G. Voßgröne: Johann Carl Bertram Stüve

Cover
Titel
Johann Carl Bertram Stüve 1798–1872. Ein untypischer Bürger


Autor(en)
Voßgröne, Gabriele
Reihe
Westfalen in der Vormoderne 26
Erschienen
Münster 2016: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heide Barmeyer, Universität Hannover

Johann Carl Bertram Stüve ist neben Justus Möser der wohl bekannteste Sohn der Stadt Osnabrück. Über beide ist viel geforscht und veröffentlicht worden. Insbesondere über den Politiker und Historiker Stüve, was entscheidend mit dem starken historischen Interesse der Familie zusammenhängt. Denn wie er selbst haben sich Familienangehörige und Verwandte intensiv mit der Stadtgeschichte und dem Anteil der Familie an ihr beschäftigt, Quellen publiziert und sich für Erinnerungspflege in Osnabrück eingesetzt. So gibt es bis heute den 1921 gegründeten Verein der „Familie Stüve“ in Osnabrück, der ein eigenes Nachrichtenblatt herausgibt.1

Nun eine neue Darstellung des gesamten Lebens Stüves? Nein, der Autorin geht es, wie der Untertitel ihrer Untersuchung andeutet, um einen besonderen Zugang zur Person Stüves. Sie sieht in ihm einen „untypischen Bürger“ und konzentriert sich auf das, was sie für seine Prägephase in den Jahren zwischen 1817 und 1833 hält.

Die Untersuchung von Gabriele Voßgröne wurde im Wintersemester 2014 als Dissertation am Fachbereich Kultur- und Geowissenschaften der Universität Osnabrück angenommen. Sie wurde betreut von Siegrid Westphal, die ihr Augenmerk besonders auf die Geschlechter- und Institutionengeschichte richtet. Die Herrenteichlaischaft Osnabrück – eine seit dem Spätmittelalter aus der Selbstverwaltung westfälischer Städte, vor allem Münster und Osnabrück, hervorgegangene Vereinigung – , die seit 1993 einen Preis für Kultur- und Rechtsgeschichte des Osnabrücker Raumes vergibt, zeichnete die Arbeit aus, und zur Veröffentlichung wurde sie schließlich als Band 26 in die Reihe „Westfalen in der Vormoderne“ aufgenommen. Die Unterstützung und Anerkennung, die sich in diesen Hinweisen ausdrücken, weisen auf die besondere Fragestellung und den räumlichen und zeitlichen Bezug hin.

Einen ersten Eindruck über den besonderen Zugriff Voßgrönes erhält man, wenn man sich die rein quantitative Gewichtung im Aufbau ansieht: Etwa ein Drittel der gesamten Arbeit entfällt auf die Einleitung im Kapitel I, in dem es um Begriffsgeschichte und den Forschungsstand zum Bürgertum, um das methodische Vorgehen und um die Quellen insbesondere Briefe als Selbstzeugnisse geht.

Kapitel II, 30 Seiten, ist dann der Patrizierfamilie Stüve seit dem Spätmittelalter, den Geschwistern gewidmet und auf nur sechs Seiten wird das Leben des eigentlichen Protagonisten skizziert. Erst das Kernkapitel III mit 90 Seiten wendet sich intensiv Johann Carl Bertram Stüve selbst unter der Überschrift „Bürgerlicher Wertehimmel“ zu. Eine kurze zusammenfassende Schlussbetrachtung, ein Anhang, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und der Stammbaum der Familie Stüve seit 1568 runden den Band ab.

Schon aus diesem Angaben lässt sich ersehen, dass es der Autorin insbesondere darum geht, ihren Stüve als pars pro toto für einen Bürger der sogenannten „Sattelzeit“ darzustellen. Um ihr eigenes Vorgehen forschungsgeschichtlich einzuordnen, gibt sie einen ziemlich lückenlosen Durchgang durch die Bürgertumsforschung seit Werner Conze, Hans-UlrichWehler, Lothar Gall, Jürgen Kocka, Ute Frevert bis zu jüngeren Arbeiten. Die Autorin versäumt es auch nicht, die stadtgeschichtliche Forschung zu Osnabrück kenntnisreich darzulegen. Auch methodischen Fragen einer modernen, wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Biographie geht sie sehr grundsätzlich nach, erörtert den Diskussionsgang um die Berechtigung von historischen Biographien in den letzten Jahrzehnten und setzt sich ebenso prinzipiell mit dem Brief als Quelle und Selbstzeugnis auseinander. Schließlich entscheidet sie sich, Pierre Bourdieus kultursoziologische Begrifflichkeit als Kategorienrahmen ihrem Gegenstand zugrunde zu legen; d.h. sie verwendet Bourdieus Begriff von Habitus und Kapital, der wiederum in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital ausdifferenziert wird.

Kapitel II – die Patrizierfamilie und ihr Habitus – geht von der Voraussetzung aus, dass Familie, für seit dem Spätmittelalter aufsteigende Patrizier wie den Stüves, von besonderer Bedeutung war. Johann Carl Bertram Stüve selbst, der Junggeselle blieb und keine eigene Familie gründete, wird weniger als Individuum denn als Teil einer familiären Kette gesehen und hat sich zweifellos auch selbst so verstanden.

