Titel
Curative Powers. Medicine and Empire in Stalin’s Central Asia


Autor(en)
Michaels, Paula A.
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
$34.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Obertreis, Histroisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Diese Studie geht der Frage nach, wie das sowjetische Regime unter Stalin die Schulmedizin einsetzte, um seine Herrschaft in Zentralasien auszubauen und zu festigen. Paula A. Michaels untersucht dies am Beispiel Kasachstans, wo Pockenschutzimpfungen auf Heilpraktiken mit schamanistischen und islamischen Elementen trafen. Michaels versteht die Schulmedizin (von ihr als biomedicine einer ethnomedicine gegenübergestellt) als “imperial tool” und untersucht ihre Diskurse, Praxis und Institutionen.1

Mit der Etablierung der Schulmedizin und eines Gesundheitssystems verfolgte der Staat nicht (nur) wohltätige Ziele, sondern es ging ihm darum, Herrschaft zu sichern, die wirtschaftliche Ausbeutung der Region zu fördern und loyale, produktiv arbeitende Untertanen zu schaffen. Der Ausbau der Schulmedizin in Kasachstan diente dazu, die Sozialstruktur Kasachstans zu zerstören, von der die Bolschewiki annahmen, dass sie die Herrschaft des Zentrums in der Region herausfordere.

Michaels verfolgt die im 19. und beginnenden 20. Jh. von europäischen Ethnografen und anderen Beobachtern beschriebenen Heilmethoden der Kasachen bis in die stalinistische Periode hinein. Im Gegensatz zum britischen und französischen “Orientalismus”, wie er von Said beschrieben wurde 2, stellten die Russen Kasachstan nicht als Ort der ungezähmten Sexualität und der Dekadenz, sondern der physischen Schwäche und kindlichen Ignoranz dar. Von der Warte europäischer Überlegenheit aus wurde den Kasachen mittels Medizin- und Gesundheitsinitiativen verkündet, daß ihre medizinischen Praktiken rückständig, sogar gefährlich, und sie selbst dreckig und krank seien.

Die Einordnung in die internationale Imperialismus- und Kolonialismusforschung ist das Aufregende an Michaels Beitrag. Sie greift Fragestellungen und Methoden der (post-)colonial studies auf und stellt ihren Beitrag in den Kontext dieser Forschungsrichtung. Als Vorbild hat ihr eine Studie von David Arnold zu kolonialer Gesundheitspolitik in British India gedient.3 Die Autorin geht von einer Kontinuität russischen/sowjetischen Kolonialismus aus, die sie mutig über die Schwelle von 1917 hinaus zieht – ein Schritt, der in der deutschsprachigen Forschung bislang nicht gewagt wurde.

Michaels schöpft aus den Archiven Moskaus und Kasachstans, darunter regionale Archive Almatys und des in Südkasachstan gelegenen Shymkent. Besonders das Zentrale Staatsarchiv der Republik Kasachstan hat ihr viel Material geliefert. Neben einschlägigen Zeitschriften und Zeitungen in russischer und kasachischer Sprache hat sie ethnografische Literatur von Europäern und sowjetische Wochenschauen ausgewertet. Oral history-Interviews sind zwar als Quellen genannt, tauchen jedoch im Quellenverzeichnis nicht auf, ebenso wie eine kleine Umfrage, die die Autorin 1995 mit 40 Teilnehmern durchführte.

Das sowjetische Regime setzte viel mehr Ressourcen und Energien als das zarische ein, um ein Netz von schulmedizinischen Einrichtungen aufzubauen und Personal auszubilden. Hier ist besonders das Kasachische Medizinische Institut (KazMI) hervorzuheben, das 1931 gegründet wurde. Die Biomedizin spielte eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Fortschritts- und Modernitätsvorstellungen aus dem Zentrum an die Peripherie. Der Doktor der Schulmedizin wurde zu einem fachlich kompetenten, menschlich guten und gesellschaftlich verantwortlichen Helden stilisiert. Bis 1928 dominierte die Politik der “Roten Jurten”, mit der die Nomaden von den Segnungen der Schulmedizin und der Sowjetmacht überzeugt werden sollten. Den Beginn des Ersten Fünfjahresplans setzt Michaels als Zäsur. Bis dahin hatte sich die Schulmedizin langsam etabliert und wurde von der Bevölkerung in deren bestehenden Fundus von Heilmethoden und -praktiken integriert.

Doch bekanntermaßen gaben sich die Bolschewiki damit nicht zufrieden. Der Überzeugungspolitik der “Roten Jurten” folgte eine Phase, in der angestammte Heilmethoden und die nomadische Lebensweise vollständig ausgerottet werden sollten. Die Kulturrevolution setzte in Kasachstan laut Michaels im Vergleich zu Russland mit einigen Jahren Verzögerung, also erst gegen Mitte der 1930er-Jahre ein. Einer der Antriebe für die radikale, gewalttätige Politik, war der Wille mit dem Westen konkurrieren zu wollen: Ein flächendeckendes Gesundheitssystem würde eine gesunde Arbeiterklasse und damit eine hohe Produktivität schaffen.

