B. Dietz u.a. (Hrsg.): Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt

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Titel
Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt. Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland


Herausgeber
Dietz, Bernhard; Neuheiser, Jörg
Reihe
Wertewandel im 20. Jahrhundert 2
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
49,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Rehlinghaus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nachdem die unhinterfragte Übernahme von Thesen der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung zu Recht harsch kritisiert worden ist1, nimmt sich die Zeitgeschichtsforschung vermehrt einer Historisierung und Re-Analyse der damit verbundenen soziokulturellen Prozesse an.2 Der von Bernhard Dietz und Jörg Neuheiser herausgegebene Tagungsband zeigt, dass das dann ein produktives Unterfangen sein kann, wenn sich die historische Analyse auf einen gesellschaftlichen Teilbereich konzentriert. Die Herausgeber betonen, dass es insbesondere das Feld der Arbeit ist, in dem materiell-ökonomische Bedingungen und mentale Dispositionen aufeinandertreffen und dabei individuelle Selbstverhältnisse und die Strukturen der Gesellschaft als Ganzes verändern. Ob sich diese Prozesse unter dem Schlagwort „Wertewandel“ zusammenfassen lassen, ist dabei die Gretchenfrage. Dietz und Neuheiser stellen sie methodisch einleuchtend auch als eine Frage nach seiner realitätsstrukturierenden Kraft als diskursiver Formel, ohne sie darauf zu reduzieren. Im Band wollen sie dementsprechend in Andreas Rödders Sinne eine historische Wertewandelsforschung „erster“ und „zweiter Ordnung“ (S. 16) zueinander bringen, die damit zugleich als Indikator und Faktor sozialer Veränderung ernstgenommen wird.

Die zwölf Beiträge nehmen sich des Themas für recht disparate Felder und in unterschiedlichen Zugriffen an. Neben Industriebetrieben werden Wandlungsprozesse auch im medialen Sektor, im Konsum, in alternativen Ökonomien oder in der Arbeit zu Hause untersucht. Veränderungen stellen alle Beiträger/innen in ihren Fallbeispielen fest. Diese vollzogen sich – wie zu erwarten war – jedoch weniger eindeutig, als es die sozialwissenschaftliche Forschung suggeriert. Obgleich der Band dem Titel nach seinen Schwerpunkt auf die 1970er- und 1980er-Jahre legt, setzen einige Beiträge zumindest Jahrzehnte (Peter-Paul Bänziger), wenn nicht sogar Jahrhunderte (Sebastian Seng) früher an. Vielfach relativiert sich dabei der Eindruck einer Epoche beschleunigten Wandels, und langfristige Entwicklungen, Kontinuitäten und Ungleichzeitigkeiten werden sichtbar.

Noch am ehesten entdecken Bernhard Dietz, Maximilian Kutzner und Carola Westermeier Prozesse eines Wertewandels, wie ihn die empirische Sozialforschung beschrieb: Während Kutzners Deskription der Berichterstattung westdeutscher Leitmedien über Werteverschiebungen nur wenige überraschende Befunde offenbart, weil die Presse eben immer auch selbst als Plattform für die sozialwissenschaftlichen Diskursführer fungierte, zeigt Westermeiers Beitrag, wie sich deren Rezeption massiv auf die Verkaufsstrategien der Werbewirtschaft auswirkte. In dem Maße, in dem sich das Bild des Konsumenten von einem manipulierbaren Empfänger emotionsgeladener Werbebotschaften zum kritischen Verbraucher und Individualisten wandelte, wurde die klassische Absatzwirtschaft von einem konsumentenorientierten Marketing abgelöst.

