B. Musial: Konterrevolutionäre Elemente

Titel
"Konterrevolutionaere Elemente sind zu erschiessen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941


Herausgeber
Musial, Bogdan
Erschienen
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pohl, Dieter

Mit dem 22. Juni 1941 begann nicht nur der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern auch der systematische Mord an den europäischen Juden. Während insbesondere die Verbrechen der Einsatzgruppen und mancher Polizeibataillone inzwischen als relativ gut erforscht gelten können, blieben andere Morde aus der Zeit Juni/Juli 1941 bis Mitte der neunziger Jahre kaum beachtet. Gemeint sind damit die grauenhaften Pogrome in Ostpolen und im Baltikum, aber auch die vor dem deutschen Einmarsch verübten Massaker des NKVD an Gefängnisinsassen. Bogdan Musial, Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, unternimmt als einer der ersten westlichen Historiker eine genauere Untersuchung des mörderischen Sommers 1941 in diesen Gebieten, soweit sie heute zum Westen der Ukraine und Weißrußlands zählen 1. Dabei kann er sich auf eine größtenteils bisher ungenutzte Quellengrundlage stützen, so etwa polnische Befragungen aus den neunziger Jahren. Besonders hervorzuheben ist die Bedeutung des berühmten Ringelblum-Archivs in diesem Zusammenhang, das nicht nur Auskunft über die deutsche Besatzung, sondern auch über das sowjetische Regime in Ostpolen bis 1941 gibt.

Der Autor wartet mit einer brisanten These auf: Die Morde des NKVD Ende Juni 1941 hätten wesentlich zur Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges beigetragen, mit anderen Worten: sie seien mit ursächlich für die anschließende Ermordung der Juden. Zur Erläuterung holt Musial weiter aus und charakterisiert die gesamte sowjetische Besatzungspolitik in Ostpolen seit September 1939. Diese war nicht nur durch eine rigorose kommunistische Enteignungspolitik bestimmt, sondern vor allem durch massenhafte Verhaftungsaktionen, Deportationen und Erschießungen. Da die vier großen Bevölkerungsgruppen Polen (40 %), Ukrainer (34 %), Weißrussen und Juden (je 8,5 %) aber recht unterschiedlich von den Vorgängen betroffen waren, hatten sich die Spannungen zwischen diesen Ethnien erheblich verschärft. Die Bevölkerungsmehrheit betrachtete vor allem die jüdische Minderheit für mitverantwortlich an der sowjetischen Terrorherrschaft. Dieser Terror kulminierte schließlich in den Massenmorden des NKVD im Juni 1941. Es folgte die Entdeckung der stalinistischen Massaker, die Welle von antijüdischen Pogromen und die Verwertung der sowjetischen Verbrechen durch die deutsche Propaganda.

Das Buch ist bereits kurz nach seinem Erscheinen heftig attackiert worden. Vor allem warf man dem Autor vor, die deutsche Verantwortlichkeit relativieren zu wollen. Angeblich habe er, der Kritiker der "Wehrmachtausstellung", nun sein wahres politisches Gesicht gezeigt. Die Berechtigung dieser Attacken lassen sich bei genauer Lektüre des Buches kaum nachvollziehen. Es hat nämlich wenig mit den Geschichtsspekulationen eines Ernst Nolte gemein 2. Und dennoch ist Musials Unternehmen, diese komplexen Zusammenhänge darzulegen, nicht als gelungen zu bezeichnen.

Der entscheidende Faktor für die damaligen Vorgänge war sicher das Stereotyp vom angeblich "jüdischen Bolschewismus", das beileibe nicht nur bei Nationalsozialisten zirkulierte und bisher von der Forschung noch nicht systematisch untersucht worden ist 3. Hier stellt sich zunächst die Frage nach der Kontinuität, d.h. vor allem nach den Pogromen in Ostpolen und Sowjetrußland zwischen 1918 und 1921, aber auch nach der Zweiten Polnischen Republik. Sodann unterscheidet der Autor nicht immer klar zwischen der nachweisbaren Realität und deren Rezeption. Im Text fallen viele Widersprüchlichkeiten und verunglückte Sätze auf. So lesen wir auf S. 57 die Behauptung: "Die Juden waren daher froh, daß die Sowjets Ostpolen besetzten"; vier Seiten weiter lesen wir freilich, daß schon allein die zahlreichen jüdischen Unternehmer davon auszunehmen sind. Einige Zahlenangaben sind offenbar nicht verifiziert worden, so betrug der Anteil der Juden an den Lemberger Studenten zeitweise zwischen 38 und 44 %, also etwas mehr als an der Lemberger Bevölkerung, und nicht groteske 85 %, wie der Autor unterstellt 4. Während die offiziellen Berichte über die NKVD-Massaker hier kritisch verwendet werden, bleiben viele fragwürdige Zeugenaussagen ungeprüft. Analytische Fragestellungen fehlen zumeist, so nach dem Vergleich mit den Gebieten außerhalb der Westukraine 5. Statt dessen neigt die Argumentation bisweilen zur Bildung von ethnischen Kollektiv-Akteuren, ohne etwa die Zersplitterung des politischen Spektrums unter den Juden zu berücksichtigen 6. Hier besteht die Gefahr, die Wahrnehmung der Zeitgenossen auf die heutige Analyse zu übertragen.

