A. Vasilyev: Russia's Middle East Policy

Titel
Russia's Middle East Policy. From Lenin to Putin


Autor(en)
Vasilyev, Alexey
Reihe
Durham Modern Middle East and Islamic World Series
Erschienen
London 2018: Routledge
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
£ 125.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Casula, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die russischen Beziehungen zum Nahen Osten stehen momentan im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit wie schon lange nicht mehr. Dabei beginnt der russische Bezug zu dieser Weltregion nicht erst mit der Syrien-Intervention 2015. Vielmehr waren die Bindungen insbesondere nach der Suez-Krise 1956 bereits für die Sowjetunion von grosser Bedeutung. Zwar hatte die UdSSR in vielen Staaten des Nahen Ostens nicht immer (politisch) zuverlässige Alliierte, doch waren sich beide Seiten immer wichtige Partner, sei es im Nahostkonflikt oder im Kalten Krieg.

Es ist der Verdienst von Alexey Vasilyev, diese historische Dimension in seinem Buch zu verdeutlichen. Vasilyev ist ein intimer Kenner der Materie. Er ist ein etablierter und angesehener Nahostforscher, in jungen Jahren Pravda-Korrespondent in der Region, später Direktor des Afrika-Institutes der Akademie der Wissenschaften und Herausgeber mehrerer Monographien und Sammelbände. Seine grösste Stärke aber ist zugleich auch seine grösste Schwäche, die das ganze Buch durchzieht: seine Nähe zur Politik. Damit ist das Buch in Inhalt, Form, Umfang und Perspektive mit Evgenii Primakovs Memoiren zu seiner Zeit im Nahen Osten vergleichbar1; mit dem Unterschied freilich, dass es anders als dessen Buch vorgibt, einen wissenschaftlich-objektiven Blick auf die russischen Beziehungen zum Nahen Osten einzunehmen.

Vasilyev stellt die grosse Bedeutung des Nahen Ostens für Russland heraus und trägt den ambitiösen Untertitel «von Lenin bis Putin», was die regionale und zeitliche Breite des Werks durchblicken lässt, aber auch die teils groben Pinselstriche, mit denen er versucht, einen roten Faden in der russischen Aussenpolitik zu zeichnen. Das Buch beruht dabei in wesentlichen Teilen auf einer Monographie von 1993, die stark erweitert und redigiert wurde2 und die ebenfalls in englischer Übersetzung vorliegt.3 Bereits dort findet sich eine Kernthese, die auch das hier zu besprechende Buch durchzieht. Die sowjetische und dann die russische Aussenpolitik seien vom Messianismus zum Pragmatismus übergegangen. Die Detailfülle des Buches kommt in dem ersten Teil des Buches zum Tragen, in denen es um die sowjetische Periode der Beziehungen geht, und sie lässt auch über das holprige Englisch bzw. die teils nachlässige Übersetzung hinwegsehen, die von einem (nicht muttersprachlichen) Mitarbeiter Vasilyevs erstellt wurde. In diesem ersten Teil des Buches diskutiert der Autor insbesondere die Periode unter Brezhnev. Er beleuchtet die Verstrickungen des Sechstagekrieges und wie die Sowjetunion ihre Position in der Region danach festigen konnte: Die Strategie habe darin bestanden, den westlichen Einfluss in der Region so weit wie möglich zu minimieren (S. 82).

Für Vasilyev sind die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Staaten des Nahen Ostens vom Kalten Krieg geprägt. Er unterstreicht die tektonischen Verschiebungen, die das Jahr 1979 für die Position Moskaus in der Region mit sich brachte, darunter nicht nur den Seitenwechsel Ägyptens, sondern auch die Revolution in Persien und die Gründung der Islamischen Republik Iran sowie den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Zudem erzielten die sowjetisch-syrischen Beziehungen in dieser Zeit eine neue Qualität (S. 113). Dabei blieb Syrien in den Worten eines russischen Diplomaten ein wünschenswerter, aber schwieriger Partner (S. 114). Moskau war mit Syriens Haltung im Nahost-Konflikt ebenso unglücklich, wie über dessen Beziehungen zum Irak. Vasilyev diskutiert auch die Beziehungen zu Befreiungsbewegungen im Nahen Osten, insbesondere im Dhofar, wo Vasilyev bereits als Reporter tätig war, und über die besonderen Beziehungen zu Südjemen (S. 160) und Afghanistan (S. 208), die indes wenig Überraschungen bereithalten.

