G. Rossoliński-Liebe: Der polnisch-ukrainische Konflikt

Cover
Titel
Der polnisch-ukrainische Konflikt im Historikerdiskurs. Perspektiven, Interpretationen und Aufarbeitung


Autor(en)
Rossoliński-Liebe, Grzegorz
Erschienen
Anzahl Seiten
169 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Susanne Jobst, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

2016 kam der Film “Wołyń” (Wolhynien) des polnischen Regisseurs Wojciech Smarzowski in die Kinos, der in Polen etliche Preise abräumte. Dieses war offenbar genau das Kinoereignis, so der Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Polen, Gerhard Gnauck, in einer Filmkritik für die „Deutsche Welle“1, auf das Polen lange gewartet habe. Der zwischen 1939 und 1943 spielende Film stellt den Konflikt zwischen Polen und Ukrainern in Wolhynien dar, der später auch in Ostgalizien ausgetragen wurde und bis 1947 bzw. teilweise sogar bis in die 1950er-Jahre hinein andauerte.

Gewalttätige Hauptakteure waren die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und die „Ukrainische Aufstandsarmee“ (UPA), die neben der Wehrmacht, den Einsatztruppen, Roter Armee und der polnischen Armija Krajowa (AK) weitere Gewalt in die Region brachten. Am Ende waren insgesamt etwa 100.000 Opfer, davon ca. 15.000 Ukrainer, allein in diesem Konflikt zu beklagen. Unstrittig ist, dass es sich bei dem Kampf von UPA und OUN um den Versuch einer ethnischen Säuberung handelte, in Polen gibt es aber auch Diskursgruppen, die von einem Genozid sprechen. Das Thema ist also bis in unsere Zeit hoch emotional besetzt, wobei der Film Szmarzowskis übrigens nach dem Urteil Gerhard Gnaucks „kaum zur politischen Vereinnahmung durch irgendeine Seite“ taugt. Der Verfasser des hier zu besprechenden Bandes, Rossoliński-Liebe, widmet sich hingegen nicht der popkulturellen Interpretation der Ereignisse, sondern der geschichtswissenschaftlichen. Er geht von der unstrittigen Tatsache aus, dass das Thema vor 1990 in der Historiographie der Volksrepublik Polen und der Ukrainischen Sowjetrepublik aus naheliegenden ideologischen Gründen mehr oder wenige tabuisiert werden musste, galt doch die Doktrin der verordneten Völkerfreundschaft unter den so genannten Brüdervölkern; allenfalls wurden OUN und UPA als so genannte faschistische Kollaborateure der Nationalsozialisten behandelt. Nicht viel offener gingen Historiker in der Diaspora mit dem Thema der Massaker in Wolhynien und Ostgalizien um, waren diese doch z.T. selbst in die Ereignisse verstrickt gewesen, einige davon als Täter.

Mit einer kurzen Vorstellung der Methode (Diskursanalyse), dem Forschungsstand und der Darstellung der Ereignisse beginnt die Arbeit. Zentral für den Autor ist die Unterscheidung zwischen res gestae als ein als Tatenbericht verfasste historische Schriftgattung und der historia als erzählte und interpretierte Geschichte, so dass der Rekurs auf Hayden White und sein Werk „Auch Klio dichtet“ nicht erstaunt.2 Zu Recht weist er darauf hin, dass sowohl polnische als auch ukrainische Historiker für sich in Anspruch nehmen, die „Wahrheit“ zu erzählen und jedwede ideologischen oder sonstigen Vorannahmen von sich weisen, obwohl sie politisch-weltanschaulich sehr wohl positioniert sind. Die Arbeit gliedert sich im Wesentlichen in zwei Teile, wobei im ersten die Historiographie vor dem Systemwechsel um das Jahr 1990 behandelt wird, im zweiten Teil dann die ab 1989. Er macht in beiden Lager fünf Historikertypen aus: 1. „die Kämpfer“, dies sind „Zeitzeugen, Überlebende und Opfer des Konflikts, die zu Geschichtswissenschaftlern wurden“ (S. 146); 2. „die Legitimisten“, die sich als „Anhänger und Anwälte der UPA und der OUN“ verstehen (S. 146). Beide Typen gehören für den Autor zum Lager der nationalistischen Fundamentalisten. 3. „die Angreifer“, dies seien polnische Historiker, die faktenorientiert sind und die These einen ukrainischen Genozids an der polnischen Nationalität vertreten. 4. „die Verteidiger“. Diese ukrainischen Historiker setzen der polnischen Leidensgeschichte ein ukrainisches Martyrologium entgegen. 5. „die Versöhner“, die quasi die ,Guten‘ sind, da sie sich an einer kritischen und reflektierten Auseinandersetzung mit der schwierigen Geschichte versuchen, nationalgeprägte Vorannahmen unterlassen und dialogisch agieren (S. 148). Signifikant sei zudem eine weitgehende Ignorierung der Shoah, ohne die der Ort in der Zeit aber nicht darstellbar sei. Diese Befunde erscheinen nachvollziehbar und plausibel.