Für den Wirtschaftsjournalismus erarbeitet Dietz die realitätsstrukturierende Kraft des Diskurses. Er beschreibt die Adaption der einschlägigen Wertewandelssemantiken in Managementdebatten als einen ökonomisch induzierten Prozess. Noch bevor die Sozialwissenschaftler das Thema entdeckt hatten, wurden die ökonomischen Verwerfungen insbesondere familiengeführter Unternehmen als Ausdruck eines autoritären Führungsstils interpretiert, der Veränderungen notwendig machte. Ab den 1980er-Jahren griff dann die Wirtschaft die sozialwissenschaftliche Terminologie begierig auf, um eine Synthese „alter“ und „neuer Werte“ für die Arbeitswelt einzufordern und ihr Potential für sich fruchtbar zu machen. Dietz entdeckt darin deutliche Anzeichen des „neuen Geistes des Kapitalismus“, obgleich sich ähnliche Aspekte bereits in Humanisierungsbestrebungen der 1920er-Jahre bzw. in den Debatten über die richtige „Führung“ in den 1950er- und 1960er-Jahren finden.

Damit decken sich seine Befunde mit denen von Friederike Sattler und Brigitta Bernet. Beide interpretieren die Aneignung des Wertewandelparadigmas durch „Experten für Humankapital“ als eine Bewältigungsstrategie immer komplexerer wirtschaftlicher Strukturen. Sattler zeigt am Beispiel des Universitätsseminars der Wirtschaft, wie in der Weiterbildung für Führungskräfte Freiheits- und Selbstentfaltungswerte in dem Moment adaptiert wurden, in dem sie ökonomisch nutzbar zu sein versprachen, um neue Verfahrenswege in der Betriebsorganisation zu erproben. Leider bleibt unklar, wie sich der Zusammenhang zwischen der Propagierung postmaterialistischer Werte und der Etablierung einer mathematisch orientierten „Verfahrensethik“ genau gestaltete, beziehen sich die ersteren doch auf den menschlich-individuellen Faktor, die zweite hingegen auf abstrakt-formale Prozesse. Hier wäre ein Einblick in die Unterrichtspraxis erhellend gewesen, um zu erfahren, auf welchem Weg den Seminarteilnehmern eigentlich welche Inhalte vermittelt wurden.

Brigitta Bernet erweitert den Fokus, wenn sie mit Blick auf die Personallehre Schweizer Unternehmen Wechselwirkungen zwischen unternehmerischen und gewerkschaftlichen Anforderungen an den Arbeitsprozess analysiert. Überzeugend rekonstruiert sie, wie personalpolitische Maßnahmen, die aus ökonomischen Rationalisierungszwängen resultierten, über humanwissenschaftliche Expertise, die sich der Wertewandelsforschung bediente, mit dem gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Ruf nach betrieblicher Mitbestimmung in Verbindung gebracht wurde. So konnten die partizipativ-kooperativen Führungsmodelle eine Allianz mit Humanisierungsforderungen eingehen, die die allgemeine Kapitalismus-Kritik an der entfremdeten Arbeit in die Frage individueller Arbeitszufriedenheit transformierte.

Das Pendant zu diesen Befunden liefert Jörg Neuheiser mit einer längst überfälligen Prüfung der These von der neoliberalen Vereinnahmung linker Alternativentwürfe von Arbeit, die er als zeitgenössische Analyse der 1970er- und 1980er-Jahre entlarvt. Er beschreibt, wie ökonomische Erfordernisse auch in linksalternativen Betrieben zu einer „Normalisierung von Arbeitsprozessen“ führten, die die „Selbstverwirklichungsideale“ nachhaltig erdeten. So waren die Alternativprojekte mitnichten „Schulen unternehmerischer Tugenden“, sondern strebten im konkreten Arbeitsprozess recht bald nach sozialstaatlich abgesicherten Normalarbeitsverhältnissen. Das klassische Arbeitsethos wurde in den 1980er-Jahren also gerade von den Akteuren wiederbelebt, die Vorreiter alternativen Wirtschaftens waren und als ungewollte Wegbereiter neoliberaler Selbstausbeutung gelten.

Eine ähnliche Umdeutung unternimmt auch Jonathan Voges, wenn er den Wertewandel als eine räumliche Verschiebung interpretiert: Voges entdeckt in der Do-it-yourself-Bewegung die Okkupierung eines ursprünglich handwerklichen Berufsethos durch bürgerliche Schichten, die im Selbermachen den Verlust einer ganzheitlich empfundenen Arbeit kompensierten. Voges weist darauf hin, dass sich die Heimarbeit in ihrem Wertehorizont sowohl von einer Ökonomie des Notbehelfs als auch von der Hausarbeit stark abgrenzte. Diese Klassen- und (leider im Beitrag nicht thematisierte) Geschlechterdimension von Heimarbeit relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, dass mit sinkenden Arbeitszeiten auch für die Arbeiter/innen die Pflege eines künstlerischen „Steckenpferdes“ als Ausgleich zur Lohnarbeit immer wichtiger wurde. Es würde sich lohnen, der These nachzugehen, ob sich hier ein Tausch klassenspezifischer ‚Sehnsüchte‘ vollzog.

Ohnehin offenbaren die Beiträge, dass die Befunde in dem Maße variieren, indem sie unterschiedliche soziale Gruppen in den Blick nehmen. So lassen die „Probebohrungen“ (S. 26) offen, ob Werte gesamtgesellschaftliche mentale Dispositionen darstellen oder klassen-, schicht-, branchen- und geschlechterspezifisch oder auch konfessionell-religiös gelesen werden müssen. Sind sie normative Vorgaben, wie Markus Raasch und Christian Marx sie am Beispiel der Chemie-Industrie interpretieren, oder, wie Bänziger und Möckel in ihren Beiträgen argumentieren, Einstellungen und Lebensweisen, die individuell differierten und sich erfahrungsbasiert immer wieder veränderten? Und bedeutet der ‚Wandel‘ dieser Werte dann die Veränderung von Einstellungen einzelner Individuen innerhalb ihres Lebenslaufs oder vielmehr generationelle Abfolgen?

So bleibt auch nach der Lektüre die Frage nach einem Wertewandel erster Ordnung ungleich schwieriger zu beantworten als diejenige nach dem Wandel zweiter Ordnung. So lohnenswert die kritische Abarbeitung an den zeitgenössischen Angeboten Ingleharts, Klages‘ und Noelle-Neumanns auch ist, so birgt sie doch die Gefahr, dass die Werte der bundesdeutschen Gesellschaft auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht immer als dichotome Blöcke interpretiert werden, die man in den Quellen entweder identifizieren kann oder eben nicht. Wünschenswert wäre es, den Blick für Alternativen zu öffnen, die von den Sozialwissenschaften gar nicht erst erfasst worden sind (so auch Seng, S. 336), und neben dem Wandel der Werte auch den Wandel ihrer Semantiken zu untersuchen, worauf Bänziger eindrücklich hinweist (S. 72). Das gilt übrigens auch für die Begriffe „Wert“ und „Arbeit“3 selbst.

Was die Autor/innen für den Wertewandel zweiter Ordnung jedoch eindeutig zeigen ist, dass er in zahlreichen Kontexten eine von vielen Institutionen bereitwillig aufgenommene (Leer-)Formel war, in die ungleichzeitige und in sich widersprüchliche ökonomische wie soziokulturelle Entwicklungen eingespeist werden konnten. Durch ihre mediale Verbreitung wurde diese dann zu einer Art self-fulfilling prophecy, die legitimatorische Krisen und gesellschaftliche Friktionen zu überwinden versprach und strukturelle Veränderungen im Arbeitsleben neu zu legitimieren half. Schon von daher war der Wertewandel in der Arbeitswelt zweifelsohne ein geschichtsmächtiger Faktor, zu dessen Erhellung der Band einen substantiellen und lesenswerten Beitrag leistet.

Anmerkungen:
1 Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479-508; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung, in: Pascal Maeder / Babara Lüthi / Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012, S. 131–149; Jenny Pleinen / Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173–196.
2 Bernhard Dietz / Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304; Bernhard Dietz / Christopher Neumaier / Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014.
3 Jörn Leonhard / Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln 2016.

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