Interessanter wird das Buch im Hinblick auf die ersten Jahre des postsowjetischen Russlands, einer wenig beleuchteten Periode, auch weil in dieser Zeit Russlands Interesse am globalen Süden besonders gering ausgeprägt war. Für Vasilyev sind dies – in Anspielung auf Bunins „die verfluchten Tage“ – die „verfluchten Jahre“. Der Zusammenbruch der UdSSR sei – und hier übernimmt der Autor verbatim ein Statements Vladimir Putins – die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen (S. 303). Zwar zog sich Russland in dieser Zeit weitgehend aus dem Nahe Osten zurück, doch zugleich habe der Nahe Osten Russland nicht losgelassen: insbesondere der „muslimische Faktor“ habe angesichts der tschtschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen eine zunehmend wichtige Rolle gespielt (S. 312). In diesem Kapitel greift Vasilyev auch unverhohlen auf Arbeiten seiner Doktoranden zurück (Beziehungen zw. Russland und Ägypten (S. 337–341).

Der schwächste Teil des Buches ist sicherlich jener über die gegenwärtigen Beziehungen und die Tagespolitik. Hier entpuppt sich Vasilyev als Proto-Politiker, der unkritisch die geläufigsten Positionen der russischen Politik gebetsmühlenartig wiederholt. Einerseits lobt er beispielsweise die „höchst ausgeglichene und realistische Perspektive Sergej Lavrovs“ zum Arabischen Frühling und zitiert ihn über zwei Seiten (S. 430–431) mit einer Ansprache. Andererseits argumentierte Vasilyev wenige Seiten zuvor, dass weder die Armut noch die politische Unterdrückung in der arabischen Welt sonderlich stark gewesen seien (S. 405) – beides Standardargumente im russischen Diskurs, welcher ein gewisses Ausmass an Mangel und Unfreiheit im Nahen Osten wohl als normal erachtet. Für Vasilyev sind es vor allem demographische Gründe, das heisst der hohe Anteil Jugendlicher, der entscheidend für den Ausbruch der Proteste gewesen sei (S. 406). Zugleich distanziert er sich von Verschwörungstheorien, die im Westen den Alleinschuldigen für die Entwicklungen im Nahen Osten ausmachen (S. 431). In der Syrien-Frage sind die Präferenzen des Autors für das Assad-Regime und die Skepsis gegenüber der westlichen Politik in der Region aber wieder deutlich: die Massenmedien hätten, von den westlichen Regierungen befördert, eine „alternative“ oder „pseudo Realität“ geschaffen, die die „Massen der Araber“ gegen das Regime Assads aufgebracht hätten (S. 477).

Immer wieder betont Vasilyev diese vermeintliche Rationalität der sowjetischen und russischen Aussenpolitik. Das ist nicht immer widerspruchsfrei. So bedauert er einerseits den Untergang dieser zuletzt vernünftigen Sowjetunion, beklagt aber auch das kommunistische Experiment, zu dessen Opfer er und die russischen Menschen allgemein geworden seien. Vasilyevs Untersuchung darf also keinesfalls als rein akademisches Buch gelesen werden. Es hat zwar einen wissenschaftlichen Anstrich, ist aber in weiten Teilen ein politisches Buch und eine exzellente Primärquelle, die einen Einblick in die gegenwärtige russische Politik und Wissenschaft erlaubt. Es zeigt deutlich, wie die Sowjetunion der 1970er-Jahre sowie Putins Russland, beide verkörpert in Vasilyev, um den Erhalt des Status quo müht sind. Seine konservative Haltung kommt dabei im Gewand der Rationalität daher. Hinter der Rhetorik des Pragmatismus steckt aber keineswegs - wie uns der Autor glaubhaft machen will - eine De-Ideologisierung, sondern das Hochhalten einer neuen Ideologie: Die vermeintliche Ideologiefreiheit der russischen Aussenpolitik ist ein Versuch etablierte Grossmachtansprüche zu rationalisieren. Vasilyev ist dafür eine adäquate Inkarnation, weil sein journalistisches und akademisches Wirken genau im Spätsozialismus der 1970er-Jahre einsetzte, als die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, der Glaube an die eigene Ideologie in weiten Teilen der Bevölkerung aber bereits verblasste. Die Generation Vasilyevs, aber auch das akademische Milieu, dem er entstammt, betrachteten Perestroika und die Jelzin-Jahre mit grossem Unmut, weil sie in dieser Zeit ihre Privilegien verloren. Diese politischen Dinosaurier erleben aber im „Pragmatismus“ und im Grossmachtdenken unter Putin eine kleine Renaissance, die unter anderem im Nahen Osten ausgelebt wird. Zum besseren Verständnis dieser Zusammenhänge in der russischen Aussenpolitik leistet das Buch ausgezeichnete Dienste und dies ist vermutlich durchaus im Sinne des Autors. Was das Buch nicht erlaubt, ist eine analytische Langzeitperspektive auf Russlands Wirken im Nahen Osten.

Anmerkungen:
1 Evgenii Primakov, Russia and the Arabs, New York 2009.
2 Alexey Vasilyev, Rossija na Blizhnem i Srednem Vostoke: ot messianstva k pragmatizmu, Moskau 1993.
3 Alexey Vasilyev, Russian policy in the Middle East: from messianism to pragmatism, Reading 1993.

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