Dass Rossoliński-Liebe sich nicht vor toxischen, kontrovers diskutierten Themen und starken Thesen scheut, hat er mit seiner wichtigen Dissertation über Stepan Bandera bewiesen.3 Manchen Fachleuten wird noch in Erinnerung sein, dass es 2012 in einigen Städten der Ukraine zu Protesten gegen Rossoliński-Liebe kam, die von der dortigen politischen Rechten organisiert worden waren, als er während einer von der Heinrich Böll Stiftung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der deutschen Botschaft organisierten Vortragsreihe über die Massengewalt der OUN und UPA sprechen wollte. Das hier zu besprechende Werk ist allerdings Jahre vor der Bandera-Biographie geschrieben worden, handelt es sich doch um die 2005 an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) angenommene und nur oberflächlich überarbeitete Diplomarbeit. Wie Rossoliński-Liebe in seinem Vorwort schreibt, habe er sich zur Veröffentlichung dieser Qualifikationsarbeit mit so großer zeitlicher Verzögerung entschlossen, da auch mehr als siebzig Jahre nach den Ereignissen die Argumente und Haltungen auf beiden Seiten noch sehr ähnliche seien und das Thema historiographisch nicht zufriedenstellend aufgearbeitet worden sei. Er hoffe zudem, „zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine beitragen“ zu können (S. 9), was allerdings in Anbetracht der politischen Lage, nicht zuletzt in Polen, eher unwahrscheinlich ist.

Wie schon oben angesprochen, überzeugt das Ergebnis dieser Arbeit letztlich. Dennoch ist die Frage, ob sie hätte – zumal in der jetzigen Form – veröffentlicht werden müssen. Bereits 2009 wurde in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“ ein Artikel des Autors veröffentlicht, in der die Resultate der Forschungen in knapper und prägnanter Form dargelegt wurden.4 Dem vorliegenden Buch merkt man hingegen zu sehr ihren Charakter als Qualifikationsschrift an; und dies ist ein Stadium, über das der Verfasser ja schon eine ganze Reihe von Jahren hinaus ist, wie seine späteren Veröffentlichungen zeigen. Durchgängig wartet er mit ,guten Ratschlägen‘ für die von ihm untersuchten Historiker auf: Für diese, um nur ein Beispiel zu bringen, sei kennzeichnend, dass so gut wie keiner „zu theoretischen oder philosophischen Reflexionen über seinen Beruf und den Umgang mit der Geschichte sowie den Einfluss von Politik und gesellschaftlich-politischer Diskurse auf die Rekonstruktion der Vergangenheit“ in der Lage gewesen sei. Somit müsste der noble Gedanke, Objektivität zu erreichen, scheitern (S. 20). Zugleich arbeitet der Autor mit großer Inbrunst selbst mit dem Begriff der „Wahrheiten“, allerdings nach Nietzsche, wonach diese nur „Illusionen“ seien (S. 26). Reflexionen über die eigene professionelle Distanz sind in der Tat wirklich immer und jedem anzuraten.

Anmerkungen:
1 Gerhard Gnauck, Brutal und düster: "Wolhynien" erzählt vom Massaker an den Polen 1943, in: Deutsche Welle (DW), 7.10.2016, https://www.dw.com/de/brutal-und-d%C3%BCster-wolhynien-erz%C3%A4hlt-vom-massaker-an-den-polen-1943/a-35988385 (25.8.2018].
2 Hayden White, Auch Klio dichtet oder Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986.
3 Grzegorz Rossoliński-Liebe, Stepan Bandera, The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide, and Cult. Stuttgart 2014.
4 Grzegorz Rossoliński-Liebe, Der polnisch-ukrainische Historikerdiskurs über den polnisch-ukrainischen Konflikt 1943-1947, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 54-85.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension