Titel
Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs


Autor(en)
Gerwarth, Robert
Erschienen
München 2017: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jochen Böhler, Imre Kertész Kolleg Jena

Die historische Forschung zum Ersten Weltkrieg hat sich in der jüngeren Vergangenheit neu erfunden, und das nicht erst mit dem hundertsten Jahrestag seines Ausbruchs und einer medienwirksam durch Christopher Clarks ‚Schlafwandler‘ eingeleiteten Publikationswelle von Größen des Faches zu den Jahren 1914–1918.1 Es ist gerade eine jüngere Generation, die den (lange Zeit vom Zweiten überschatteten) Ersten Weltkrieg für sich entdeckt hat. Für eine internationale und ständig wachsende Expertengemeinschaft publizieren sie etwa Artikel in der 2010 ins Leben gerufenen Zeitschrift ‚First World War Studies‘ der gleichnamigen Gesellschaft oder Monographien in der Serie ‚The Greater War‘ bei Oxford University Press. Während erstere sich durch innovative Studien auch zur Kultur-, Sozial oder Literaturgeschichte des „Großen Krieges“ auszeichnen, hat sich letztere zur Aufgabe gemacht, dessen bisherige Wahrnehmung räumlich und zeitlich zu erweitern. Sie nimmt gezielt auch die Jahre vor 1914 und nach 1918 in den Blick, untersucht den Krieg in bisher eher vernachlässigten regionalen sowie in globalen Zusammenhängen und liefert damit neue Interpretationsansätze.

Im Herbst vergangenen Jahres hat der Herausgeber dieser Serie, der am University College Dublin lehrende Direktor des dortigen ‚Centre for War Studies‘ Robert Gerwarth, selber eine englischsprachige Monographie vorgelegt, die nun pünktlich vor den Zentenarien der Russischen Revolution 1917, des Waffenstillstandes 1918 und der Pariser Vorortverträge 1919 auch auf Deutsch erschienen ist. Der Buchtitel benennt dabei – mit der düsteren Beschwörung eines „blutigen Erbes“ etwas effekthascherischer als die Originalausgabe 2 – bereits die beiden Leitmotive. Im Zentrum der Betrachtung stehen zum einen die Verlierer des Ersten Weltkriegs, wobei Gerwarth hier breiter als üblich ansetzt, zählt er doch zu ihnen neben den Mittelmächten unter anderen auch Italien und Griechenland: Beide befanden sich zwar 1918 bekanntermaßen auf Seiten der Sieger, empfanden den Kriegsausgang jedoch eher als Niederlage, hier aufgrund enttäuschter Gebietsansprüche (Gabriele d’Annunzio prägte dafür den Begriff des „verstümmelten Sieges“ – vittoria mutilata), dort aufgrund des verlorenen Nachfolgekrieges gegen den türkischen Nachbarn (1919–1922). Zum anderen war der „Große Krieg“ für ihn tatsächlich „größer“, denn er endete eben nicht überall, wie hierzulande oftmals angenommen, im November 1918. Das von verschiedenen Wellen paramilitärischer Gewalt heimgesuchte Mittel-, Ost- und Südosteuropa zwischen 1917 und 1923 ist der eigentliche Schauplatz des Buches.

Die Einleitung stellt die beiden zentralen Thesen des Buches vor: Gerwarth relativiert hier George L. Mosses Brutalisierungsthese3, denn er hält die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges für eine nicht hinreichende Erklärung dafür, dass dieser in der Mitte Europas kein Ende finden wollte. Wie wäre es sonst zu verstehen, dass nicht alle vordem kriegführenden Mächte auch nach 1918 noch von Wellen paramilitärischer Gewalt heimgesucht wurden (S. 25)? Zudem schloss sich ein beträchtlicher Teil der Weltkriegsveteranen eben aufgrund der durchlebten Schrecken der Front zu pazifistisch und internationalistisch orientierten Verbänden zusammen, um die Gefahr eines neuen Krieges zu bannen. Andererseits kämpften in den Reihen manch besonders berüchtigter Nachkriegs-Soldateska – wie etwa den deutschen Freikorps im Baltikum – viele junge Männer, die am Krieg selber gar nicht teilgenommen hatten.

