Cover
Titel
The Metamorphosis of Autism. A History of Child Development in Britain


Autor(en)
Evans, Bonnie
Reihe
Social Histories of Medicine
Erschienen
Anzahl Seiten
512
Preis
€ 34,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Raphael Zahnd, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Trotz einer kaum überblickbaren Menge an Publikationen bleibt Autismus ein Phänomen, das nicht abschließend erklärt werden kann. Evans Buch ist aber nicht bloß ein weiterer Beitrag im Kanon der Publikationen zu Autismus. Im Gegensatz zur gängigen Literatur verweist Sie zwar auf aktuelle Entwicklungen und Theorien, fokussiert aber in erster Linie die historische Genese dessen, was heute unter dem Autismus-Spektrum-Syndrom (ASS) bekannt ist. Dabei beginnt sie nicht etwa bei Leo Kanner oder Hans Asperger, die oft als historische Nullpunkte gesetzt werden, sondern bereits deutlich früher. Ausgehend von der These, dass das Werden des heutigen Verständnisses von Autismus mit einem Wandel des Verständnisses der kindlichen Entwicklung einhergeht, der sich in den 1960er-Jahren in Großbritannien beobachten lässt und durch politische, rechtliche und kulturelle Rahmenbedingungen begründet werden kann, folgt sie dem Begriff von seinem ersten Auftreten bis hin zur heutigen Definition. Auch wenn sie dabei hauptsächlich eine britische Perspektive einnimmt, handelt es sich um eine Darstellung mit globaler Relevanz, denn die Entwicklungen in Großbritannien stehen am Anfang einer weltweiten Zunahme diagnostizierter Fälle des ASS.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile zu je drei Kapiteln und ist entlang der Logik der These aufgebaut. Die ersten drei Kapitel beleuchten das Verständnis vor der entscheidenden Wende. Autismus galt zunächst als wichtiges Konzept der Erforschung kindlicher Entwicklung (Kapitel 1). So versteht beispielsweise Jean Piaget Autismus als eine Eigenschaft, die sich in allen Kindern zu einem spezifischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung mehr oder weniger stark finden lässt, nämlich der Hang zu Phantasie bzw. Tagträumen. Obwohl die Definitionen anderer Wissenschaftler/innen nicht komplett identisch sind, steht Piagets Position exemplarisch für das frühe Verständnis des Begriffs, der auch im Zusammenhang mit Schizophrenie, Psychose und Narzissmus diskutiert wurde. Mit Blick auf die heutige Konzeption des ASS ist allerdings irritierend, dass ein wesentlicher Teil der kindlichen Population, nämlich derjenige von Kindern mit mental deficiencies, zunächst nicht in Verbindung mit Autismus gebracht wurde.

Nach der Darstellung der ursprünglichen Autismus-Konzepte fokussiert Evans die in den 1940er-Jahren entflammte Kontroverse über die Frage, wie das Denken von Kindern erforscht werden kann (Kapitel 2). Im Zentrum stand dabei die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Instinkten für die frühkindliche Entwicklung. Autismus, als zentrales Element der Instinkttheorie, wurde zum Gegenstand zahlreicher Debatten. Die Kontroversen flachten mit Ende des Zweiten Weltkrieges ab und das Interesse bezüglich der kindlichen Entwicklung wendete sich eher sozialpolitischen Überlegungen zu. Evans sieht dabei John Bowlby, der an der Londoner Tavistock Clinic arbeitete, als zentrale Figur. Dessen Theorie über die Bedeutung der Mutterliebe für die kindliche Entwicklung verwies auf die Gefahr der kindlichen Deprivation von der Familie und stand exemplarisch für die Verbindung von politischen und psychologischen Interessen in der Nachkriegszeit. Mit der Kritik an der institutionellen Pflege und der Betonung der Bedeutung der Mutter lieferte Bowlby gute Argumente für die Wiederherstellung der traditionellen Organisation der Familie. Auch hier gilt, dass diejenigen Kinder, die aufgrund der Deprivation keinen normalen Entwicklungsverlauf zeigten, nicht mit dem Begriff Autismus verbunden wurden. Als Kontrast zu Bowlbys Position vergleicht Evans anschließend die Forschung der Tavistock Clinic mit derjenigen in der Children’s ‚Psychotic Clinic‘ im Londoner Maudsley Spital (Kapitel 3). Während erstere sich auf ein Entwicklungsmodell stützte, das auf Freuds Theorie des Unbewussten basierte, entwickelten die Forscher/innen am Maudsley einen alternativen Ansatz, der auf Beobachtungen und statistischen Methoden beruhte. Die Herangehensweise stand zu Beginn im Schatten der medial deutlich präsenteren Ansätze der Tavistock Clinic, dies ändert sich aber ab den 1960er-Jahren, was wiederum mit der Neukonzeption von Autismus zu tun hatte.

