X.M. Núñez Seixas u.a. (Hrsg.): Regionalism and Modern Europe

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Titel
Regionalism and Modern Europe. Identity Construction and Movements from 1890 to the Present Day


Herausgeber
Núñez Seixas, Xosé M.; Storm, Eric
Erschienen
London 2019: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XI, 365 S.
Preis
£ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Troppmann, Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz

Der Sammelband resultiert aus einer Tagung vom 10. bis 12. November 2016 an der Universität Leiden, welche die Beziehung zwischen Staat, Nation und Region und vor allem die Betonung von Kontrasten wie auch Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellte. Um es vorweg zu nehmen: Die Kapitel und Themen können aufgrund des begrenzten Umfangs lediglich komprimierte Überblicke bieten. Weiterführende Literatur ist am Ende eines jeden Kapitels ausgewiesen. Die Darstellung erfolgt pointiert, auch wenn teilweise inhaltliche Überschneidungen entstehen, und zieht sich mehrheitlich vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Aufgezeigt werden die Konstruktion der regionalen Identität und ihre Verflechtungen sowie die Entstehung regionaler Bewegungen. Alle Artikel weisen einen vergleichenden, interdisziplinären Ansatz auf und betonen die Unterschiede zwischen Ost und West.

Das Buch gliedert sich in drei thematische Abschnitte. Die Kapitel zwei bis sechs behandeln kulturelle Aspekte und Diskussionen zur Sprache, zur Folklore, zur Natur, zum Essen und Tourismus sowie damit verbundene Einflüsse vor allem im 20. Jahrhundert. Johannes Kabatek („Language and Regionalism“) fokussiert die Bedeutung der sprachlichen Identität und deren Konstruktion, vor allem die Bedeutung der Muttersprache für die Genese einer kollektiven Identität. Zudem behandelt Kabatek regionale Dialekte als Zeichen gegen eine Universalisierung, die nach der Französischen Revolution an Einfluss gewinnen. In der Gegenwart entstehen, zum Beispiel durch globale Wanderungen, vermehrt hybride Sprachformen.

David Hopkin („Regionalism and Folklore“) untersucht für Westeuropa die seit der Romantik aufkommende Folklore und Einflüsse auf diese, zum Beispiel anhand von Volksmärchen und -liedern und zeigt, dass viele Regionen ähnliche Traditionen aufweisen. Als Teil des Regionalismus und zu dessen Unterstützung werden auch Karten und Atlanten herangezogen, die um 1880/90 als Methode aufkamen. Hopkin fragt schließlich danach, was Folklore für diejenigen, die sie praktizieren, überhaupt bedeutet.

Jan-Henrik Meyer („Nature: From Protecting Regional Landscapes to Regionalist Self-Assertion in the Age of the Global Environment“) behandelt unterschiedliche Sichtweisen auf die Natur im Spiel von Modernisierung und Kapital. Er beschreibt einen Prozess, der von der Romantisierung der Natur durch die Mittelklasse im 19. Jahrhundert ausging und mit der deutschen Heimatschutzbewegung seit 1905 und dem Schutz des Naturerbes fortgesetzt wurde. Auch die ökologischen Bewegungen der 1970er-Jahre und ihre Reaktion auf Atomenergie, Umweltverschmutzung und Klimawandel griffen diesen Diskurs auf.

Kolleen M. Guy („Regional Foods“) beschäftigt sich in einer breiten Untersuchung mit Lebensmitteln und ihrer Bedeutung für regionale Identitäten. Sie schildert, wie durch technische Innovationen des 19. Jahrhunderts, Gefriergeräte zum Transport der Lebensmittel über weitere Strecken und neue schnellere Transportmittel, die Globalisierung der Märkte für Nahrungsmittel fortschritt. Bereits hier gab es Widerstände: Als Beispiel zieht Guy die Adaption der Kartoffel in der Region heran, welcher zunächst vielerorts Hexenkraft zugeschrieben wurde, die nur langsam Übernahme fand und deren Zubereitungsarten regional variieren. In Europa existiert heute ein unterschiedliches Schutzbedürfnis regionaler Produkte, das im Süden deutlich stärker als im Norden ausgeprägt ist.

