Cover
Titel
Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte


Autor(en)
von Braun, Christina
Erschienen
Berlin 2018: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
537 S., mit 11 Abb.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margareth Lanzinger, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Das Buch nimmt seinen Ausgang von aktuellen Phänomenen wie Reproduktionsmedizin, Adoption, lesbischen und schwulen Paaren als Eltern etc. Diese interpretiert Christina von Braun als Ausdruck einer gesellschaftlichen Umstrukturierung, die von sich verändernden Geschlechterrollen und Familienkonstellationen begleitet sei und infolge dessen Verwandtschaft als leibliche Kategorie an Plausibilität verliere. In ihrer Studie untersucht von Braun die Vorgeschichte dieser Umstrukturierung und die durch diese herausgeforderte ‚natürliche‘ Ordnung, die bei der Autorin auf einem Kulturverständnis gründet, das Religion zentral setzt. Denn die Vorstellung von Verwandtschaft als „Blutsbande“ verknüpft von Braun direkt mit der Entstehung und Ausbreitung der Monotheismen, Judentum, Christentum und Islam. Die „allmähliche Entwicklung dieser Idee“ konstituiert das leitende Thema“ des Buches (S. 16). Das Grundgerüst der Umsetzung liefert ein a priori gesetzter Zusammenhang: Die Konstruktion der westlichen Blutsverwandtschaft wird vom Vater hergeleitet „nicht trotz sondern wegen der Unsicherheit der Vaterschaft“. Das macht ihn zur „Inkarnation von Schrift und Geld“ (S. 19). Schrift firmiert als Synonym für Religion und Gesetz; Verschriftlichung „inthronisiert die männliche Blutslinie“ (S. 36).

Im ersten von acht Kapiteln geht es um Definitionen und Formen von Verwandtschaft. Dazu zählt die Autorin als eine der wichtigsten „Verwandtschaft durch die Bindung an den Ort“, die sie schriftlosen Kulturen zuschreibt und im christlichen Europa mit „der Vermarktung des Bodens“ schwinden sieht (S. 39). Die „Wirkmacht der Verschriftlichungsprozesse“ hätten in der Folge zum „Herrschaftsanspruch des westlichen genealogischen Modells“ geführt (S. 42). Kapitel zwei schließt hier an: Seit der griechischen Antike habe das Alphabet „zur Verdrängung der oralen Kultur“ beigetragen (S. 91). Für die römische Antike setzt von Braun Geld und Schrift in ein enges Verhältnis und stellt einen Konnex zur Definition von Verwandtschaft über „Erbschaftslinien“ her, die in die christliche Gesellschaft hineinreiche (S. 109). Die Schrift wird damit „zum Markenschutz der männlichen Blutlinie“ (S. 72). Das geht mit einem „Konzept der Machtlosigkeit der Frau“ einher (S. 118).

Das dritte Kapitel über „Jüdische Matrilinearität“ und „christliche Patrilinearität“ fragt nach Unterschieden zwischen beiden Religionen und greift theologische und soziale Verwandtschaftskonzepte auf: rund um Inzestverbote, patrilinear orientierte Familiennamen, Erbfolge und Vorstellungen von Blut. Das vierte Kapitel „Rote Tinte“ handelt von der Etablierung der männlichen Blutslinie im christlichen Kontext. Als Indizien dafür werden die Abkehr von der Vorstellung eines weiblichen Samens sowie der Ausschluss der Frauen von Erbe, Blutlinie und Thronfolge erachtet. Der Kirche wird – gestützt auf die weitgehend widerlegten Goody-Thesen – über Heiratsverbote in der Verwandtschaft, die Normierung der Eheschließung und durch die Patenschaft ein wesentlicher Part in diesem Prozess zugeordnet. Dahinter steht die Annahme einer „Materialisierung“ der Blutlinie im Eigentum – Stichwort Primogenitur. Dieser Prozess lasse sich „fast nur für die Kirche und adelige Linien erforschen“, da meist nur hierfür „die notwendigen Dokumente“ vorlägen (S. 219). Die katholische Reichsritterschaft dient als Beispiel dafür, dass „die weibliche Erbschaftslinie“, ausnahmsweise „Berücksichtigung“ gefunden habe (S. 213). Denn hier definierte sich das Standeskriterium nicht nur über die väterliche, sondern gleichermaßen über die mütterliche Abstammung (S. 213). Ansonsten wird die Position adeliger (und anderer) Frauen auf „transgenerationelle ‚Care-Linien‘“, auf „Fürsorge“ reduziert (S. 220f).

