S. Jüngerkes (Hrsg.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag

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Titel
Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1969–1972. Erster Halbband Oktober 1969 bis Mai 1971 und Zweiter Halbband Juni 1971 bis September 1972


Herausgeber
Jüngerkes, Sven
Reihe
Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945 8/V
Erschienen
Düsseldorf 2016: Droste Verlag
Anzahl Seiten
1.356 S. in 2 Bd.
Preis
€ 160,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Kramer, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Als Historiker/in gehört die Suche nach geeigneten Quellen zu einer der Herausforderungen des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Je näher man nun aber mit dem Forschungsgegenstand an die Gegenwart heranrückt, desto weniger arbeitet man als Detektiv/in, der/die nach Informationssplittern sucht und diese wie ein Puzzle zusammensetzt. Quellen gibt es für viele Themen der jüngsten Zeitgeschichte meist genug und im Zuge der rasch fortschreitenden Digitalisierung ist der Zugriff häufig enorm erleichtert. Gefragt ist daher vor allem die Fähigkeit, mit den Informationsmassen klar zu kommen und sich systematisch Durchblick zu verschaffen. Die klassische Quellenkritik, die eine eingehende Beschäftigung mit einzelnen Dokumenten und ihren Entstehungsbedingungen erfordert, droht dabei mitunter auf der Strecke zu bleiben.

Die Arbeit mit gut gemachten Quelleneditionen, gerade auch in Buchform, kann da sehr heilsam sein, denn sie liefern kompaktes Hintergrundwissen und erörtern formale sowie inhaltliche Merkmale von Quellen. Die jüngst erschienenen und von Sven Jüngerkes herausgegebenen Teilbände zu den Sitzungsprotokollen der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag in den Jahren zwischen 1969 und 1972 sind daher nicht nur als leicht zugängliche Fundgrube für politikgeschichtlich orientierte Forschung und Lehre zu betrachten. Vielmehr regen sie dazu an, sich mit der durch die Legislative hergestellten Überlieferung, die in vielen Studien genutzt wird, quellenkritisch auseinanderzusetzen.

Die insgesamt mehr als 1.300 Seiten umfassenden Teilbände gehören zu einem bereits umfangreichen und noch wachsenden Konvolut an gedruckten Quellen, die durch die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien aufbereitet wird.1 Ergänzt wird die Papierform durch ein online-Angebot, dass die verschiedenen hier genannten Parteiüberlieferungen zusammenführt und als Volltext erschließt.2 Da andere umfangreiche gedruckte Quellenkorpora, allen voran die Bundestagsprotokolle, zur Verfügung stehen, begnügen sich die Teilbände – wie auch schon die Vorgänger der Reihe – mit einer knappen Kommentierung, denn ohne großen Aufwand kann man sich mithilfe der Verweise weiter in die jeweilig interessierende Materie vertiefen.

Die Editoren der SPD-Fraktionsprotokolle hatten in der 6. Wahlperiode mit einer entscheidenden Neuerung zu tun: Die bereits zuvor installierte Mikrofonanlage des Bundestags ermöglichte es, die Sitzungen auf Tonbändern festzuhalten, wobei die ersten Aufnahmen ab Ende 1970 vorhanden sind. Wenngleich die Aufzeichnung nicht lückenlos erfolgte und zudem die Tonqualität bisweilen eine Transkription unmöglich machte, erweitert sich damit der Umfang der Überlieferung enorm. 20 der 49 Tonbandaufnahmen sind als Transkription abgedruckt, weitere 27 finden sich im online-Portal der Fraktionsprotokolle. Verglichen mit den schriftlichen Protokollen, die je nach Verfasser/in eher ausführlich den Verlauf einer Sitzung schilderten oder – was seltener vorkam – auch knapper vorwiegend die Ergebnisse festhielten, war es nicht nur ein „Mehr“ an Informationen über das, was gesprochen wurde. Vielmehr – das betont Jüngerkes – erlauben die Tondokumente eine semantische Analyse und die Untersuchung politischer Sprache, die für das 20. Jahrhundert seit Längerem eingefordert wird (S. 19). Zudem ist auch die akustische Dimension erhalten, d.h. der Tonfall der Wortbeiträge, Reaktionen der Anwesenden und hörbare Handlungen, die sich im Raum ereignet haben. Freilich findet dies nur in gewissem Umfang, also z.B. als Hinweis auf Beifall, Heiterkeit oder einzelne Zwischenrufe, Eingang in die Transkription. Für alles andere bedarf es weiterhin des Gangs ins Archiv, um die Originaldokumente selbst nachzuhören.

Was nun aber erfährt der Nutzer der Editionsbände über die ersten Jahre der sozial-liberalen Regierungskoalition, die in der Historiographie schon seit Langem als Zeit außenpolitischer Aufbrüche und innerer Reformen gehandelt wird? Welches Erkenntnispotential lässt sich ausmachen und wo liegen die Grenzen dessen, was die Fraktionssitzungsprotokolle erschließen können? Wie in der Einleitung bemerkt, sind viele bildungs-, geschlechter-, sozial- und wirtschaftspolitische Aspekte der Geschichte dieser Jahre bereits ausgiebig erforscht. Die Legislaturperiode, die im Zeichen des Reformwillens stand und mit Misstrauensvotum und Vertrauensfrage, also mit einem Knall, zu Ende ging, zog die Aufmerksamkeit von Forschenden auf sich. Zu bedenken ist schließlich, dass die intensiven Auseinandersetzungen um Gesetzesinhalte in den Ausschüssen stattfanden, deren Berichte und Vorlagen dann in der Regel als dritter Punkt auf die Tagesordnung der Fraktionssitzung kamen (S. 36, 55).

