B.v. Hindenburg: Die Abgeordneten des Preußischen Landtags 1919–1933

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Titel
Die Abgeordneten des Preußischen Landtags 1919–1933. Biographie – Herkunft – Geschlecht


Autor(en)
von Hindenburg, Barbara
Reihe
Zivilisationen und Geschichte / Civilizations and History / Civilisations et Histoire 44
Erschienen
Frankfurt a. M. 2017: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heide-Marie Lauterer, Heidelberg

Diese Studie befasst sich mit Abgeordneten, die zwischen 1919 und 1933 in den Preußischen Landtag gewählt wurden. Das Material wurde in drei Phasen von Barbara von Hindenburg erarbeitet. In der ersten Phase wurden die Lebensläufe der Abgeordneten anhand von biographischen Informationen z.B. in Parlamentshandbüchern erfasst. Mit diesem Material wurde ein biographisches Handbuch erstellt. Die Dissertation baute dann auf der biographischen Analyse der knapp 1400 Biographien auf.

Barbara von Hindenburg stand vor erheblichen methodischen Herausforderungen. So fehlte es „auf Seiten der Geschlechtergeschichte noch immer an übergreifenden historischen Darstellungen zur Integration von Frauen in Parteien und zur Analyse des „männlichen Politikmonopols“ (S. 37). Eine Ursache für die mangelnde Berücksichtigung von geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen in der politischen Geschichte liegt in der Begrenzung der hauptsächlich von Männern betriebenen Forschung auf staatliche Institutionen, Parteien, Gewerkschaften etc., in welchen Frauen vor 1919 kaum Handlungsspielräume besaßen. Hier stellt sich die Frage, wer in welchem Zusammenhang eigentlich definierte, was Politik ist. Die Autorin fragt deshalb nach den Grenzen bzw. den Handlungsräumen und somit auch nach den Partizipationsmöglichkeiten von Frauen und Männern in der Politik und den Parteien. Was wurde zeitgenössisch überhaupt als Politik verstanden und wer durfte an Politik partizipieren? Suchten sich Frauen andere Handlungsräume als Männer oder wurden sie ihnen zugewiesen? Um eine Antwort auf diese Fragen zu geben, wertete die Autorin die Lebensläufe der AkteurInnen im „Biographischen Handbuch“ aus. Dabei stieß sie jedoch auch an Grenzen, da die tabellarischen Lebensläufe den Anschein einer Kohärenz oder Kausalität erzeugten. Die Frage nach Zufall oder zielgerichtetem Handeln in den Biographien konnte so nicht erfasst werden.

Nach der Einführung des Frauenwahlrechtes 1919 saßen erstmalig auch Parlamentarierinnen in der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung (6–10% pro Legislaturperiode). Barbara von Hindenburg untersucht die Herkunft der Abgeordneten in geschlechtervergleichender Perspektive und arbeitet sowohl Unterschiede zwischen den Fraktionen als auch Gemeinsamkeiten heraus. So verliefen die politische Sozialisation und die Bildungssozialisation von Frauen in Preußen anders als bei Männern. Für Frauen waren die Entwicklung der Frauenbewegung, die zunehmenden Rechte auf lokaler Ebene im Bereich des sozialen Engagements, die Herausgabe neuer Zeitschriften im Rahmen der Frauenbewegung, die Bildung von Frauennetzwerken wichtig sowie die erweiterten Bildungs-und Berufschancen durch die Zulassung zum Abitur und zum Studium seit 1908. Bedeutsam für die Frauen war die Zulassung zu politischen Versammlungen und zu politischen Parteien im gleichen Jahr. Hier knüpft von Hindenburg an die Ergebnisse früherer Geschlechterforschung an.

Die Studie basiert auf dem qualitativen Generationenbegriff Karl Mannheims. Eine Generation umfasst demnach eine auf altersspezifische Erlebnisschichtung basierende Gemeinschaft, in der Ereignisse und Lebensinhalte aus derselben Bewusstseinsschichtung gedeutet werden. Von diesen kollektiven Wahrnehmungs-und Deutungsmustern wird angenommen, dass sie zu spezifischen, gesellschaftlich relevanten Handlungen führen. Während die Männergeneration eine deutlich homogenere Gruppe im Hinblick auf ihre Altersstruktur als auch auf ihre politischen Überzeugungen darstellte, hatten die Parlamentarierinnen eine weiter auseinanderliegende Altersstruktur und kamen aus unterschiedlichen politischen Parteien und politischen Sozialisationen. Wie ich bereits in meiner 2002 erschienen Studie „Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949“ dargelegt habe, ist eine Zuordnung von Frauen in ein Generationsschema, das an männlichen Lebensläufen gewonnen wurde, nicht sinnvoll.1 Barbara von Hindenburg kommt zu dem gleichen Ergebnis, wenn sie betont: „Ihr gemeinsamer Bezugspunkt war das Geschlecht und die daraus resultierenden Erfahrungen.“ (S. 138)