Erst nach diesen umfangreichen allgemeinen Überlegungen werden diese auf Johann Carl Bertram Stüve angewendet. Was berechtigt, ihn als „untypischen Bürger“ zu bezeichnen? Das Hauptkapitel III ist mit „bürgerlicher Wertehimmel“ überschrieben. Was genau ist darunter zu verstehen und wie kann man das fassen bzw. wie versucht Voßgröne dies zu konkretisieren? Von seiner Herkunft her geprägt und von den übernommenen bürgerlichen Werten Arbeit, Fleiß und Ordnung, bemüht sich Stüve als Student und Berufseinsteiger, seine Position im sozialen Raum zu sichern. Dem dient nach Voßgröne in der Terminologie Bourdieus erstens die Akkumulation kulturellen Kapitals – gemeint sind im Studium erworbene wissenschaftliche Theorien und Inhalte sowie der Kenntnisausbau der „schönen Künste“ durch Theaterbesuche und Klavierspiel. Die Promotion als Studienabschluss wird als Erwerb institutionalisierten Kapitals bezeichnet. Kultur und Geselligkeit als Distinktionsmerkmal schlagen sich in der Mitgliedschaft in Clubs, Lesegesellschaften, Vereinen und Verbänden nieder. Auf allen diesen Feldern entspricht Stüve dem Prototyp Bürger. Allein beim Streben nach Erweiterung seines sozialen Kapitals durch die Eheschließung mit der Schwester seines Freundes Frommann scheitert Stüve. In der Formulierung Voßgrönes: „mit Ausnahme der eigenen Familiengründung“ leistete Stüve „den leitenden Strahlen der ‚Sterne am Wertehimmel‘ Folge“ (S. 208).

Nicht ganz überzeugend ist, dass zu diesen Fragen nur die Jahre 1817–1833 untersucht werden, also die Studienzeit, die 1820er-Jahre in Osnabrück und Hannover, als Stüve noch zwischen einer politischen Laufbahn und Wirken in seiner Heimatstadt schwankte und die allgemein-politisch wichtigen frühen 1830er-Jahre bis zum Krisenjahr 1833, das auch für Johann Carl Bertram Stüve privat eine einschneidende Entscheidung herbeiführte. Gabriele Voßgröne begründet die enge zeitliche Eingrenzung ihrer Untersuchung damit, dass Stüve in diesen Jahren die entscheidende Prägung nach bürgerlichen Verhaltensregeln erfahren bzw. sich für diese entschieden habe. Das kann man so sehen und eine enge Eingrenzung und präzise Fragestellung ist für eine Dissertation allemal angebracht. Gleichwohl wird der interessierte Leser, der Stüves politisches Engagement in für die Geschichte Hannovers so wichtigen Fragen wie der nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und Grundentlastung, beim Konflikt um die Aufhebung des von Stüve mit erarbeiteten Staatsgrundgesetzes 1837, seine Rolle während der 1848er-Revolution und seine Einstellung zur Paulskirchenverfassung und zur kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung kennt, als etwas enttäuschend empfinden, dass dies alles ausgespart bleibt. Man fragt sich, ob nicht gerade auch in diesen eminent politischen Fragen bürgerliche Wertvorstellungen tragend waren und für die Untersuchung ergiebig gewesen wären.

Wenn Gabriele Voßgröne das Untypische im Leben Johann Carl Bertram Stüves vor allem darin sieht, dass er ehelos blieb, so hätte gerade dieser Punkt noch etwas genauer untersucht werden können. Seine Werbung um Allwina Frommann war erfolglos – also hatte er doch selbst durchaus nach Gründung einer eigenen Familie gestrebt. Als sich sein Wunsch zerschlug, lebte er als Junggeselle in der Familie des Bruders, hatte also so etwas wie eine Ersatzfamilie. Gerade bei den historisch und überindividuell in Generationen denkenden Stüves wurde dies durchaus als kompensatorische Lebensform akzeptiert.

Und auch in Osnabrück stieß man sich nicht an Stüves Lebensstil. Er stand in ungebrochenem Ansehen und wurde zweifellos nicht als Sonderling empfunden; zwar ohne eigene Familie und darin für bürgerliche Vorstellungen untypisch, war er doch ganz selbstverständlich und eindeutig in der städtischen Gesellschaft anerkannt und gesellschaftlich integriert und wurde mehrfach zum Bürgermeister gewählt. Gerade wenn der Familienverband und ein Generationen überwölbendes Selbstverständnis typisch für diese Schicht waren, konnte ein bürgerlicher Habitus auch unverheiratet überzeugend gelebt werden und die Weitergabe von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem „Kapital“ im Sinne von Bourdieu auch über den Familienverband erfolgen. Es gab also, wie die Autorin selbst feststellt, in einer Epoche des Übergangs auch nach bürgerlichen Vorstellungen durchaus eine „Pluralität und Vielfalt von Lebensentwürfen“ (S. 220) – was das Untypische denn doch etwas relativiert.

Als Fazit: Es handelt sich um einen anregenden, diskussionswürdigen kultursoziologischen Zugriff auf einen Ausschnitt aus der Biographie des Politikers und Historikers Stüve. Die Konzentration auf die als Prägephase bezeichneten Jahre 1817-1833 im Leben Stüves steht dabei zwangsläufig in einer gewissen Spannung zu der als exemplarisch gedeuteten Charakterisierung als Bürger während der bürgerlichen Formationsphase der Sattelzeit.

Anmerkung:
1 Nachrichtenblatt des Vereins „Familie Stüve“ gegründet 01. Oktober 1921 durch Landgerichtsrat Dr. August Stüve.

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