H. Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs

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Titel
Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege


Autor(en)
Volkmann, Hans-Erich
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Henning Hahn, Emeritus, Abteilung Osteuropäische Geschichte, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Für die drei Teilungsmächte Polens – Preußen (ab 1871 Deutsches Reich), Habsburger Reich und Russisches Reich – bedeutete in den 123 Jahren der Nichtexistenz eines unabhängigen polnischen Staats Polenpolitik stets zweierlei: zum einen innenpolitisch die staatliche Politik gegenüber der polnischen Minderheit im eigenen Land sowie die Behandlung der vormals polnischen Gebiete, also des eigenen Teilungsgebiets; zum anderen außenpolitisch der Umgang mit der polnischen Frage als europäischem Problem angesichts der ständigen Bemühungen von Teilen der polnischen Gesellschaft in allen Teilungsgebieten, einen souveränen Staat Polen wiederherzustellen. Diesem doppelten Verständnis davon, was unter Polenpolitik zu verstehen ist, wird Hans-Erich Volkmann nicht nur in all seinen Kapiteln gerecht, sie stellt auch die zentrale Aussage seiner Untersuchung dar.

Auf den ersten Blick kann man den Eindruck gewinnen, es handele sich um zwei Bücher: Die Kapitel I–VIII (bis S. 236) behandeln die Zeit 1871–1914, die zweite Hälfte des Buches, Kapitel IX–XIII (229 Textseiten), die Polenfrage während des Ersten Weltkriegs. Die darstellerische Intensität des zweiten Teils ist zweifellos auf die langjährige Tätigkeit des Autors am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 1971–1993 in Freiburg, 1993–2003 als dessen „Leitender Historiker“ in Potsdam zurückzuführen. Doch wäre der angedeutete Eindruck oberflächlich – denn als die überragende Leistung dieser Synthese der deutschen Polenpolitik vor 1918, zusammenfassend und doch sehr detailliert schildernd, ist gerade die Gleichgewichtigkeit der beiden genannten Aspekte von Polenpolitik ohne gegenseitige Aufrechnung zu verstehen.

Aus Hans-Erich Volkmanns Ansatz ergibt sich nicht selten eine Verlagerung von Schwerpunkten. So erscheint beispielsweise Bismarck hier weniger als der geschickte Taktierer der Macht, der innenpolitisch mit der Konstruktion von ‚Reichsfeinden’ die Konstitutionalisierung Preußens und des Kaiserreiches zu verhindern und außenpolitisch die Folgen der durch die Reichseinigung entstandenen deutschen Hegemonie in Europa einzuschränken suchte, sondern als nationaler Gesinnungspolitiker. Damit wendet sich der Autor gegen einen Großteil der bisherigen Bismarckliteratur: Es gehe eben nicht nur darum, dass Bismarck lediglich Haltung und Tätigkeit des polnischen Adels und Klerus als staatsgefährdend angesehen habe, sondern um ein „tief wurzelndes politisches Misstrauen, gepaart mit Kulturdünkel und ethnischen Vorurteilen sowie einem völkisch geprägten Nationalstaatsverständnis. […] Bismarck besaß vielmehr auch ausgeprägte Ressentiments. Diese beruhten auf einem ethnisch und kulturell begründeten Überlegenheitsgefühl […]“ (S. 38). Auch die Polenpolitik der Nachfolger Bismarcks wird ähnlich zweigleisig behandelt. Der in der Fachliteratur schon behandelte Unterschied Caprivis zur Bismarckschen Politik wird gut auf den Punkt gebracht, ebenso danach die Bülowsche ‚Wende’. Dabei werden außenpolitische Aspekte stärker betont als zuvor.

In seiner Einleitung betont Volkmann, seine Untersuchung sei „deutschlandzentrisch“ (S. 13) orientiert. Das entspricht der Fragestellung des Buches. Nichtsdestoweniger behandelt er ausführlich die diversen Ansätze von Selbstorganisierung in der polnischen Gesellschaft in Posen und Westpreußen. Diesem von Ludwig Bernhard schon 1907 als „das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat“ bezeichneten Vorgang widmet er sein ausführliches Kapitel „Polnische nationale Selbstbehauptung“. Trotz des unleugbaren Erfolgs der polnischen Seite, sich gegen die preußische sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Diskriminierungspolitik zur Wehr zu setzen und mit dem Aufbau eines polnischen Genossenschaftswesens sowie eines eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Organisationsnetzes der preußischen Politik zu widerstehen, wird diese Auseinandersetzung nicht als Volkstumskampf zweier gleicher Gegner geschildert. Dass hier der preußisch-deutsche Staat mit seinen repressiven Schul- und Sprachgesetzen sowie seiner Enteignungs- und Ansiedlungspolitik die offensive Seite darstellte, gegen die sich die polnische Gesellschaft defensiv zu Wehr setzte, durchzieht die gesamte Darstellung.

Dem Vorwurf einer bloß gouvernementalen Darstellung der Polenpolitik des Kaiserreichs, wie es der Titel insinuieren könnte, entgeht der Autor, indem er immer wieder auf den deutschnationalen und damit zugleich antipolnischen Diskurs der deutschen Gesellschaft verweist. Das betrifft sowohl einzelne Autoren (Treitschke, Eduard von Hartmann, Max Weber unter anderem) wie auch einflussreiche Organisationen wie den Alldeutschen Verband und den Deutschen Ostmarkenverein. Das umfassende Bild antipolnischer Agitation und Politik, die sowohl die staatliche Politik als auch die gesellschaftliche und intellektuelle Atmosphäre im Kaiserreich bestimmten, macht deutlich, wie folgenreich es war, dass man mit einer nationalen Minderheit nicht zusammenzuleben bereit war. Insofern ist es verständlich, wenn Volkmann schon in seiner Einleitung schreibt, seine Untersuchung sei „letztlich perspektivisch auf die NS-Zeit und ihre Folgen für die Gegenwart ausgerichtet“ (S. 14). Er nimmt damit eine nicht häufig in dieser Eindeutigkeit anzutreffende Haltung zur Kontinuitätsfrage ein. Der Weg von Bismarck zu Hitler, vom Kaiserreich zum Dritten Reich ist gerade und direkt, zumindest was Polenpolitik, völkische Ideologie, wachsender Rassismus sowie imperiale und koloniale Haltung gegenüber Osteuropa angehen.1 Dieser immer wieder erwähnten Problematik widmet der Autor unter dem Titel „Vom National- zum Rassenstaat: Vorzeichen“ ein eigenes Kapitel.

Die Ambivalenz des Untertitels „Prolog zum Zeitalter der Weltkriege“ wird hier deutlich. Zum einen wirkt er verharmlosend, wenn man bedenkt, dass sich 50 Prozent des Textes mit dem Ersten Weltkrieg befassen. Zum anderen betont er aber die Kontinuitätsfrage als den eigentlichen Kern der Interpretation. Der Stellenwert der Polenpolitik des Kaiserreichs ergibt sich für Volkmann erst aus der Rolle für die Folgezeit bis hin in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob die Vokabel „Prolog“ hier wirklich optimal ist, mag dahingestellt bleiben; man kann aber dem Autor nicht vorwerfen, dass er mit dieser Akzentuierung hinter dem Berg halte. Damit stellt er sich, inzwischen 80jährig, gegen seinen akademischen Lehrer, den Osteuropahistoriker Gotthold Rhode (1916–1990), bei dem er promovierte und habilitierte. Gerade Rhode hat immer die Kontinuität von Bismarckscher Polenpolitik, Zweitem Weltkrieg und Vertreibung sowie Verlust der deutschen Ostgebiete zu leugnen versucht. Volkmann distanziert sich aber nicht expressis verbis von Rhode, ja möglicherweise ungewollt folgt er ihm nicht selten in der Wortwahl – in seiner Sprache finden sich manche Formulierungen („Deutschtum“, „Polentum“, „expansionistische slawische Völkergemeinschaft“, „vom Panslawismus infizierter Raum“ „zwischenvölkische Verbundenheit“), die aus der Tradition des ‚Volkstumskampfes’ stammen, als solche aber nicht gekennzeichnet werden.

