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Titel
Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur


Herausgeber
Willner, Sarah; Koch, Georg; Samida, Stefanie
Reihe
Edition Historische Kulturwissenschaften 1
Erschienen
Münster 2016: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
X, 258 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Tomann, Geschichtskultur, Imre Kertész Kolleg Jena / Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Analyse geschichtskultureller Phänomene und „populärer“ Geschichtsdarstellungen gilt in der geisteswissenschaftlichen Forschung nicht mehr als Randerscheinung.1 Das mag an der schieren Masse und Breite liegen, mit der Geschichte im Alltag präsent ist und immer neue Formen annimmt. Von medial vermittelten Formaten über Mittelaltermärkte bis hin zum Re-enactment als Kunstform oder als nachgespielte historische Schlacht – Geschichte wird von immer mehr Menschen erlebt und konsumiert. Geschichtskulturelle Phänomene entstehen dabei häufig an der Schnittstelle zwischen akademischen und außerakademischen Diskursen; meist sind sie von beiden Wissenskulturen beeinflusst. Ihre Erforschung erweist sich daher als ideales Testgelände für kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich häufig durch integrative und interdisziplinäre Zugänge auszeichnen.

Auch die Herausgeber/innen des Sammelbands setzen sich eine „historisch-kulturwissenschaftliche Analyse und Interpretation“ zum Ziel und zwar für die gesamte Reihe „Edition Historische Kulturwissenschaften“, deren erster Band „Doing History“ ist. Der Titel verweist auf den spezifischen Fokus des Bands: Das „Tun“ impliziert körperliche und multisensorische Modi der Geschichtsaneignung, es geht um Geschichtspraktiken, die jenseits der Vermittlung von Geschichte liegen (S. 2). Diese sinnlichen, auf Körperlichkeit und Emotionalität gründenden Vergegenwärtigungen von Vergangenheit zielen auf Unmittelbarkeit, Intensität und Greifbarkeit, die von den Herausgeber/innen gern mit „Präsenz“ (Hans Ulrich Gumbrecht) umschrieben werden. Eben diese spezifisch sinnlich-emotionalen Geschichtspraktiken seien bislang in der Forschung vernachlässigt worden. Verantwortlich für dieses Defizit machen die Herausgeber/innen eine Fehlstelle in der Theoriebildung innerhalb der deutschsprachigen geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung, die „seit Jahren von den Konzepten ‚Erinnerung’ und ‚Gedächtnis’ überlagert wird und kaum Raum für andere Theoriediskussionen gelassen bzw. diese nicht wahrgenommen hat“ (S. 4). Dieser Einseitigkeit des Erinnerungsdiskurses setzen die Herausgeber/innen in ihrer Einleitung einen gut durchdachten und anregenden Katalog theoretischer Zugänge und erkenntnisleitender Fragen entgegen, der sich entlang der Begriffspaare Körper – Emotionen, Erlebnis – Raum und Ding – Bedeutung aufspannt, die gleichzeitig dem Buch seine Struktur verleihen.