Eric Storm („Tourism and the Construction of Regional Identities“) beschreibt den Ausbau der Verkehrswege als Voraussetzung, um Regionen und ihre typischen Merkmale kennenzulernen, aber auch für den Massentourismus in Südeuropa nach 1945 oder für den „Heimwehtourismus“ der deutschen Vertriebenen. Tourismus, so betont er, war aber schnell auch ein Wirtschaftsfaktor und es galt, durch die Bildung von Images und Stereotypen im Rahmen eines modernen Marketings mehr Besucher anzuziehen. Dargestellt wird zudem, wie Europäer im 19. Jahrhundert für Ausstellungen (Weltausstellung 1867 in Paris oder 1873 in Wien) ethnographische Dörfer nachbildeten, um Regionen und Spezifika vorzustellen, was später auch für Museen übernommen wurde.

Die Kapitel sieben bis neun thematisieren die Region in Interaktion mit Ideologien: Faschismus, Kommunismus und Demokratie. Die Darstellung beschränkt sich auf bestimmte Länder und Regime, die diese Ideologien adaptierten. Xosé M. Núñez Seixas („Fascism and Regionalism“) orientiert sich an den faschistischen Regimen in Italien, Deutschland und Portugal. Diese hatten zwar meist eine geringe Verbindung zur regionalen Ebene, nutzten aber regionale Elemente (Folklore und Dialekte), um die Bevölkerung zu binden und separatistische und regionale Bewegungen einzudämmen.

Susan Smith-Peter („Communism and Regionalism“) untersucht den Kommunismus in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten und zeigt historische Zäsuren in Bezug auf die regionale Ebene auf. Problematisch ist hier die Vereinheitlichung, da große Unterschiede zwischen den Regionen, Bedürfnisse und jeweiligen Abhängigkeiten von Moskau bestehen.

Daniele Petrosino („Democracy and Regionalism in Western Europe“) beschreibt regionale Autonomien und Bewegungen in demokratischen Systemen. Mit Italien, wo 1947 fünf Regionen autonom wurden, gibt Petrosino ein Beispiel für Dezentralisierung. Der Trend zur Regionalisierung weitete sich vor allem seit den 1970er-Jahren aus, Spanien folgte 1975, Frankreich 1982. Gegenwärtige Entwicklungen werden am Beispiel einer möglichen Abspaltung von Schottland und Katalonien nach 2008 beschrieben.

Mit geografischen Regionen und deren spezifischem Regionalismus beschäftigt sich der dritte Abschnitt des Buches. Die Entwicklungen werden mehrheitlich ab dem späten 19. Jahrhundert untersucht und teilweise auch benachbarte Länder einbezogen. Jeremy DeWaal („Regionalism and its Diverse Framings in German-Speaking Europe across the Long Twentieth Century“) behandelt deutschsprachige Regionen und deren politische, nationale und kulturelle Rahmenbedingungen. Vorherrschend ist hier der Begriff der „Heimat“, der nach 1871 durch Bewegungen zur Vereinheitlichung der Staaten aufkam.

Peter Stadius („Scandinavia: Regionalism in the Shadow of Strong States“) beschreibt den Regionalismus in Skandinavien, wo die regionale Identität bedeutsam ist, obwohl die Regionen im politischen System keine Rolle spielen. Die Regionen bilden die Herzstücke der Staaten mit ihrer authentischen Tradition, wo sich Verweise auf das Vaterland lebendig erhalten. Stadius unterscheidet zwischen Kern- und transnationalen Grenzregionen.

Joep Leerssen („Regionalism in the Low Countries“) stellt mit den Benelux-Staaten Regionen mit starken Partikularisten vor, in denen Unterschiede in Sprache und Religion dominieren. Heute sind diese Regionen insbesondere durch den Zentralismus herausgefordert. Mit Friesland beziehungsweise dem 1930 gegründeten „Fryske Rie“ (Friesenrat) wird ein Beispiel für interregionale Kontakte einer regionalen Bewegung gegeben.

