auf dem internationalen Parkett veränderte: „Throughout the twentieth century, the education state was transformed from an instrument of victorious nations and empires to the cure-all panacea of polymorphic, semi-sovereign welfare states.“ (S. 141f.) Andererseits kommt er wieder auf seine Verfallsthese zurück, wenn er feststellt, dass die an das Allheilmittel gestellten Erwartungen immer wieder gebrochen wurden und man diese Desillusionierung in der schwindenden medialen Berichterstattung wiederfinde. Spannende Ergebnisse liefert der Autor, indem er auf die jeweiligen Besonderheiten der vier medialen Diskurse zum Erziehungswesen eingeht. Der vierte Teil („From Western to Non-Western Globalization“, S. 145–164) dient der Darlegung der Hauptthese des Autors, nämlich: Die Bedeutung der Erziehung wächst in aufstrebenden Staaten für diejenigen, die gesellschaftlich aufsteigen. Sie verliert hingegen in denjenigen Staaten, die nicht prosperieren, an öffentlicher Anerkennung und politischem Wert (S. 142).

Weymanns Analyse hätte davon profitiert, wenn seine Prämisse, das Erziehungswesen müsse ausgehend vom staatlichen Kontext verstanden werden, etwas gelockert worden wäre. Er konzipiert nämlich sowohl das Erziehungswesen als auch die Öffentlichkeit als dem Staat gänzlich funktionale und kongruente Systeme; weder wird ihnen eine Eigenlogik zugestanden, noch wird auf die Resistenzen eingegangen, die staatliche Erziehungsprojekte auch immer mit sich brachten und die darauf zurückwirkten. Zwar erwähnt Weymann solche Befunde – beispielsweise wenn er anführt, dass entgegen seinem Modell Humboldt nicht für eine staatliche Erziehung eingestanden sei (S. 33) oder dass die Schulpflicht längst nicht in allen westlichen Staaten einfach durchgesetzt werden konnte (S. 56) –, allerdings diskutiert er deren Bezug zu seiner Grundannahme nicht. Damit finden diese Differenzierungen nicht wirklich Eingang in die Analyse, was es dem Autor erlaubt, Veränderungen der öffentlichen Wahrnehmung des Erziehungswesens gänzlich mit dem (national-)staatlichen Entwicklungsprozess zu erklären. Andere mögliche Argumente, beispielsweise im Zusammenhang mit einer gegenüber staatlichen Zielsetzungen sich verstärkenden Unabhängigkeit des nunmehr institutionalisierten und teilweise autonomen Erziehungswesen des 20. und 21. Jahrhunderts, werden gar nicht in Betracht gezogen.

In diese Falle tappt Kojima nicht. Ihre Arbeit ist nämlich genau einer ausgiebigen Beleuchtung des wandelbaren Verhältnisses zwischen Staat, Öffentlichkeit und Erziehung gewidmet. Anders als Weymann geht Kojima von einem Modell aus, nach dem ihre drei Untersuchungsobjekte unterschiedlichen Dynamiken unterliegen können und ihr Verhältnis zueinander immer wieder kontextuell bedingt neu justiert werden muss. Ihr Anliegen ist es, eine mögliche Justierung dieses Verhältnisses für die neuste Zeit vorzuschlagen, wofür sie dessen synchronen und diachronen Wandel aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die Komplexität ihrer Arbeit ist entsprechend hoch.

Im ersten Teil („Zum Begriff der Öffentlichkeit“, S. 23–84) legt Kojima einen ganzen Fächer an Öffentlichkeitsverständnissen vor, indem sie einerseits den historischen Wandel der Begrifflichkeit aufarbeitet, andererseits die zwei theoretischen Zugänge darlegt, anhand derer sie im zweiten Teil („Zur Systematisierung des Wechselverhältnisses von Erziehung und Öffentlichkeit“, S. 85–104) ihren analytischen Rahmen entwickelt: die „ideal-normative Perspektive“ und die „differenzierungstheoretische Perspektive“.

