A. Jaeger u.a. (Hrsg.): Den Protest regieren

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Titel
Den Protest regieren. Staatliches Handeln, neue soziale Bewegungen und linke Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren


Herausgeber
Jaeger, Alexandra; Kleinschmidt, Julia; Templin, David
Erschienen
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Häberlen, Department of History, University of Warwick

Die Geschichte von Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, besonders während der „langen“ 1970er-Jahre, kann als relativ gut erforscht gelten. Zahlreiche Monographien und Sammelbände widmen sich unterschiedlichen Aspekten dieses Themas, den Studentenprotesten um 1968 ebenso wie den verschiedenen neuen sozialen Bewegungen, der Umweltbewegung oder der Jugendzentrumsbewegung, schließlich dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion und dem „Deutschen Herbst“ 1977.1 Über die Reaktionen staatlicher Institutionen auf diese Protestbewegungen wissen wir demgegenüber weniger. Aus Sicht staatlicher Akteure bedeutete der Widerstand gegen Großprojekte wie etwa neue Atomkraftwerke, dass das Land zunehmend „unregierbar“ werde. Auf den Protest zu antworten, ihn zu steuern oder zu unterdrücken, ihn mithin zu „regieren“, wurde daher zu einer zentralen Herausforderung für den Staat.

Diesem Thema widmet sich der von Alexandra Jaeger, Julia Kleinschmidt und David Templin herausgegebene Band, der auf eine Tagung im November 2014 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zurückgeht.2 Der Umgang mit Protestbewegungen bietet ein lohnendes Untersuchungsfeld, um danach zu fragen, inwieweit die These einer „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik trägt und in welchem Maße sich demgegenüber autoritäre Tendenzen beobachten lassen. Dabei zeigt sich, kaum überraschend, dass das Paradigma einer Fundamentalliberalisierung für sich genommen zu einseitig ist. Vielmehr belegen die Beiträge, je nach spezifischem Kontext, eine Kombination aus „vor allem auf gesellschaftlicher Ebene wirksamen Liberalisierungstendenzen, neuen Formen restriktiver bis repressiver Bearbeitung eines als ‚extremistisch’ eingestuften Protests und gezielter Förderung ‚alternativer Projekte’, die seit Ende der 1970er Jahre immer weniger auf Konfrontation mit staatlichen Stellen setzten“ (so Templin und Kleinschmidt in der Einleitung, S. 44).

Integrative Reaktionen auf den Protest lassen sich am ehesten im Bereich der Jugendhilfe feststellen (Sven Steinacker) sowie in städtischen Antworten auf Forderungen nach selbstverwalteten Jugendzentren (David Templin). Im Gefolge der Proteste um 1968 entwickelten sich Initiativen von in der Jugendhilfe tätigen Sozialarbeiter/innen. Diese kritisierten eine „Kultur der Repression“ (Steinacker, S. 49), die vielerorts Jugenderziehungsanstalten prägte. Gleichzeitig entwickelten sie alternative Konzepte, in deren Mittelpunkt offene Wohngruppen und die Einbindung der Jugendlichen in Entscheidungsprozesse standen. Überschritten solche Initiativen gesetzliche Grenzen, etwa bei Häuserbesetzungen, so hatten sie mit Repressionen zu rechnen; Sozialarbeiter/innen, die sich mit den Besetzer/innen des Georg-von-Rauch-Hauses in West-Berlin solidarisiert hatten, drohte beispielsweise die Entlassung. Andererseits wurde Kritik durchaus aufgenommen und selbst radikale Konzepte konnten teilweise auf staatliche Förderung hoffen. Repressive Ansätze standen somit neben Formen der Kooperation, die aber, so Steinacker, dazu beitrugen, „die Zugriffs- und Steuerungsmöglichkeiten gegenüber den alternativen Projekten“ zu erhöhen, und damit die Bewegung langfristig ausbremsten (S. 73). Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der Fallstudie zur Jugendzentrumsbewegung in Hannover. In seiner detailreichen und nuancierten Analyse zeigt Templin, dass die dortige städtische Verwaltung bereit war, in einen Dialog mit den Jugendlichen zu treten und einige ihrer Forderungen zu erfüllen. Allerdings kannte diese Kompromissbereitschaft auch Grenzen, etwa wenn Jugendliche Hausbesetzungen durchführten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, oder wenn sie weitere Jugendzentren über genehmigte „Modellversuche“ hinaus forderten.

Ein deutlich repressiverer Staat tritt in Uwe Sonnenbergs Text zur strafrechtlichen Verfolgung „subversiver“ Literatur sowie in Alexandra Jaegers Untersuchung zum Radikalenbeschluss auf. Sonnenberg zeichnet die Geschichte der §§88a und 130a StGB nach, mit denen die Befürwortung von oder Anleitung zu Straftaten sanktioniert wurde. In der Praxis dienten die Paragraphen meist dazu, Ermittlungen gegen den linken Buchhandel oder gegen linke Verleger zu legitimieren. Zwar kam es kaum zu Verurteilungen, aber die regelmäßigen Hausdurchsuchungen von linken Buchläden hatten dennoch eine einschüchternde Wirkung. So trugen sie zur „Entfremdung der jungen kritischen Intelligenz von der Sozialdemokratie“ bei – und, wie man hinzufügen kann, von den Institutionen des demokratischen Staates generell (S. 121).3 Angesichts der geringen Verurteilungszahlen wurden die genannten Paragraphen bereits 1981 wieder gestrichen. Darin aber den Beweis einer Liberalisierung zu sehen, ginge nach Sonnenberg fehl, denn schon zum 1. Januar 1987 wurde §130a in neuer Fassung wieder eingeführt, vermutlich in Reaktion auf ein in der „taz“ abgedrucktes fiktives Interview. „Innerhalb von 40 Jahren normalisierte sich […] ein Recht, das noch Mitte der 1970er Jahre vom Ausnahmerecht her bestimmt worden war“, so Sonnenberg zusammenfassend (S. 121). Ähnlich repressiv trat der Staat mit dem Radikalenerlass in den 1970er-Jahren auf, wie Jaeger am Beispiel Hamburgs gekonnt zeigt. Eine letztlich vom Bundesverfassungsgericht abgesegnete Interpretation des Beamtenrechts ermöglichte es, Mitglieder der DKP, einer nicht verbotenen Partei, aus dem Staatsdienst zu entlassen bzw. gar nicht erst einzustellen. Damit wurde die „Treuepflicht“ von Beamt/innen gegenüber dem Staat höher bewertet als ein „Parteienprivileg“, demzufolge die Mitgliedschaft in einer zugelassenen Partei einer Tätigkeit als Beamtin oder Beamter nicht entgegenstehen könne. Jaeger sieht in dieser Rechtsauslegung eine „Entliberalisierung“ im Vergleich mit den 1960er-Jahren, die erst mit einer Abwendung von der Praxis der Berufsverbote 1978/79 rückgängig gemacht wurde.4

Weitere Aufsätze behandeln die Auseinandersetzungen um die Atomkraftwerke in Wyhl, Brokdorf und Seabrook (Dolores L. Augustine), den „Machtkampf um die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf“ (Janine Gaumer), das Verhältnis von Friedensbewegung und zivilem Luftschutz in der Bundesrepublik und in Großbritannien (Martin Diebel) sowie Proteste gegen Abschiebung und deren je nach Bundesland unterschiedliche Erfolge Anfang der 1980er-Jahre (Julia Kleinschmidt). Augustine hebt hervor, welchen Unterschied es machen konnte, ob lokal verankerte Polizisten einen Einsatz leiteten, wie in Wyhl, wo die Staatsmacht sich zurückhielt und letztlich eine Besetzung des Bauplatzes des geplanten AKW zuließ, oder ob der Einsatz von Kräften ohne lokalen Bezug geleitet wurde, was wesentlich zu einer Eskalation wie in Brokdorf beitrug. Gaumer wiederum zeigt, welche Rolle Lokalpolitiker spielten, die einerseits gewählt waren und somit die Interessen der lokalen Bevölkerung vertraten, andererseits aber eine Funktion in der Exekutive hatten und damit dem Innenministerium unterstellt waren. Auch Gaumer betont eher entliberalisierende Tendenzen. Die in Bayern regierende CSU zeigte sich kaum dialogbereit und verfolgte stattdessen eine Gesetzgebung, die es dem Innenministerium erlauben würde, sich über Widerstände lokaler, gewählter Beamter hinwegzusetzen – eine Gesetzgebung, die immer noch in Kraft ist.

Insgesamt bieten die Beiträge des Bandes detaillierte Einblicke in die Reaktionsweisen staatlicher Stellen auf linke Protestbewegungen (Protest von rechts wird, wie so oft, nicht beleuchtet) während der 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Als durchgängig liberal lassen sich diese Reaktionen, wie die Autorinnen und Autoren eindrucksvoll zeigen, sicher nicht bezeichnen; aber ebensowenig lässt sich von einem ausschließlich repressiv agierenden Staat sprechen. Die Aufsätze sind durchweg instruktiv und zeichnen in der Gesamtschau ein differenziertes Bild von Versuchen, den Protest zu „regieren“. Für die Einleitung hätte man David Templin und Julia Kleinschmidt ein wenig mehr intellektuelle Courage gewünscht. Anstatt seitenlang den Forschungsstand zu referieren (was für Leser/innen aber auch hilfreich sein kann), wäre eine stärkere Thesenbildung nützlich gewesen. Schließlich irritiert der vorrangig deutsche Blick auf die Forschungsliteratur, und dies nicht nur in der Einleitung. Die umfangreiche englischsprachige Forschungsliteratur zum Thema wird abgesehen von wenigen Ausnahmen schlicht ignoriert, etwa Karrin Hanshews Buch über den „Deutschen Herbst“ und den staatlichen Umgang mit Terror, der letztlich zu einer Demokratisierung beigetragen habe.5 Dass deutsche Geschichte nicht nur auf Deutsch geschrieben wird, sollte eigentlich keiner Erwähnung bedürfen.

Anmerkungen:
1 Siehe nur die bei Berghahn veröffentlichten, alle über die Bundesrepublik hinausreichenden Bände: Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies (1960–1980), New York 2006; Belinda Davis u.a. (Hrsg.), Changing the World, Changing Oneself. Political Protest and Collective Identities in West Germany and the U.S. in the 1960s and 1970s, New York 2010; Timothy Brown / Lorena Anton (Hrsg.), Between the Avant-Garde and the Everyday. Subversive Politics in Europe from 1957 to the Present, New York 2011; Martin Klimke / Jacco Pekelder / Joachim Scharloth (Hrsg.), Between Prague Spring and French May. Opposition and Revolt in Europe (1960–1980), New York 2011; Samantha Christiansen / Zachary Scarlett (Hrsg.), The Third World in the Global 1960s, New York 2012; Joachim C. Häberlen / Mark Keck-Szajbel / Kate Mahoney (Hrsg.), The Politics of Authenticity. Countercultures and Radical Movements across the Iron Curtain (1968–1989), New York 2019.
2 Siehe auch den Tagungsbericht von Jochen Molitor, in: H-Soz-Kult, 03.03.2015, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5852 (04.03.2019).
3 Sonnenberg zitiert dazu Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenrevolution sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478, hier S. 468, http://library.fes.de/jportal/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00021400/afs-2004-449.pdf (04.03.2019).
4 Die Monographie der Autorin ist für Mai angekündigt: Alexandra Jaeger, Auf der Suche nach „Verfassungsfeinden“. Der Radikalenbeschluss in Hamburg (1971–1987), Göttingen 2019.
5 Karrin Hanshew, Terror and Democracy in West Germany, Cambridge 2012; siehe dazu die Rezension von Gabriele Metzler, in: H-Soz-Kult, 04.07.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20154 (04.03.2019).