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Titel
Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933


Autor(en)
Horn, Elija
Reihe
Historische Bildungsforschung
Erschienen
Bad Heilbrunn 2018: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Philipp Brunner, Geschichte der modernen Welt, ETH Zürich

Seit seinem Erscheinen 1978 hat Edward Saids Orientalism und das darin beschriebene namensgleiche diskursanalytische Theorem des Orientalismus – das einseitige, von festgeschriebenen Mustern und Narrativen strukturierte Reden über den sogenannten „Orient“ – eine kaum überschaubare Vielzahl von Studien nach sich gezogen. Dass das durchaus kontroverse Werk auch vierzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer fasziniert und Anschluss für vielfältige Untersuchungen bietet, zeigt Elija Horns jüngst erschienenes, auf seiner Dissertationsschrift basierendes Buch Indien als Erzieher, in dem sich der Historiker der deutschen Reformpädagogik und (wiewohl weniger intensiv) der deutschen Jugendbewegung zwischen 1918 und 1933 widmet und deren Rezeption und Aneignung Indiens sowie Indien zugeschriebener Bilder und Eigenschaften diskursanalytisch dekonstruiert.

Wie Horn in Kapitel 2 seiner Studie zu den soziokulturellen Bedingungen der Weimarer Republik ausführlich darlegt, war die Zwischenkriegszeit in Deutschland vor allem von der Wahrnehmung einer andauernden Krise geprägt. Strategien zur deren Überwindung wurden vor allem in einem bürgerlich-protestantischen Milieu sowohl in der Reformpädagogik als auch in der Jugendbewegung gesehen, die beide ihre Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft in einer Sehnsucht nach einer idealisierten gesellschaftlichen und individuellen Ursprünglichkeit ausdrückten. Interesse an Geistesströmungen wie der Theosophie und auch eine oftmals wenig konkrete Indienschwärmerei waren in diesem Milieu, dem Horn auch ‚vagierende Religiosität‘ im Sinne Thomas Nipperdeys zuschreibt, weit verbreitet.

Die zentralen Elemente der allgemeinen deutschen Indienrezeption werden entsprechend in Kapitel 3 aufgearbeitet. Horn verweist hier vor allem auf in der Romantik geprägte Bilder, die Indien dem Ideal der „Kindheit“ ähnliche, exotisierende und meist zivilisationskritisch motivierte Attribute zuschrieben. Auch frühe Verknüpfungen von Indienschwärmerei und deutschnationalen Interessen verortet Horn in der prägenden romantischen Indienrezeption des frühen 19. Jahrhunderts. Während Kapitel 2 und 3 für Horn das diskursanalytische ‚Archiv‘ beschreiben, das die im Diskurs gespeicherten Aussagemöglichkeiten definiert, skizziert das anschliessende längere Kapitel 4 anhand zahlreicher konkreter Beispiele die vom Diskurs definierten ‚Räume des Sprechens‘, das heisst konkrete Formen der Indienrezeption wie zum Beispiel die Lektüre indischer Schriften, seltene Indienreisen oder persönliche Kontakte deutscher und indischer Akteure. Im ebenfalls sehr ausführlichen fünften und letzten Kapitel der Studie werden schliesslich die konkreten Inhalte und Interpretationsstrategien der sich mit Indien beschäftigenden Pädagogen und Pädagoginnen und Jugendbewegten analysiert.

Einen Schwerpunkt innerhalb der von Horn berücksichtigen Beispiele bildet die Odenwaldschule in Ober-Hambach um Paul und Edith Geheeb und deren Netzwerk. Ausführungen zu auch politisch durchaus heterogenen Figuren sowie diverse Exkurse zu Personen, die sich am Rande der von Horn beschriebenen Subkultur bewegten, ermöglichen jedoch eine breite und umfassende Betrachtung des uneinheitlich und schwer einzugrenzenden Milieus von Reformpädagogik und Jugendbewegung.

Wie Horn deutlich macht, kann die Indienrezeption dieser Kreise als eine sich aus dem allgegenwärtigen Krisenbewusstsein speisende Strategie verstanden werden. Aufbauend auf etablierten orientalistischen bzw. indophilen Diskursen, diente eine Bezugnahme auf Indien im reformpädagogischen und jugendbewegten Kontext meist der Kritik der eigenen Gesellschaft. Indien und einer indischen Pädagogik zugeschriebene Eigenschaften wie Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Unschuld oder Spiritualität wurden im Kontrast zu wahrgenommenen zeitgenössischen Missständen in Deutschland und Europa und teils mit regelrechten Erlösungserwartungen inszeniert. Diese infantilisierende Interpretation Indiens spiegelte gleichzeitig das zeitgenössische Verständnis der Reformpädagogen gegenüber dem Kind, dem ähnliche Charakteristika und ähnliches Potential zugeschrieben wurden. Indische, reformerisch und pädagogisch aktive Zeitgenossen wie Rabindranath Tagore oder Mohandas K. Gandhi wurden zu idealen Erziehern stilisiert, teilweise bestanden persönliche Kontakte. Einige wenige deutsche Institutionen besuchende Inder, darunter Schüler und Schülerinnen Tagores, bestätigten auto-orientalisierend viele der vorherrschenden Stereotype und übertrugen derartige Bilder gerne auch auf führende deutsche Reformpädagogen. Wie Horn deutlich macht, diente die postulierte Nähe zu Figuren wie Tagore einigen deutschen Pädagogen wie beispielsweise Paul Geheeb auch der eigenen Selbstinszenierung und -legitimation, wobei dies genuines Interesse an Indien (oder dem, was darunter verstanden wurde) nicht ausschloss.

Obwohl Horns Monographie in der Reihe ‚Historische Bildungsforschung‘ erschienen ist, darf der Leser keine grossen Ausführungen zu historischer Pädagogik erwarten. Dies ist keineswegs ein Versäumnis Horns, sondern liegt vielmehr an den vom Autor untersuchten Akteuren, für die Indien meist nur ein diffuser Bezugspunkt für die eigenen Vorstellungen blieb. Interesse an tatsächlichem pädagogischen Austausch bestand, wie Horn darlegt, kaum. Diese diskursiven Mechanismen zementierten und verschleierten Horn zufolge tatsächliche Machtverhältnisse und waren damit mitverantwortlich für die Fest- und Fortschreibung sich bis heute haltender ‚Orient‘- und Indiendiskurse.

In ihren Einzelaspekten sind Horns inhaltliche Foki nur bedingt neu. Sowohl zur deutschen bildungsbürgerlichen ‚Indomanie‘ als auch zu lebens- und bildungsreformerischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts existiert bereits ein ansehnlicher Korpus an Forschungsliteratur. Die Rezeption Tagores oder Gandhis in Deutschland oder auch die Geschichte der Odenwaldschule, beides zentrale und wiederkehrende Elemente in Horns Studie, wurden schon vor Jahrzehnten Gegenstand einer ganzen Reihe von Untersuchungen in verschiedenen Disziplinen.1

In ihrer Kombination bietet Indien als Erzieher jedoch einen gelungenen Überblick, der kompetent die verschiedenen, bisher tendenziell an einzelnen Biographien oder Institutionen orientierten Einzelstudien zusammenführt. Dabei geht die Untersuchung weit über eine Synthese von Sekundärliteratur und bekannten Darstellungen hinaus und zeichnet sich insbesondere in der zweiten Hälfte durch eine äußerst detaillierte, originäre Quellenanalyse aus. Die diskursanalytisch dichte Beschreibung von persistenten und wiederkehrenden Netzwerken, Motiven und Narrativen anhand der Beispiele zahlreicher und heterogener Akteure kann auf den Leser zwar bisweilen repetitiv wirken, zugleich darf die Tiefe der Analyse aber auch als eine Stärke der Arbeit verstanden werden. Das innovative Moment von Horns Studie liegt dabei insbesondere in dem Ansatz, die Indienrezeption in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung nicht nur zu beschreiben, sondern anhand des Orientalismus-Konzeptes mit einer dezidierten und konsequenten diskursanalytischen Methodik zu entschlüsseln.

Dieser Ansatz bringt zugleich aber auch Schwierigkeiten mit sich. Problematisch erscheint vor allem die starke Einengung der Untersuchung auf deutsche Akteure. Wie Horn selbst schreibt, gilt die „Internationalität der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts […] als unbestritten“ (S. 42). Die globale Dimension der Reformpädagogik, beispielsweise im New Education Fellowship, ist allerdings in Indien als Erzieher nur insoweit relevant, als dass sie die Gelegenheit zur Begegnung zwischen deutschen und indischen Akteuren ermöglichte. Davon abgesehen bleiben nicht-deutsche Stimmen – mit Ausnahme vereinzelter zeitweise in Deutschland lebender Inder – weitgehend unhörbar. Dies betrifft nicht nur den quellenanalytischen Teil der Arbeit, in dem eine Reduktion und Fokussierung forschungspraktisch vermutlich unabdingbar ist. Überraschender ist die ebenso weitgehende Absenz von sekundären Verweisen auf vorausgegangene oder auch zeitgenössische Formen nicht-deutscher orientalistischer, allgemeiner als auch reformpädagogischer und jugendbewegter Indienrezeption. Dabei war der affirmative, romantische Orientalismus, auf dessen diskursive Strukturen und Motive sich die von Horn beschriebenen deutschen Akteure hauptsächlich bezogen, beispielsweise im angelsächsischen oder auch französischem Raum ein ebenso prominentes Phänomen und wurde auch entsprechend erforscht.2 Orientalismus macht(e) nicht an Landesgrenzen halt. Wie Horn selbst formuliert, fragt eine Diskursanalyse „nach Interdependenzen und Verbindungen zwischen Diskursen“ (S. 23), weshalb die konsequente Ausblendung weiterer diskursiver Akteure und Räume problematisch und die Postulierung einer dezidiert „deutschen“ Weimarer Indienrezeption künstlich wirkt – und im Gegenzug das ebenso persistente wie historiographisch fragwürdige Narrativ eines Exzeptionalismus deutsch-indischer Verbindungen stärkt. Wie insbesondere im Fazit des Buches deutlich wird, ist es ein Anliegen Horns, durch das Beispiel der orientalistischen Indienrezeption in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung im Foucault’schen Sinne die Strukturen und Mechanismen von Wissen und Macht zu dekonstruieren. Tatsächlich hätte auch diesem Anliegen eine etwas feinere historische Kontextualisierung deutscher Beispiele und eine stärkere Einbindung respektive Berücksichtigung des transnationalen (und transimperialen) Ausmasses des Diskurses gut getan.

Nichtsdestotrotz, auch wenn der diskursanalytische Ansatz aufgrund des engen ‚deutschen‘ Fokus teilweise an seine Grenzen gelangt, ist Horn mit Indien als Erzieher eine beeindruckende Studie gelungen, der es in ihrer Detailfülle gelingt, faszinierende Fallbeispiele mit aussagekräftigen Thesen zu kombinieren. Als Beitrag zur weiteren Dekonstruktion orientalistischer Diskurse besitzt die Arbeit damit auch das Potential, die Rolle eines Standard- und Referenzwerkes zur deutschen Reformpädagogik und deren Indienrezeption einzunehmen.

Anmerkungen:
1 In Monographielänge zum Beispiel in Martin Kämpchen, Rabindranath Tagore in Germany. Four Responses to a Cultural Icon, Shimla 1999; resp. Ellen Schwitalski, “Werde, die du bist”. Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Bielefeld 2004.
2 Vgl. Ronald Inden, Imagining India, Oxford 1990; J.J. Clarke, Oriental Enlightenment. The Encounter between Asian and Western Thought, London 1997; Roland Lardinois, L’Invention de l’Inde. Entre ésotérisme et science, Paris 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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