Anhand zweier Zielgruppen der sowjetischen Gesundheitspolitik, der Frauen und der Nomaden, zeigt Michaels das integrative und gleichzeitig destruktive Potential dieser Politik: Im Fall der Frauen zielte sie auf Rekrutierung und Einbindung ins Gesundheitssystem und konnte einigen Erfolg verbuchen, im Fall der Nomaden setzte sie auf Zerstörung. Die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Zwangsansiedlung führten zu einer katastrophalen Hungersnot 1932/33, die die Bevölkerung Kasachstans erheblich dezimierte und unter der die Nomaden besonders litten. Auch der Zweite Weltkrieg, in dem Kasachstan zum Verbannungsort für andere Ethnien wurde, machte Erfolge der Gesundheitspolitik, die bis zum Ende der 1930er-Jahre erreicht worden waren, zunichte.

Michaels geht auf die Repressionen und den Terror der 1930er und 1940er-Jahre ein, weist aber auf die schwierige Quellenlage hin. So werden Archivquellen zu Parteidiskussionen um sanitäre Bedingungen während des Zweiten Weltkrieges von der kasachischen Regierung unter Verschluss gehalten.

Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass es den Bolschewiki zwar längerfristig gelang, Einheimische in die Kader des medizinischen Personals einzubeziehen. Doch der Anteil kasachischer Studierender an den medizinischen (Hoch-)Schulen sank ab Mitte der dreißiger Jahre wieder. Die Gleichzeitigkeit der zentralen korenizacija-(Einwurzelungs-)Politik und des wachsenden russischen Nationalismus bildeten eine komplexe Sachlage, die Michaels nicht verkennt. Die Kasachen vertrauten zwar der Schulmedizin immer mehr. Doch damit war nicht, wie die Bolschewiki gehofft hatten, eine größere Loyalität gegenüber dem Regime geschaffen. Die traditionellen Heilpraktiken überlebten und existierten neben den schulmedizinischen weiter.

Michaels ist ein faszinierender Einblick in die Politik des Zentrums, deren Motive und Wirkung in Zentralasien gelungen. Sie ist eine der ersten, die lokale Archive Kasachstans benutzt, und es spricht für ihren Ansatz, dass sie neben anderen europäischen Kolonialmächten auch immer wieder das ländliche Russland als Vergleichsgröße einbezieht.

Ihre ambitiösen Grundfragen kann sie letztlich jedoch nur unzureichend beantworten. Auf die spannende Frage, ob die sowjetische Kolonialpolitik der westeuropäischen ähnlich war, kann sie keine klare Antwort geben. Hier zieht sie sich auf die „pan-sowjetische Identität” zurück, deren Schaffung und Wirkung einzigartig gewesen seien. Die Integration der russischen Kultur in die neue sowjetische habe die koloniale Herrschaft, die das Regime in den nicht-russischen Teilen ausübte, verhüllt.

An dieser Stelle kommt Michaels begriffliche und methodologische Unschärfe voll zum Ausdruck. Sie verwendet die Begriffe “Imperialismus” und “Kolonialismus” und alle Derivate synonym und klärt nicht, ob und was der Unterschied dazwischen sei. Eine weitere Schwäche ihrer Arbeit ist, dass sie den Zusammenhang zwischen ökonomischer Ausbeutung und der Gesundheitspolitik zwar ständig postuliert, aber nicht ausreichend erklärt und nachweist. Die Rezeption der colonial studies durch Michaels lässt zu wünschen übrig. Sie scheint sich nur an wenigen Arbeiten zur kolonialen Gesundheitspolitik sowie an Saids “Orientalismus” orientiert zu haben, wobei sie die Debatte um dessen Beitrag und die Kritik an ihm kaum erwähnt.

Ihre Arbeit ist typisch für viele in den USA entstehenden Studien zur neueren Geschichte, die große Thesen aufstellen und spannende Fragen angehen, gut geschrieben und klar gegliedert sind, dafür aber in der Arbeit mit den Quellen nachlassen und deren Ergebnisse häufig schwach belegt sind.

So hat Paula A. Michaels zur Klärung der aktuellen Fragen der Forschung nicht so viel beigetragen, wie die Einleitung vermuten lassen könnte. Doch mit ihrem Ansatz hat sie einen neuen Weg beschritten und ein Thema gewählt, an dem sich die Kontinuitäten und Zäsuren der russischen/sowjetischen Nationalitäten- und Imperialpolitik neu zeigen lassen. Es ist ihr Verdienst, die Forschung zur Sowjetunion als Kolonialmacht anzustoßen, die in den kommenden Jahren weitere Früchte tragen wird.

Anmerkungen:
1 In Anlehnung an: Headrick, Daniel R., The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York 1981.
2 Said, Edward W., Orientalism, New York 1978.
3 Arnold, David, Colonizing the Body: State Medicine and Epidemic Disease in Nineteenth-Century India, Berkeley 1993.

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