Xosé M. Núñez Seixas und Fernando Molina („Regionalism in South-Western Europe: France, Spain, Italy and Portugal“) beschreiben in ihrem Beitrag die Dezentralisierung von Portugal und Spanien. Zum Beispiel werden für Spanien die Bewegungen in Katalonien und dem Baskenland vorgestellt. Der Tourismus hat seit Jahrzehnten großen Einfluss auf die Sichtbarkeit dieser Regionen.

Irina Livezeanu und Petru Negura („Borderlands, Provinces, Regionalisms, and Culture in East-Central Europe“) vermitteln ein Bild von Regionen mit Beispielen aus Rumänien und der Republik Moldau, in denen große Spannungen, aber auch Zugkräfte für den Staat aus der Region heraus bestehen. Vor allem sind es Zwischenräume und hybride Identitäten in Zentren und Grenzregionen, von denen kleine Staaten profitieren. Vorherrschende Gemeinsamkeit in diesem Teil Europas ist die Multikulturalität.

Mark Bassin und Mikhail Suslov („Regionalism in Russia“) schreiben über Russland beziehungsweise die frühere Sowjetunion, wo der angestrebte Zentralismus seit der Zarenzeit als Kernstück oder Spannungsfeld gelten kann. Spannungen sind Teil dieses föderalen Gefüges, da viele Regionen mit starken regionalen Identitäten nach Eigenständigkeit streben. Expansionen führten zu beweglichen Grenzen, innerhalb derer Regionen kaum ausgeprägt waren und auch unterdrückt wurden. Als Beispiel führen Bassin und Suslov Sibirien an, das in der Vergangenheit als „Kolonie“ für Rohstoffe galt und wo sich eine starke regionale Identität ausbildete, verbunden mit dem Wunsch nach einem Status als föderale Republik, ähnlich der Krim oder Tschetschenien.

Jörg Hackmann („Baltic and Polish Regionalism(s): Concepts, Dimensions and Trajectories“) stellt in einer breiten Perspektive regionale Identitäten in Polen und im Baltikum dar. In dieser Region finden sich ebenso unterschiedliche Bewegungen, wobei der Regionalismus zwischen teilstaatlicher und supranationaler Ebene oszilliert und die Regionen von sich verändernden Kulturlandschaften geformt wurden, was ein komplexes Gebilde entstehen ließ.

Tchavdar Marinov („Regionalism in South-Eastern Europe“) untersucht eine vielfältige Region mit recht verschiedenen Entwicklungen, vor allem in Regionen, die zukünftig Nationalstaaten werden können. Die Komplexität der Nachfolgestaaten Jugoslawiens wird anhand der historischen Hintergründe analysiert, wobei aktuelle Entwicklungen einbezogen werden. Marinov beschreibt zum Beispiel für Kroatien den dalmatischen und istrischen Regionalismus und dessen stark ausgeprägte regionale Identität.

James Kennedy („The Emergence of Conjoined Nationalisms and Regionalisms in the British Isles“) thematisiert eine Region mit enger Bindung an die Monarchie beziehungsweise Union mit ausgeprägter regionaler Identität. Behandelt werden zudem die Devolution und der Schutz von Regionalsprachen.

Mit diesem Werk liegt eine umfassende und sehr lesenswerte Übersicht zur Entwicklung des Regionalismus mit einer breiten Abdeckung europäischer Regionen vor, die dem Leser Impulse für weitere Studien bieten wird. Viele Fragen, auch zum Verhältnis zwischen Regionalismus und Nationalismus, werden in vergleichender Perspektive behandelt. Die vorgestellten Perspektiven sollen zudem die Bedeutung der regionalen Ebene gegenüber neuen Artikulationen von Interessen, wie der Globalisierung, hervorheben. Wie Núñez Seixas und Storm in ihrer Einleitung und der Zusammenfassung betonen, findet sich nicht in allen Regionen die gleiche, starke regionale Identität oder eine Beeinflussung der Nationalstaaten wieder, sodass von den Autoren eine Vielfalt von unterschiedlichen Verläufen und Zielen in diesem Buch vorgestellt werden kann. Ein Desiderat sehen die Herausgeber in einem Vergleich des Regionalismus in Europa mit dem in anderen Teilen der Welt und geben damit einen Anstoß für die weitere Forschung.