Den Ursprung Ersterer führt Kojima auf das klassische liberale Demokratieverständnis zurück, dessen Entwicklungen und Nuancierungen sie vornehmlich anhand der Positionen Habermas’ und Arendts sowie ihrer erziehungswissenschaftlichen Reflektion durch Jürgen Oelkers expliziert. Erziehung gilt darin mit Bezug auf Aufklärung, Staatlichkeit und kapitalistischer Wirtschaft als Voraussetzung für Öffentlichkeit und damit für die Demokratie selbst. Diese Perspektive, so stellt die Autorin fest, hält für zeitgenössische stark differenzierte Gesellschaften „keine ausreichende Lösung“ zur Aufgabenbestimmung der Erziehung und ihrer Öffentlichkeit bereit (S. 72). Diese „Lücke“ normativer Ansätze könne „mit der differenztheoretischen Beschreibung deskriptiv gefüllt werden“ (S. 74), womit Kojima ihren zweiten analytischen Zugang einleitet, der vorderhand auf die Luhmannsche Systemtheorie und deren kommunikationswissenschaftlichen Weiterentwicklungen basiert. Aus dieser Perspektive wird Öffentlichkeit als „Scharnierstelle“ verstanden, als Ort, an dem gegenseitige Bezugnahmen und Bedürfnisse der verschiedenen selbstreferenziellen Teilsysteme komplexer Gesellschaften zusammenkommen – wie beispielsweise der Politik oder des Erziehungssystems (S. 77).

Diese zwei Zugänge dienen Kojima als Voraussetzung, um im dritten Kapitel („Die Erziehung im Wandel der Öffentlichkeit“, S. 105–178) Erziehung strukturell in den Wandel der (westlichen) Öffentlichkeit von der Antike bis zum Sozialstaat einzubetten und um diesen Wandel in Kapitel 4 (S. 179–218) am „entfernten Beispiel“ Japan mit einer unterschiedlichen Entwicklung der Verhältnisbestimmung zwischen Staat, Öffentlichkeit und Erziehung zu kontrastieren. Zuletzt („Zum aktuellen Stand der Öffentlichkeit der Erziehung“, S. 213–246) diskutiert Kojima derzeitige Herausforderungen dieser beiden geographischen Kontexte. Die Gegenwart charakterisiert sie durch das Erstarken der massenmedialen Öffentlichkeit sowie den Neoliberalismus, der paradoxerweise sowohl einen Rückzug des Staates aus gewissen „privaten“ Sphären, als auch seine Verstärkung in Bezug auf die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts fordert. Sie stellt fest, dass „die Grenzen zwischen (National-)Staat, Öffentlichem und Privatem“ verschmelzen und darum der Erziehung, aus der „ideal-normativen Perspektive“ betrachtet, „die Funktionslosigkeit droht“ (S. 222).

Damit kommt Kojima in ihrem „Resümee“ (S. 247–261) wieder an den Ausgang ihrer Arbeit zurück. Sie plädiert dafür, Erziehung von normativ aufgeladenen „antagonistischen Ordnungsschemata“ zu lösen, sie nicht entweder dem Privaten oder dem Öffentlichen, entweder dem Staat oder der Gesellschaft zuzuordnen. Dadurch, so Kojima, könne Erziehung aus dem widersprüchlichen traditionellen liberalen Verständnis gelöst, in „ihrer Rolle als aktiver Teil der demokratischen Gesellschaft“ gestärkt und als Teil der multiplen zeitgenössischen Öffentlichkeiten „aktiv“ situiert werden (S. 260). Zusammen mit ihrem aufschlussreichen Beitrag zum theoretischen Verständnis der Öffentlichkeit der Erziehung liefert die Autorin damit auch Ansätze für ein mögliches, auf zeitgenössische Herausforderungen angepasstes „Programm der demokratischen Erziehung“, wie sie Honneth in der zeitgenössischen Literatur vermisst.

Anmerkungen:
1 Axel Honneth, Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), S. 429–442.
2 Vgl. bspw. die differenzierte Darstellung dieses Verhältnisses in Andy Green, Education and State Formation. The Rise of Education Systems in England, France and the USA, London 1990.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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