Umso deutlicher machen die Protokolle jedoch, dass es nicht mit der Ausformulierung legislativer Texte getan war, sondern diese dargelegt und vermittelt werden mussten, was eben auch zum parlamentarischen Kerngeschäft gehörte. Aus dem ausführlichen Tonbandtranskript der Sitzung vom 19. September 1972 erfährt man zwei Tage bevor das Rentenreformgesetz im Bundestag angenommen wurde, dass die SPD-Fraktion befürchtete, die CDU/CSU könne durch Abänderungsanträge ihren Beitrag überbetonen (S. 1238). Ebenso tritt hervor, wie tief die Vorstellung, eine einschneidende Reform vorangebracht zu haben, verankert war, wenngleich dies mitunter, wie im Fall Helmut Schmidts, auch sorgenvolle Töne annehmen konnte: „Es ist wenn ich es richtig sehe und mich selber richtig erinnere, in vielen Jahren der Zugehörigkeit zu diesem Bundestag bisher noch nicht vorgekommen, dass eine Regierungsfraktion oder eine Gruppe in der Regierungsfraktion eine Regierungsvorlage nimmt und sie so verteuert, dass es sich insgesamt um rund 60 Milliarden Mehrausgaben handeln soll. Es ist auch noch nicht vorgekommen, dass man dann im Laufe der Auseinandersetzung mit der Opposition diese Mehrausgaben von einigen 60 auf beinah 80 Milliarden steigert.“ (S. 1239)

Die Bemühungen der SPD-Fraktion, vor allem der Führung, darum, Aufmerksamkeit für die eigene Politik zu organisieren und sie ins richtige Licht zu rücken, hingen vermutlich auch mit der Herausforderung zusammen, dass die noch nicht erprobte Koalitionszusammensetzung unter besonderem Erwartungsdruck stand, sich beweisen zu müssen. Die Kommunikationsmittel, die sie wählten, um ihre Regierungskompetenz herauszustreichen, waren indes in der parlamentarischen Praxis etabliert: Um die Botschaft des Berichts zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland im Januar 1971 – der erst wenige Jahre zuvor eingeführt worden war – zu vertiefen, nutzte die SPD das in der Geschäftsordnung vorgesehene Instrument der Großen Anfrage. Einer systematischen Untersuchung über die Nutzung des Fragerechts in Bundestag nimmt sich bisher fast ausschließlich die politikwissenschaftliche Policy-Forschung an.3 Wer aber mehr über die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln sowie über die Routinen des Sprechens im Parlament wissen will, wird in den Sitzungsprotokollen der SPD-Fraktion fündig werden. Sie leuchten die historische Dimension aus und dienen zudem als Entschlüsselungs- bzw. Erklärungshilfe, um die Verhandlungen des Bundestags nicht nur als Text, sondern auch als soziale Interaktion lesen zu können.

Die Dokumente zeigen schließlich auch die verschiedenen Beziehungskreise, in die die SPD-Fraktion eingebunden war, wobei den in der Einleitung genannten Verhältnissen zum Koalitionspartner FDP, zur eigenen Partei, zur Bundesregierung, zur Opposition CDU/CSU und zu den Printmedien, noch ein weiteres hinzugefügt werden müsste: das zur Bevölkerung bzw. zum „Draußen“, wie es im Sprachgebrauch vieler SPD-Fraktionsmitglieder diffus und dennoch vielsagend hieß. Letztere beobachteten die Öffentlichkeit genau, ob es nun um vorherrschende Frauenbilder im Rahmen der geplanten Reform des Eherechts ging, das Wissen um die Neuerungen des Ausbildungsförderungsgesetzes, die von weit weniger als der errechneten Zahl der Berechtigten in Anspruch genommen wurden, oder aber die Erwartungen der Bürger, die 0,8 Promille-Grenze einzuführen, nachdem Experten jahrelang den negativen Einfluss von Alkohol auf den Straßenverkehr angeprangert hatten.

In den Sitzungsprotokollen der SPD-Fraktion steckt mehr als nur Material für die Erforschung von Parteigeschichte. Sie sind ebenso von großem Wert für alle, die sich dem Parlament kultur- und gesellschaftsgeschichtlich widmen wollen. Sie erweitern den bereits großen Bestand gedruckter Quellen für die jüngere Zeitgeschichte, ermuntern aber zugleich, im Dickicht der Informationen das geschichtswissenschaftliche Handwerk sowie die Kunst des konkreten Denkens nicht zu vergessen.

Anmerkungen:
1 Bisher liegen Editionen für die beiden großen Parteien CDU/CSU vom Beginn der Bundesrepublik bis 1972 vor. Hinzu kommen Bände, in denen die Überlieferungen der Fraktionen der FDP und CSU bis in das Jahr 1969 gesammelt sind. Schließlich sind schon Editionen für die Fraktionsgruppe der GRÜNEN von 1983 bis 1990 erschienen.
2https://fraktionsprotokolle.de (07.05.2018).
3 Sven Siefken, Parlamentarische Anfragen. Symbolpolitik oder wirksames Kontrollinstrument?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41/1 (2010), S. 18–36.

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