Auch Musials Darstellung der sowjetischen Gewaltherrschaft in Ostpolen befindet sich nicht immer auf der Höhe der Historiographie. Die Einsichten der neuen Stalinismusforschung, etwa zur Verfolgung der Polen, sucht man vergebens 7; mit wenigen Ausnahmen auch die gesamte Literatur aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder zeitgenössische ukrainische Dokumente 8. Hier hat sich der Autor zu sehr auf seine Hauptquelle, die Untersuchungen von Albin Glowacki, verlassen. Dessen Vermutungen über die Massenverhaftungen unter den Bevölkerungsgruppen sind inzwischen korrigiert: Bis Februar 1941 waren zu 43 % Polen betroffen, aber zu 25 % Juden 9, d. h. letztere weit überproportional. Auch der Anteil des jüdischen Personals an den sowjetischen Terrororganen wird bei Musial auf unsicherer Quellengrundlage festgestellt. Für das NKVD liegen genaue Zahlen vor: Unter den führenden "Tschekisten" sank er zwischen 1937 und 1939 von 39 auf 3-6 %; das ukrainische NKVD rekrutierte sich 1945 zu 4 % aus Personen "jüdischer Nationalität" 10. Von den sechs NKVD-Regionalchefs in der Westukraine waren vier Ukrainer und zwei Russen. Doch was bedeutete das alles? Gerade von den Funktionären wurde erwartet, daß sie ihre jüdische Herkunft hinter sich lassen. Die Juden waren aufgrund ihrer Siedlungsstruktur fast ausschließlich in Städten beheimatet, hatten weniger Analphabetismus und eigneten sich eher für die Verwaltungen als etwa die Ukrainer. Noch überproportionaler als Juden waren Letten im NKVD vertreten, aber was sagt uns das? Auch bei Musials Analyse der NKVD-Gefängnismorde fehlen einige wichtige Fakten, so der zentrale Vorbereitungsbefehl des NKGB-Chefs Merkulov 11 vom 23. Juni 1941. Die zwei angeführten NKVD-Massaker in Pravenieschkes und dem nahegelegenen Rumschischkes waren wohl in Wirklichkeit identisch; und die Zahl der Opfer dieser Gewaltwelle liegt höher als Musial vermutet bei mindestens 42.776 Menschen 12.

Unangenehm fällt die durchgängige Polemik Musials gegen andere Autoren auf (darunter am Rande auch gegen mich). So würde angeblich die Erforschung der NKVD-Verbrechen gegenüber den NS-Verbrechen völlig vernachlässigt. Dies stimmt nicht für die westliche Forschung, für die osteuropäische schon gar nicht. Heute wird so viel über Stalinismus geforscht wie nie zuvor. Hingegen sind beispielsweise die Massaker deutscher Funktionäre an "ihren" Gefängnisinsassen beim Rückzug 1943 bis 1945 noch nicht systematisch untersucht. Manche Kritik an der "antipolnischen Einstellung" bestimmter Autoren führt völlig vom Thema weg oder steht, etwa im Blick auf Jan Tomasz Gross, auf wackligen Füßen.

Wenig überzeugend ist schließlich die Analyse der deutschen Politik. So erfahren wir nicht, daß es wahrscheinlich bereits beim Polenfeldzug 1939 deutsche Pläne zur Auslösung von Pogromen gegeben hat oder daß ein Pogrom von Polen in Wilna mit einem Toten und 200 Verletzten schon am 28. Oktober 1939 stattgefunden hatte 13. Im dunkeln bleibt auch die frühe Zusammenarbeit deutscher Stellen mit dem nationalistischen Untergrund bei Plänen zur "Revolutionierung des Hinterlandes". Von Seiten litauischer Gruppen wurden Monate vor dem Einmarsch Morddrohungen gegen die jüdische Minderheit veröffentlicht 14. Daß in der deutschen Armee schon vor dem 22. Juni 1941 eine aufgeheizte antisemitische Stimmung zirkulierte, mag das Pogrom von Luftwaffensoldaten im deutsch besetzten Siedlce im März 1941 illustrieren 15! Die Massenmorde an Juden begannen am 23. Juni im Baltikum 16, nicht erst nach der Öffnung der Gefängnisse. Zweifellos führte der Anblick von Opfern des NKVD und der Roten Armee und die Nachrichten darüber zu einer Radikalisierung deutscher Soldaten, war Anlaß zur Teilnahme an Pogromen und zu Verbrechen an Kriegsgefangenen. Doch wie genau verbreitete sich die Wehrmachtspropaganda, wie viele Soldaten betraf dies? Und: welche Bedeutung haben diese Frontsoldaten und diese Ereignisse für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik insgesamt? Ich würde sagen: eine geringe.