Es waren für Gerwarth in erster Linie die Besiegten, die sich mit der neuen Nachkriegsordnung nicht abfinden wollten. Ihre Frustration angesichts der offenbar umsonst gebrachten Opfer und ihr Zorn gegen die angeblich Schuldigen entluden sich in einer brachialen und radikalen Abrechnungsorgie, einem eschatologischen Kampf um Alles oder Nichts. Das unterschied eben auch die Phase des zwar industrialisierten, aber zwischen 1914 und 1918 noch weitgehend konventionell geführten Krieges von seinem „blutigen Ende“. Weiterführend erscheint Gerwarth hierbei Wolfgang Schivelbuschs Konzept einer „Kultur der Niederlage“, die sich nicht nur auf den deutschen Fall, sondern auf alle Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs anwenden ließe (S. 27–28).4

Der Hauptteil des Buches soll diese These nun anhand dreier grenzübergreifender Erfahrungen – Niederlage (I), Revolution und Konterrevolution (II) sowie Imperialer Zerfall (III) – erhärten, die auf die betroffenen Gesellschaften gleichermaßen destabilisierend wirkten. Gerwarths Dreiteilung ist allerdings – obwohl die Kapitelüberschriften etwas anderes erwarten lassen – bei näherem Hinsehen weniger eine thematische als eine chronologische: Kriegsende (I: 1917–1918 mit Russischen Revolutionen; Frieden von Brest-Litowsk; Wende an der Westfront) – Umbruch (II: 1918–1919 mit Freikorpskämpfen im Baltikum; Warlords in Russland und der Ukraine; Revolution und Gegenrevolution in Deutschland, Ungarn, Bulgarien und Italien) – Nachkriegsjahre (III: 1919–1923 mit Pariser Vorortverträgen; Niedergang der Doppelmonarchie und des Osmanischen Reiches; Neuordnung Ostmitteleuropas; ungarischen Gebietsverlusten und enttäuschten italienischen territorialen Hoffnungen; Griechisch-Türkischem Krieg).

Das ist in sich etwas widersprüchlich und sorgt mitunter für Verwunderung. So findet sich die Oktoberrevolution nicht in den Kapiteln II (Revolution und Konterrevolution) oder III (Imperialer Zerfall), sondern im Kapitel I (Niederlage, S. 33–58). Die Entscheidung für das Narrativ entlang der Zeitleiste strukturiert das Buch dennoch klar und schlägt eine Schneise durch die schier unüberschaubaren Nachkriegswirren. Zumindest einem breiteren Publikum, an das dieses Buch sich explizit richtet, wären angesichts seines anspruchsvollen Panoramas Sprünge vor und zurück in der Zeit wohl nicht zuzumuten gewesen. Eine solch umfassende und gut lesbare Gesamtdarstellung der unruhigen Jahre 1917–1923, die auch Kennern der Materie viel Neuland erschließt, ist jedenfalls bisher nicht vorgelegt worden.

Als zentrales Phänomen macht Gerwarth dabei vor allem auf den Territorien der Verliererstaaten und untergegangenen Großreiche eine Radikalisierung, eine Entgrenzung der Weltkriegsgewalt aus, die eine direkte Folge von Krieg, Niederlage, imperialer Apokalypse, vor allem aber Revolution und Gegenrevolution ist. Die alte Welt liegt dort in Trümmern, die neue ist noch nicht erstanden. Während zuvor Staaten miteinander im Konflikt standen, wird der Gegner nun mehr und mehr nach ethnischen und ideologischen Kriterien definiert, wodurch auch Zivilisten – ohne Schonung von Frauen, Kindern und Alten – ins Visier geraten.

Überall kann Gerwarth diese Entwicklung überzeugend nachzeichnen, am deutlichsten aber anhand der in den Russischen Bürgerkriegen ausgeübten symbolischen Gewalt (S. 109–112), dem brutalen Vorgehen deutscher Freikorps im Baltikum (S. 98–103) und sogar im Deutschen Reich selbst (S. 158–160), dem revolutionären und konterevolutionären Terror in Russland (S. 117–118) und Ungarn (S. 180–183) sowie der allerorten zu verzeichnenden antisemitischen Übergriffen (S. 118–121, 185–191, 249). Der Polnisch-Sowjetische (S. 247–248) und der Griechisch-Türkische Krieg (S. 11–14, 289–315) waren zwar Staatenkriege, aber ebenfalls von einem ungewöhnlich hohen Maß an brutaler Gewalt gegen nicht-Kombattanten (Zivilisten und Kriegsgefangene) geprägt.

Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang allerdings aufdrängt, ist die nach der Rolle der von Rogers Brubaker beschriebenen ethnischen nationalizing states6, die sich in das Narrativ der Niederlage nur schwerlich einordnen lassen. Sie werden von Gerwarth im Kapitel III (Imperialer Zerfall) unter den Überschriften „Neuordnung Ostmitteleuropas“ (S. 241–254) und „Von Smyrna nach Lausanne“ (S. 289–315) abgehandelt. Für Polen und Tschechen etwa ist die Kriegsendphase aber nicht mit dem Niedergang der Imperien, sondern als bis heute ungetrübte Erfolgsgeschichte mit der Erringung der Unabhängigkeit verknüpft. Der Autor ist sich darüber selbst im Klaren, wenn er die Zweite Polnische Republik und die Tschechoslowakei als „Siegerstaaten“ bezeichnet (S. 249). Wie sehr sich die Gewalterfahrungen von Siegern und Besiegten ähneln konnten belegt jetzt eine vergleichende Studie zu den Anfangsjahren der Tschechoslowakei und Österreichs, beides Nachfolgestaaten des untergegangenen Habsburgerreiches.7

Was der Autor dagegen mit virtuosen Federstrichen nachzeichnet sind die Verwerfungen eines „erweiterten europäischen Bürgerkriegs“, der Erinnerungen an den Dreißigjährigen Krieg weckt und bisher außerhalb des engen Kreises der Osteuropahistoriker im Westen erstaunlicherweise weitgehend unbeachtet geblieben ist (S. 19). Dieser, und eben nicht der Erste Weltkrieg, ist für ihn die Vorstufe zum Zweiten Weltkrieg, den er als „nicht unvermeidlich, aber folgerichtig“ bezeichnet (S. 325). Die extremsten Formen der Gewalt bis zur Jahrhundertmitte, wie sie Timothy Snyder in ‚Bloodlands‘ so eindrucksvoll beschrieben hat5, gingen eben ganz maßgeblich von den Revolutionären und Konterrevolutionären, den Bolschewisten, radikalen Nationalisten und Faschisten der Jahre 1917–1923 und ihren Nacheiferern aus. Gerwarth verzeichnet bei ihnen zutreffend „die radikale Abkehr von den in Europa seit den Religionskriegen unternommenen Bemühungen, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen weißen Europäern einzuhegen, indem man zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterschied und den Feind als einen iustus hostis (gerechten Feind) entkriminalisierte“ (S. 326).

Wie bei Überblicksdarstellungen solcher Art gar nicht zu vermeiden speist sich das mit vielen Abbildungen illustrierte Buch in erster Linie aus der Sekundärliteratur, allerdings in einer beeindruckenden Bandbreite von zehn Sprachen und immer auf der Höhe des Forschungsstandes, ergänzt durch Egodokumente vor allem aus Nachlässen ehemaliger Freikorpskämpfer. Robert Gerwarth hat hier alles in allem ein packendes und für ein Hardcover diesen Umfangs preiswertes Buch vorgelegt, das zugleich eine äußerst gelungene Zwischenbilanz unter ein Jahrzehnt intensiver Forschung zu paramilitärischer Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg in ihrer Bedeutung für das „Zeitalter der Extreme“ zieht, die er selbst so maßgeblich angestoßen und mitgeprägt hat.8

Anmerkungen:
1 Christopher M. Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013; Oliver Janz, 14. Der große Krieg, Frankfurt am Main 2013; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.
2 Robert Gerwarth, The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917–1923, London 2016.
3 George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993.
4 Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001.
5 Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin 1933–1945, München 2011.
6 Rogers Brubaker, Nationalizing States in the Old ‘New Europe’ – and the New, in: Ethnic and Racial Studies 19 (1996), S. 411–437.
7 Rudolf Kučera, Exploiting Victory, Sinking into Defeat. Uniformed Violence in the Creation of the New Order in Czechoslovakia and Austria, 1918–1922, in: Journal of Modern History 88 (2016), S. 827–855.
8 Robert Gerwarth / John Horne (Hrsg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/