Neben der Kategorie „Generation“ nutzt Barbara von Hindenburg die Kategorien (sozialer) Raum und Region für die Analyse der Biographien der Abgeordneten. Sie nimmt an, dass besondere Voraussetzungen oder Beschränkungen in einzelnen Regionen möglicherweise Einfluss auf Grenzen und Handlungsmöglichkeiten der Abgeordneten hatten. Hier wird die geschlechtergeschichtliche und vergleichende Perspektive zwar beibehalten, aber zugunsten der Erforschung der Frauenbiographien verschoben. Schlesien eröffnete Frauen mit dem ländlich-kommunalen Wahlrecht neue Möglichkeiten der Partizipation. Sie konnten also ein politisches Recht wahrnehmen, das ihnen nur in den Landgemeinden Preußens, nicht aber in der Rheinprovinz zustand, und sie konnten erstmalig auch andere über ihre politischen Rechte aufklären. Am Beispiel der Abgeordneten Elsa Hielscher und ihrem Engagement in Schlesien gewinnt die bis dahin sehr theoriegeleitete Darstellung an Plastizität. Die 1871 in Schlesien geborene Elsa Hielscher engagierte sich seit 1903 in der schlesischen Frauenbewegung und der schlesischen Stimmrechtsbewegung. Von 1925 bis 1932 saß sie als Abgeordnete für die DNVP im Preußischen Landtag. Hielscher schrieb nicht nur Artikel für die Zeitschrift des Schlesischen Frauenverbandes, sondern verfasste zahlreiche Gedichte, die einen Einblick in die Zwänge, die Erfahrungen der Fremdheit und die Sehnsüchte einer politisch aktiven Frau vor der Einführung des Frauenwahlrechtes geben. Es sind berührende Gedichte, die, wie im Gedicht „Automat“, von einer erschreckenden Dissoziation von Körper und Seele der jungen Frau zeugen, mit der sie sich vor einer seelischen Verkümmerung schützt. Aus diesen Gedichten sprechen die Fremdheitserfahrungen, die sich aus der Frauen zugewiesenen Bestimmung und ihrer Rebellion gegen die gesellschaftliche Konvention ergaben. Später entwickelte Elsa Hielscher eine regelrechte Leidenschaft möglichst viel über die Erfahrungen von unterdrückten Frauen herauszufinden. Sie begab sich auf Reisen in das europäische Ausland. In London hörte sie der Rede einer Suffragette, die Hielschers Denkhorizont erweiterte. Obwohl sie sich in der schlesischen Frauenbewegung engagiert hatte, nahm sie hier zum ersten Mal wahr, dass Frauen – im geschützten Raum der Speakers Corner – öffentlich gehört wurden. Ab 1908 engagierte sie sich in der Frauenstimmrechtsbewegung in Schlesien. Elsa Hielscher bereiste die ganze Region, um über das aktive Gemeindewahlrecht für unverheiratete oder verwitwete Grundbesitzerinnen aufzuklären. Dieses Recht war vielen Frauen unbekannt oder sie konnten es nicht ausüben, weil sie dafür einen Wahlmann finden mussten. Am Beispiel von Elsa Hielscher kann Barbara von Hindenburg frauengeschichtliche Forschungen ergänzen, die das frühe Engagement der Frauen in den regionalen Frauenvereinen und deren Publikationsorganen sowie in den Kommunen herausgearbeitet haben.2

Wann und wie erfolgte die parteipolitische Politisierung der (bürgerlichen) Frauen? Elsa Hielscher arbeitete in der Freikonservativen Partei in Schlesien mit. Die konservativen Parteien lehnten grundsätzlich eine Mitgliedschaft von Frauen ab, doch nahmen einzelne Ortsvereine gelegentlich Frauen auf. Für die Freikonservative Partei gibt es eine wissenschaftliche Darstellung, die sich jedoch nicht auf die Partizipation von Frauen bezieht.3 Deshalb bezieht sich die Autorin auf die Forschungen von Kirsten Heinsohn zu den konservativen Parteien in Deutschland 1912 bis 1933.4 In der „Schlesischen Freikonservativen Parteikorrespondenz“ (1913/14) veröffentlichte Elsa Hielscher eine Artikelserie über „Frauen und Politik“. Sie wurden angekündigt als „erste politische Ausführungen einer freikonservativ organisierten Frau“. (S. 277). Ausschlaggebend für Hielschers Wahl der Freikonservativen Partei mag ihre persönliche Bekanntschaft mit Wilhelm von Kardorff gewesen sein, der Frauen in ihrem politischen Engagement unterstützte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Elsa Hielscher wie die meisten konservativen Parteimitglieder Mitglied der neugegründeten DNVP und Vorsitzende des Frauenausschusses Niederschlesiens ihrer Partei.

Bei der Fülle des Materials und der Forschungsliteratur ist es verständlich, dass die eigentliche parlamentarische Tätigkeit der Abgeordneten sowie die Erforschung der Lebensläufe in der Zeit des Nationalsozialismus oder die Fortsetzung der politischen Laufbahn nach 1945 nicht untersucht werden konnten. Hier bleibt die vorliegende Studie jedoch hinter den Ergebnissen der bereits genannten früheren Forschungen zurück. Nur wenn man das politische Handeln der Frauen in den Parteien und Parlamenten miteinbezieht, kann geklärt werden, ob und inwiefern die Kategorie Geschlecht das politische Handeln von Frauen prägte.

Die umfangreiche und kompetent recherchierte Darstellung lässt auf weitere geschlechtergeschichtliche Studien in der Politikgeschichte hoffen. Mit ihrer Analyse hat Barbara von Hindenburg gezeigt, dass eine Erforschung der Frauengeschichte nur mit einer heterogenen und methodisch vielfältigen Herangehensweise zu leisten ist. Karin Hausens Plädoyer für die „Nicht-Einheit der Geschichte“ ermöglicht es, immer mehr von den Meistererzählungen abzurücken.

Anmerkungen:
1 Matthias Alexander, Die Freikonservative Partei 1890 – 1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf 2000.
2 Heide-Marie Lauterer, Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949. Königstein/Ts 2002, S. 50.
3 Kerstin Wolff, „Stadtmütter“. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein/Taunus 2003.
4 Kirsten Heinsohn, Konservative Parteien in Deutschland 1912–1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2010.

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