Die Darstellung einiger Pogrome wird mit zahlreichen, wieder vorwiegend polnischen Zeugenaussagen illustriert und bringt wenig Neues. Leider geht dabei auch die zentrale Rolle der ukrainischen Milizen und Marschgruppen unter, wie sie von der neueren Forschung herausgearbeitet worden ist. Hier wäre ein systematischer Einstieg in die Geschichte der Ukrainer und der Organisation Ukrainischer Nationalisten notwendig gewesen, wie er hier weitgehend fehlt. Auch die Beteiligung der Polen an Pogromen, die Musial als einer der ersten konzediert, wirft ein Schlaglicht auf die Frage nach der "Spontanität" dieser Morde, wie die aktuelle Debatte um die Massaker in Jedwabne und Radzilow zeigt 17.

Die hier vorgetragene Kritik soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um ein interessantes, materialreiches Buch zu einem wichtigen Problem handelt. Der Zusammenhang zwischen den NKVD-Verbrechen und dem politischen Klima, in dem der Judenmord dort geschah, ist nicht wegzudiskutieren; um es mit einem Diktum von Ludolf Herbst aus dem Jahre 1996 zu sagen: "Zweifellos bildeten diese Handlungen willkommene Rechtfertigungen für die Aktionen der Einsatzgruppen und helfen die Leichtigkeit erklären, mit der sich die Gewalt eskalieren ließ." 18 Als wissenschaftliche Arbeit aber ist Musials Buch auf halbem Wege steckengeblieben. Dieses komplexe und schwierige Thema hätte eine sorgfältigere Bearbeitung verdient.

Anmerkungen:
1 Immer noch der "Klassiker": Jan T. Gross: Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia. Princeton 1987.
2 Man nehme als Vergleich das Pamphlet des Geschichtsprofessors Jerzy Robert Nowak: Przemilczane zbrodnie. Zydzi i Polacy na Kresach w latach 1939-1941. Warszawa 1999.
3 Vgl. Matthias Vetter: Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917-1939. Berlin 1995.
4 Aktengestützt: Grzegorz Hryciuk: Polacy we Lwowie 1939-1944. Warszawa 2000, S. 133; etwas höher (46%) bei Albin Glowacki, Sowieci wobec Polaków na ziemiach wschodnich II Rzeczypospolitej 1939-1941. 2. Aufl., Lodz 1998, S. 471.
5 Vgl. dazu Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944. Düsseldorf 1998, S. 36-50.
6 Vladimir Melamed: Evrei vo L'vove (XIII-pervaja polovina XX veka). Sobytija, obscestva, ljudi. L'vov 1994, S. 142 ff.; Eliachu Jones: Evrej L'vova v gody Vtoroj Mirovoj vojny i katastrofy evropejskogo evrejstva 1939-1944. Moskva, Ierusalim 1999, S. 50 ff.
7 Vgl. besonders Terry Martin: The Origins of Soviet Ethnic Cleansing, in: The Journal of Modern History 70 (1998), S. 813-861.
8 Beispielsweise Litopys neskorenoï Ukraïny. Dokumenty, materialy, spohady. Band 1. L'viv 1993, S. 32-205. Auf breiterer Quellengrundlage: Hryciuk, Polacy, S. 15-215.
9 Repressii protiv poljakov i pol'skich grazdan. Hg. von A.E. Gurianov. Moskva 1997, S. 88 f.
10 N.V. Petrov, A.B. Skorkin, Kto rukovodil NKVD 1934-1941. Moskva 1999, S. 495; Kaderbericht des ukrainischen NKVD für 1945, o.D., Zentrales Staatsarchiv der gesellschaftlichen Organisationen der Ukraine, Kiev. Noch niedrigere Zahlen für Litauen: Wolfgang Benz/Marion Neiss (Hg.), Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente. Berlin 1999, S. 61.
11 Petro Kulakovs'kyj, Rozstriljani na pocatku vijny, in: Z archiviv VCUK, HPU, NKVD, KHB 1 (1994), S. 191-228, hier S. 192.
12 Ewakuacja 1941. Dokumenty, in: Karta 12, 1994, S. 137-138.
13 Vgl. Tomasz Szarota, U progu zaglady. Zajscia antyzydowskie i pogromy w okupowanej Europie. Warszawa 2000, S. 265.
14 Benz/Neiss, Judenmord in Litauen, S. 23.
15 Monatsbericht Oberfeldkommandantur Warschau für März/April 1941, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, MA 679/2.
16 Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia. Washington/Riga 1996, S. 211 f.
17 Reuben Ainsztein, Jewish Resistance in Nazi-occupied Eastern Europe. London 1974, S. 436 f. Vgl. jetzt Jan T. Gross: Sasiedzi. Historia zaglady zydowskiego miasteczka. Sejny 2000, und die heftigen Reaktionen auf dieses Buch.
18 Ludolf Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Frankfurt a.M. 1996, S. 376.

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