Gemäß Evans ist der 1959 Mental Health Act ein entscheidender Wendepunkt in der Autismus-Debatte. Im zweiten Teil des Buches liegt der Fokus deshalb auf den Entwicklungen nach dessen Inkrafttreten. Da in diesem unter anderem die Schließung von Langzeit-Institutionen für Kinder mit Behinderung festgelegt wurde, kam die Regierung unter Druck, da sie neue Mittel und Wege finden musste, um Familien mit behinderten Kindern zu unterstützen (Kapitel 4). Im Zusammenhang mit der Bedarfsermittlung führte man die weltweit erste epidemiologische Studie über Autismus durch. Aus dem administrativen Chaos heraus wurde allerdings ein komplett neues Konzept geboren, das Autismus eine gegenteilige Bedeutung zuwies. Autismus kennzeichnete nun eine Absenz von Vorstellungskraft, Kreativität oder Träumen und damit eine Abweichung von normalen Entwicklungsmustern. Die während der Studie zur Erfassung verwendeten Diagnoseelemente waren zwar durchaus mit bereits früher existierenden Beschreibungen (beispielsweise Kanners) autistischen Verhaltens in Verbindung zu bringen, bezogen sich jedoch nicht mehr auf vorausgehenden theoretische Grundlagen. Sie beeinflussten das weitere wissenschaftliche Vorgehen aber maßgeblich und die Debatte über Autismus verschob sich weg von ursprünglichen Theoriemodellen hin zur Beschreibung der Schädigungen autistischer Kinder. Diese Entwicklung wurde zudem durch Veränderungen in der Organisation des Bildungswesens und im Bereich der staatlichen Dienstleistungen befördert (Kapitel 5). Eine auf der neuen Definition basierende rechtliche Verankerung der Kategorie, wie beispielsweise im 1981 Education Act oder dem 1989 Children’s Act, war hierfür entscheidend. Evans zeigt dann abschließend auf (Kapitel 6), wie diese Veränderungen und die vorausgehenden epidemiologischen Untersuchungen am Ursprung globaler Bemühungen standen, Autismus zu analysieren und zu verstehen. Dabei thematisiert sie die starke Verbreitung der Diagnose ab den 1990er-Jahren, die das Interesse an Autismus nochmals wachsen ließ.

Aufgrund des historischen Rückgriffs auf Autismus-Konzepte, die kaum mehr mit der aktuellen Konzeption in Verbindung zu bringen sind, geht Evans Darstellung weit über die eigentliche Betrachtung des ASS im heutigen Sinn hinaus. Dies hat zur Konsequenz, dass sich ihr Buch teilweise als Geschichte der Entwicklungspsychologie bzw. auch der (Kinder-)Psychiatrie mit Hauptfokus Großbritannien liest. Dies geschieht aber durchaus bewusst: „[…] it is only possible to understand the phenomenon of autism if it is explored in relation to a wider history of childcare and education and a wider history of theories of child development and child psychology” (S. 26). Die aus dieser Darstellung resultierende Komplexität erschwert es dem Leser bzw. der Leserin, den Überblick zu behalten und macht die Lektüre zeitweise schwerfällig. Die Komplexität ist aber notwendig, um darzustellen, wie ein Begriff durch verschiedenste Entwicklungen geprägt war und in einem zentralen Moment auf theorieloser Basis neu konstruiert wurde. Genau dies ist ein entscheidender Beitrag des Buches, denn es beleuchtet ein Faktum, das aus wissenschaftlicher Perspektive kritisch zu betrachten ist. Aktuelle Erklärungen des ASS, die beispielsweise auf Basis einer theory of mind fundieren, beschreiben nämlich eher die Symptome, als dass sie zu einem vertieften Verständnis von Autismus beitragen.1 Evans liefert für diesen Sachverhalt eine historische Erklärung und bereichert damit die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Buch aufgrund seiner Komplexität eher für Fachpersonen geeignet und weniger an ein breites Publikum gerichtet ist. Für erstere bietet es eine komplexe, aber empfehlenswerte und wichtige Darstellung der historischen Entwicklung an, die zugleich als umfangreiches Nachschlagewerk mit ausführlichem Schlagwortverzeichnis genutzt werden kann.

Anmerkung:
1 Georg Feuser, Autismus, in: Georg Feuser / Birgit Herz / Wolfgang Jantzen (Hrsg.), Emotion und Persönlichkeit, Stuttgart 2014, S. 91–125, hier S. 106f.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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