Das fünfte Kapitel – „Kapital fließt in den Adern“ – führt in die Neuzeit und behandelt die Emotionalisierung der Familienbande. Dabei geht es um flüssiges Kapital, um Mitgift und einmal mehr um den Ausschluss der Töchter vom Erbe. Nahtlos ist hier der Übergang von Frauen als Akteurinnen bürgerlicher Gefühlskultur und Verwandtschaftspflege zu Essstörungen. Die Veränderungen im 19. Jahrhundert interpretiert von Braun in Richtung eines Wandels von einer familial gedachten Verwandtschaft zu einer „kollektiven Blutsverwandtschaft“, die titelgebend für Kapitel sechs ist: Nation und ‚Rasse‘ – im kolonialen Kontext und im Antisemitismus – sind die Kategorien, auf denen diese aufbaut. Die entstehenden Vererbungstheorien bis hin zur Genetik liefern das Unterfutter. Aus der Entdeckung des biologischen Vorgangs der Fortpflanzung leitet von Braun „die Voraussetzungen für die weibliche Erbberechtigung“ ab (S. 312). Das Spiel mit der Übertragung des Begriffs der Erbberechtigung von Vermögen auf Vererbungstheorien ist immer wieder missverständlich; inhaltlich ist eine solche Sicht nicht haltbar. Das siebte Kapitel zur „Entstehung des modernen Judentums“ beschreibt ebenfalls Erscheinungen des Wandels und hinterfragt das matrilineare Prinzip. Das achte Kapitel zielt auf die Gegenwart. Der Einstieg erfolgt über „die lange Geschichte des Patriarchats“, die hier in den „‚kaputten Väter[n]‘ kulminiert“, als „der sichere Vaterschaftsnachweis möglich“ wurde – während sich die unsichere Vaterschaft zuvor „auf Schrift, Gesetz und Geld“ gestützt habe, abgesichert durch „Ämter, Kapital, Grund und Boden“ (S. 401). Das zieht eine Schleife zurück zum Anfang des Buches und zu dessen Ausgangsaxiom. Das Resümee steht unter der Fragestellung „Das Ende der Blutsbande?“ und schreibt damit eine bereits vielfach kritisierte Praxis der Verabschiedung von Verwandtschaft aus der Geschichte fort – einem telelogisch-linearen Modernisierungsparadigma folgend, das das Buch durchzieht. Gegenargumente würde allein schon die aktuelle Bedeutung der Genetik liefern: in Zusammenhang mit Prädispositionen für Krankheiten, mit Debatten über die Rechte von ‚Kuckucksvätern‘ und ‚Kuckuckskindern‘ oder wenn genetische Tests über Familienzusammenführungen von Migrant/innen entscheiden.

Das Buch ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Eine enorme Fülle an Themen und Aspekten von der Antike bis ins 21. Jahrhundert werden abgehandelt, die niemand ernsthaft auf dem Stand der Forschung überblicken kann. Die folgenden Kritikpunkte beschränken sich auf einige Problemebenen und zentrale Bereiche. Neben unkritischen Bezugnahmen auf überholten Forschungsstand finden sich diverse Sachfehler: Auf dem Laterankonzil von 1215 wird das Verwandtenheiratsverbot nicht bis zu Cousins vierten Grade erweitert, sondern vielmehr vom siebten auf den vierten Grad (Cousins dritten Grades) reduziert (S. 191f). Die öffentliche Heirat wird erst im Gefolge der Reformation und des Konzils von Trient durchgesetzt; Priesterkonkubinate waren auch noch durch das 16. Jahrhundert hindurch verbreitet, nicht nur bis zum 11. Jahrhundert (S. 194). Aus dem Beziehungsnetz der fründe in Simons Teuschers Studie zum spätmittelalterlichen Bern werden Pfründe etc. (S. 229f). Immer wieder werden Aussagen ohne Verankerung in Raum, Zeit und sozialem Kontext getroffen, wenn etwa behauptet wird, dass Frauen „in fast allen Regionen“ gegen Ende des 17. Jahrhunderts „die Erbberechtigung verloren“ hätten (S. 186). Dazu wird seit Jahrzehnten sozial- und geschlechterhistorisch quer durch Europa geforscht mit anderen, räumlich und sozial differenzierten Ergebnissen. ‚Alte‘ Dichotomien werden bedient, wenn Ökonomisches gegen Soziales gesetzt wird – etwa in der Diskussion über die Gabe und Geld. Eigenwillige Verknüpfungen von Kontexten werden vorgenommen, wenn die Ehrbarkeit „der Frau“ zum „A und O“ der Kreditwürdigkeit des Ehemannes erklärt wird (S. 224) – und ebenso eigenwillige Abspaltungen: wenn dem „Westen“ attestiert wird, dass hier „die soziale Beziehung durch Texte, das Gesetz, Dokumente etabliert“ würde, nicht durch ein Beziehungsgeflecht (S. 50f). Wenn behauptet wird, dass sich bei „den bäuerlichen Schichten […] allmählich das Gesetz der Primogenitur“ durchgesetzt habe, so trifft eine unzulässige Verallgemeinerung – neben vielfältigen situativen Arrangements gab es Realteilung, gemeinsames Brüdererbe, Ultimogenitur – mit anachronistischen Rechtsvorstellungen zusammen. Primogenitur konnte genauso gut nicht verschriftlichter Gewohnheit folgen. Erbrecht kann nicht „deutlicher als jeder andere Indikator Aufschluss über die Vorstellung von Verwandtschaft“ geben (S. 227). Dafür ist das Einbeziehen der Erbpraxis, der jeweiligen Ehegüter- oder Mitgiftregime, Fragen der Testier- und Schenkungsfreiheit etc. und vertraglich getroffener Vereinbarungen unabdingbar.