Als übergeordnetes Bindeglied zwischen den thematisch sehr disparaten Beiträgen sehen die Herausgeber/innen eine praxistheoretische Perspektive. Diese fragt, vom Tun ausgehend, etwa nach den Motiven und Motivationen der Akteur/innen, aber auch danach, welche Aushandlungsprozesse stattfinden bzw. welches Wissen über die Vergangenheit im doing history produziert wird. Eine Vielzahl der Beiträge beschäftigt sich mit Re-enactments als grundlegender Form des Nacherlebens bzw. Nachspielens historischer Ereignisse. Der Bezug auf die „Klassiker“ darf dabei nicht fehlen, und so steht das Re-enactment des amerikanischen Bürgerkriegs im Fokus gleich zweier Texte: Wolfgang Hochbruck beschreibt in einer historischen Perspektive, wie sich die Praktiken des Nachspielens über sechs Generationen seit dem Krieg verändert haben. Hochbruck hebt dabei die Rolle der Veteranen als „physical force of agency enacting their own memory“ in der Entstehung und Entwicklung des Civil War Re-enactment hervor (S. 99). Mads Daugbjerg untersucht das Wiederaufführen des amerikanischen Bürgerkriegs aus ethnographischer Perspektive. Seine Erkenntnisse stammen aus teilnehmenden Beobachtungen in den Jahren 2010 und 2013, in denen er sich mit der Rolle von Objekten und Materialien während dem Re-enactment in Gettysburg (Pennsylvania) beschäftigt hat. Daugbjerg diskutiert die Potenziale der Wiederaufführung jenseits von Repräsentation und dem Streben nach Authentizität und kommt zu der Überzeugung, das Re-enactment „has the potential to ‚dig deeper’ than many other modes of history and heritage representation, […] because it includes the sensual, the corporeal and the kinaesthetic“ (S. 167). Zwei weitere Beiträge untersuchen Re-enactments jenseits der historischen Schlachtendarstellung. Anja Dreschkes Fallbeispiel einer hunnischen Hochzeit in der Eifel, das die Autorin als Re-enactment versteht, beschreibt die spezifische Spannung zwischen Schauspiel, Ritual und Spiel. Die Verwirrung der Anwesenden über die Bedeutung der Aufführung sowie die Frage der Wirksamkeit der Hochzeitszeremonie durch eine Schamanin bilden den Rahmen ihrer Untersuchung. René Gründer stellt „spirituelle“ Re-enactments neuheidnischer Gruppenrituale in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ihn beschäftigt die Frage, inwiefern „spirituelle“ Re-enactments von „seriösen“ Living History Formen unterschieden werden können.

Sarah Willners und Georg Kochs Beiträge diskutieren jeweils sehr unterschiedliche Formen der Aneignung bzw. Möglichkeiten des Nacherlebens von Ur- und Frühgeschichte. Willners Fokus liegt auf der touristischen Nutzbarmachung des Mumienfunds „Ötzi“ in den Alpen. Sie fragt danach, unter welchen Voraussetzungen Ur- und Frühgeschichte auf historisch eingebetteten Themenwanderwegen imaginierbar wird. Anhand der Analyse unterschiedlicher Erfahrungsmodi beim alpinen Wandern folgert sie, dass historische Präsenz dort erlebt wird, „wo emotionale Wanderstile, ihre Performanzen und räumliche Bedingungen miteinander korrespondieren“ (S. 76). Koch untersucht die Gestaltung der Ur- und Frühgeschichte in britischen und deutschen Medien. Er kommt trotz vielfältiger Unterschiede zwischen beiden Ländern zum Schluss, dass Re-enactments im Stil von Doku-Dramen in Filmen und Fernsehsendungen verwendet werden, um dem Publikum „mentale und emotionale Teilhabe“ an der fernsten menschlichen Vergangenheit zu ermöglichen (S. 131).

Sven Kommers Beitrag taucht in die Mittelalterszene ein und fragt nach den geschichtskulturellen Konstruktionen von Mittelalter. Der Autor steckt dabei überzeugend das weite Feld der Berührung und Distanzierung zwischen der akademischen Wissensproduktion, die mit Bourdieu als „legitim“ verstanden wird, und der popkulturellen, ästhetisch wie performativen „Anverwandlung dieser Wissensbestände“ ab (S. 215). Miriam Sénécheaus Beitrag beschreibt einen „Germanenzug“ zur Sonnenwendfeier im Berliner Grunewaldstadion im Jahr 1933, der von den Nationalsozialisten gemeinsam mit Wissenschaftlern geplant wurde. Sie arbeitet die ideologische Vereinnahmung dieser frühen Form der Living History heraus, macht aber deutlich, dass auch Gemeinsamkeiten zur gegenwärtigen Living History bestehen.

Einige Beiträge verknüpfen die Beschreibung bzw. Analyse von Fallbeispielen mit weiterführenden theoretischen Überlegungen. Stefanie Samida nutzt das Re-enactment eines Germanienfeldzugs im Jahr 2013, um die Konzepte des historischen Selbsterlebens, der Theatralität bzw. Performativität und die damit verbundenen Begriffe der Aufführung, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung zu diskutieren. Der Beitrag arbeitet fundiert theoretische Zugänge zur Living History heraus und plädiert für einen breiten kulturwissenschaftlichen Ansatz, um ihren vielfältigen Facetten gerecht zu werden. Zwei weitere Beiträge gehen ebenso einem stärker theoriegeleiteten Interesse nach. Juliane Brauer diskutiert, welchen Einfluss Emotionen im Prozess des historischen Lernens haben. Ihre Überlegungen macht sie an den zentralen Modi der Geschichtsvermittlung in Museen zur ostdeutschen Geschichte fest, die häufig auf das Nacherleben und das Eintauchen in vergangene Zeiten als Zeitreise setzen. Brauer zufolge sei historisches Lernen stets eine „Alteritätserfahrung“, die Angebote zur erlebten Geschichte setzten hingegen auf die „Illusion des Gleichartigen“ und die „Identitätserfahrung“, die somit eine „De-Distanzierung von Gegenwart und Vergangenheit“ herbeiführten. (S. 32f.). Brauer zufolge müsse jedoch ein „offen gestaltete(r) Denk- und Fühlraum“ als Voraussetzung für gelungenes historisches Lernen geschaffen werden (S. 41). Bernhard Tschofens Text liefert eine Übersicht über die historische Entwicklung von Konzepten des Erlebens in der Geschichtskultur. Seine Genealogie führt ihn von der Aufklärung und der Bedeutung ganzheitlichen Erlebens zu Reformbewegungen um 1900 mit ihren Ideen der Ganzheitlichkeit und dem sinnlichen Erkennen. Tschofens Argumentation zielt letztlich darauf ab, zu verdeutlichen, dass „Geschichte zu erleben und Geschichte zu praktizieren weit selbstverständlicher ist, als der akademische Blick es erscheinen lässt“ (S. 138). Frank Böschs Beitrag zu „Geschichte als Erlebnis“ dreht schließlich die Perspektive auf doing history um. Bösch geht dem Phänomen nach, dass immer mehr Menschen gezielt an „historischen Ereignissen in spe“ (S. 84) teilnehmen.

Die sinnlich-körperlichen Praktiken der Aneignung und Präsentation von Geschichte als doing history zu bezeichnen ist ein kluger Vorschlag, der das Feld sondiert und in innovativer Weise an bestehende Theoriedebatten anschließt. Alle Beiträge des Bands greifen diese instruktive Sichtweise auf, wenngleich teilweise bruchstückhaft, was der Anpassung an das jeweilige Fallbeispiel geschuldet ist. Auch ist der Versuch, die Beiträge im Buch anhand der Begriffspaare Körper – Emotionen, Erlebnis – Raum und Ding – Bedeutung zu strukturieren, nicht bei allen Texten nachvollziehbar. In der Zusammenschau entsteht dennoch ein sehr anregendes Koordinatensystem theoretischer Grundlagen für die Analyse sinnlich-körperlicher Geschichtspraktiken. Die theoretische Grundlagenarbeit hat mit diesem Band einen gelungenen Ausgangspunkt gefunden, und das Buch ist ohne Zweifel ein Meilenstein auf dem Weg zu einer kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. Es bleibt zu wünschen, dass dieses interdisziplinäre Theoriebildungsangebot einen Platz im überwiegend disziplinär geordneten Wissenschaftssystem findet. Der Vorschlag der Herausgeber/innen, diese innerhalb der Public History (verstanden als empirische Kulturwissenschaft) zu verorten, bleibt hoffentlich kein Gedankenspiel.

Anmerkung:
1 Eine gute Überblicksdarstellung liefert Wolfgang Hochbruck, Geschichtstheater. Formen der „Living History“. Eine Typologie, Bielefeld 2013; ferner Judith Schlehe / Michiko Uike-Bormann / Carolyn Oesterle / Wolfgang Hochbruck, Staging the Past. Themed Environments in Transcultural Perspectives, Bielefeld 2014.

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