Den Kenner der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte stören einige Details, wenn es um die Vorgeschichte der Polenpolitik des Kaiserreichs geht. Das betrifft einige kleinere Fehler2; vor allem aber führt die Nichtberücksichtigung der preußischen Polenpolitik 1815–1870 zu falschen Geschichtsbildern. Das Buch setzt mit Bismarck ein, als ob er der Erfinder der negativen preußischen Polenpolitik gewesen sei. Dabei wird einiges unterschlagen. Eduard von Flottwell (1786–1865) verwirklichte 1830–1841 als Oberpräsident des Großherzogtums Posen als erster eine gezielte Germanisierungspolitik mit restriktiven Sprach- und Schulverordnungen sowie mit der Gründung eines Fonds, um polnische Güter aufzukaufen und an Deutsche weiterzuverkaufen. Obendrein verschärfte er den Mischehenstreit 1838–1841 mit der katholischen Kirche bis zu Verhaftung des Posener Erzbischof Marcin Dunin (1774–1842). Bismarck hatte also in einzelnen Schritten seiner Polenpolitik ein Vorbild in einem der prominentesten Verwaltungsfachleute Preußens, ein Umstand, den der Autor leider nirgends erwähnt. Die polnische „organische Arbeit“ setzt nach Volkmann erst nach der Niederlage des Januaraufstand von 1863 ein (S. 160) – hier wird übersehen, dass schon zuvor der Arzt Karol Marcinkowski (1800–1846) seit den 1830er-Jahren sich in Posen um eine „Arbeit von den Grundlagen“ („praca od podstaw“) bemüht und entsprechende Organisationen gegründet hatte. Nach der Niederlage der 1848er-Revolution setzten die Posener Polen auf zivile Selbstorganisierung und gründeten die Liga Polska, die zwei Jahre später von den preußischen Behörden verboten wurde. Auch die Strategie der nationalen zivilen Selbstorganisierung war also älter als die Bismarckzeit. So ist bedauerlicherweise sowohl die preußische wie die polnische Vorgeschichte in Volkmanns Darstellung fehlerhaft.

Ein Teil des Buches entstand offensichtlich aus früheren Texten. Nur so lassen sich eine Reihe vermeidbarer Redundanzen erklären. Auch das Literaturverzeichnis erstaunt etwas – eine Darstellung preußischer Polenpolitik, ohne dass auch nur ein Titel von Klaus Zernack genannt wird, kann wohl nur auf einem Versehen beruhen; es sei denn, der Autor hätte das gespannte Verhältnis seines Lehrers Rhode zu Zernack geerbt…

Die erwähnten Ungenauigkeiten zur Vorgeschichte sowie kleinere Kritikpunkte sind angesichts der Gesamtleistung dieser Synthese leicht zu verschmerzen. Manche Leser werden vor allem an der Geschichte der Polenfrage im späten 19. Jahrhundert und deren späteren Kontinuitäten Gefallen finden. Andere werden möglicherweise an der Polenfrage während des Ersten Weltkriegs interessiert sein – sie erhalten eine Politikgeschichte der Ostfront, einschließlich der Besatzungspolitik in Polen, die erst das Geschehen jenseits der bloßen Militärgeschichte verständlich macht, einschließlich der Auseinandersetzungen zwischen Reichsregierung, kaiserlichem Hof und OHL sowie zwischen Berlin und Wien. Für Bethmann Hollweg war nach Volkmann das russische Teilungsgebiet Polens lediglich ein mögliches Austauschobjekt für einen deutsch-russischen Sonderfrieden. Wieder andere wird die Verflochtenheit von Polenpolitik im Innern und der Reichsaußenpolitik 1871–1914 fesseln; ihnen wird in Kombination mit dem antislawischen und antisemitischen deutschen Nationaldiskurs ein um diese Facetten bereichertes Bild des Kaiserreichs geboten. Insofern hat Hans-Erich Volkmann (* 1938) ein Werk vorgelegt, dessen Wirkung ihn überdauern wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. die kürzlich erschienene Arbeit von Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des deutschen Kaiserreichs von 1871, Paderborn 2018.
2 Der Arzt Karol Marcinkowski starb am 6.11.1846, er konnte also kaum an der Revolution von 1848 beteiligt sein (S. 173); während des polnischen Januaraufstands im russischen Teilungsgebiet 1863 herrschte in Russland nicht Zar Alexander I. (S. 31), sondern Alexander II; der Moabiter Polenprozess 1847 war nicht die Folge des Krakauer Aufstands von 1846 (S. 24f.), sondern eines Aufstandsplans in Posen – die Posener Verschwörer wurden am 12. 2. 1846 von der preußischen Polizei verhaftet, der Aufstand in Krakau brach erst am 21./22.2.1846 aus.