Auf dem Klappentext wird das Buch als „intellektueller Genuss“ und „Grundlagenwerk“ gehypt – aus sozial-, verwandtschafts- und geschlechterhistorischer Perspektive ist das Buch ein Ärgernis. Von einem vorgefertigten Denkschema auszugehen, ist eine methodische Entscheidung. Schwierig wird dies überall dort, wo Forschungsergebnisse und -debatten nur partiell oder einseitig rezipiert werden, damit sie in das Schema passen. Das betrifft insbesondere die das Buch durchziehende generelle Entmachtung von Frauen und ihre Festschreibung auf Fürsorge bei gleichzeitiger ebenso genereller Ermächtigung der Männer. Die Geschlechtergeschichte schreibt seit Jahrzehnten dagegen an, von religiös-theologischen, rechtlichen etc. Normen und Diskursen auf soziale Praxis, Positionen und Handlungsräume von Frauen und Männern zu schließen oder diese gar gleichzusetzen. Genau das macht Christina von Braun durchgehend und reproduziert damit im Grunde eine ‚alte‘ Opfer- und Patriarchatsgeschichte und liest diese in Beiträge anderer hinein – so etwa im Fall von Giulia Calvi: Die Frauen, die in Florenz testamentarisch als donna e madonna eingesetzt waren, waren alles andere als von „ökonomischer Machtlosigkeit“ betroffen (S. 222). Die dominierende top-down-Perspektive steht grundsätzlich im Widerspruch zu jedem breit gefassten neueren Kulturbegriff. Aneignungen durch historische Akteure und Akteurinnen werden konsequent ausblendet, wenn Schrift nur als Machtinstrument ‚von oben‘ gesehen wird, die Existenz von Dokumenten, etwa zu Erbe und Vermögen, an die Lesefähigkeit und damit Eliten geknüpft wird. Zugleich wird ein allzu simples lineares Ablösungsparadigma der Mündlichkeit durch Schriftlichkeit suggeriert. Archivbestände, einschlägige Studien ebenso wie theoretische Debatten weisen in ganz andere Richtungen.

In der Fixierung auf „Blutsbande“ wird schließlich das breite Verwandtschaftsverständnis des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit übersehen, obwohl auf Schwägerschaft und Patenschaft rekurriert wird, jedoch ohne sie als zeitgenössische Formen von Verwandtschaft ernst zu nehmen. Insofern als Religion zentral gesetzt wird, wäre ein systematischerer Bezug auf dieses breite und die christliche Gesellschaft prägende Verwandtschaftskonzept des kanonischen Rechts naheliegend gewesen. Zugleich ist die von der Antike ins Mittelalter fortgeführte ungebrochene Bedeutung der „Blutsbande“ in Frage zu stellen. Die historische Verwandtschaftsforschung geht davon aus, dass im Mittelalter Fleisch als Verwandtschaftssubstanz wesentlich wichtiger gewesen ist. Dass der Rekurs auf unterschiedliche Verwandtschaftssubstanzen kontextabhängig war, hätte notwenige Differenzierungen ermöglicht, allerdings auch das Denkschema, dem das Buch folgt, gesprengt. Die getroffenen Setzungen und flimmernden Assoziationsketten halten einem ‚Realitätscheck‘ auf Grundlage der theoretischen und empirischen Forschungslandschaft nicht stand – von einer „Kulturgeschichte“ sollte dies jedoch zu erwarten sein.