T. Diedrich u.a. (Hgg.): Staatsgründung auf Raten?

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Titel
Staatsgründung auf Raten?. Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR


Herausgeber
Diedrich, Torsten; Kowalczuk, Ilko-Sascha
Reihe
Militärgeschichte der DDR 11
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 435 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Inzwischen besteht kein Mangel mehr an Darstellungen und Untersuchungen zum 17. Juni, und auch zu verschiedenen Aspekten des Mauerbaus, vor allem zu den Folgen für die Deutschland-Politik, liegen bereits Studien vor. Es fehlte jedoch noch weithin an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Auswirkungen, die von diesen epochalen Geschehnissen auf die DDR selbst ausgingen. Das Potsdamer Militärgeschichtliche Forschungsamt und die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR luden am 20. und 21. April 2004 Sachkundige der ostdeutschen Geschichte zum Vortrag und zur Diskussion von Referaten, die diese bis dahin vernachlässigte Fragestellung in den Mittelpunkt rückten. Auch wenn die Beiträge überwiegend auf Sekundärliteratur und vorangegangenen Studien der Autoren/innen beruhen, wird insoweit Neuland erschlossen, als die Folgewirkungen der beiden Krisen von 1953 und 1961 erstmals konzentriert und zusammenhängend dargestellt werden. Das Resultat ist ein Sammelwerk, das einen informativen und zuverlässigen Überblick über die Nachwirkungen von Volksaufstand und Mauerbau bietet.

Allen Autoren/innen ist die Erkenntnis gemeinsam, dass sich das SED-Regime durch die Erschütterung, die ihm am 17. Juni widerfuhr, zu grundlegenden Veränderungen der Herrschaftsstruktur veranlasst sah. Eine Restrukturierung von Staat und Gesellschaft, in deren Verlauf die vorhandenen repressiven Machtapparate stark erweitert und durch neue Komponenten zu einem flächendeckenden Netzwerk ausgebaut wurden, sollte totale Sicherheit vor der Bevölkerung gewährleisten. Torsten Diedrich, der wie Kurt Arlt die Abhängigkeit der militär- und sicherheitspolitischen Entscheidungen von den Vorgaben aus Moskau hervorhebt, macht die zugrunde liegende Raison deutlich: Da die SED-Herrschaft nicht durch freie Wahlen legitimiert war und folglich keine Basis in einem selbsttragenden politischen System hatte, zudem ohne nationale Identität auskommen musste, erschien der Aufbau eines vielfältigen Kontroll- und Zwangsapparats unerlässlich, dessen Umfang relativ zur Bevölkerungszahl auch im sozialistischen Lager beispiellos war. Roger Engelmann zeichnet nach, welche operativen Lehren der Staatssicherheitsdienst aus dem Versagen am 17. Juni zog und wie sich seine Aufgaben ab 1961 nochmals modifizierten. Die Darstellung von Rainer Karlsch zeigt, dass nach 1953 weder die Politik der kleinen Zugeständnisse an die Bevölkerung noch die Lieferungen aus der UdSSR zu politischer und wirtschaftlicher Stabilisierung führten. Der Versuch, die Schwierigkeiten mit einem – diesmal geschickteren – Wiederanziehen der Zügel zu überwinden, zog die Krise von 1961 nach sich. Das Resultat war eine neuerliche Verschärfung des Flüchtlingsproblems, die schließlich Chruschtschow zur Sperrung der Grenze in Berlin bewog.

Ilko-Sascha Kowalczuk sieht die Umstrukturierungen, zu denen die „gescheiterte Revolution“ von 1953 Anlass gab, als die „innere Staatsgründung“: Sie habe die DDR erst richtig geschaffen. Als sich dann die inneren Verhältnisse 1961 nochmals krisenhaft zuspitzten, wurde das drohende Ende des Regimes durch die Sperrung des Fluchtwegs nach Westen (die Ulbricht seit 1952 verlangt, aber im Kreml nicht erreicht hatte) abgewendet. Der in den Vorjahren aufgebaute Repressionsapparat bestand seine Bewährungsprobe: Die Situation blieb zur großen Erleichterung der SED-Führung ruhig – in Kowalczuks Formulierung eine „verhinderte Revolution“. Der Bau der Mauer leitete innenpolitisch keine neue Entwicklung ein, sondern schloss lediglich das zuvor Begonnene mit heftigem Crescendo ab. Fortan konnte sich die Bevölkerung der kommunistischen Kontrolle nicht mehr entziehen; das Regime war früherer Rücksichten ledig. Wie Karlsch ausführt, erfüllte sich die Hoffnung nicht, die DDR werde nun endlich wirtschaftlich prosperieren und in den Stand gesetzt sein, den von Chruschtschow ins Auge gefassten Systemwettbewerb mit der Bundesrepublik aufzunehmen. Das wäre auch dann kaum der Fall gewesen, wenn Ulbrichts Kurs der ökonomischen Reform nicht ab Mitte der 1960er-Jahre abgebremst und nach Honeckers Amtsantritt völlig beendet worden wäre. Gerald Diesener legt dar, wie sich die Bevölkerung dem Eingesperrtsein anpasste, zugleich aber in der Mauer ein Symbol ihrer Unfreiheit sah. Nicht zufällig leitete am 9. November 1989 die vage Information, man könne wieder „rüber“, innerhalb weniger Stunden eine spontane Massenbewegung ein, die zuerst die Mauer und dann das Regime hinwegfegte.

Unter dem Gesichtspunkt der internationalen Beziehungsstruktur im Kalten Krieg werden die Auswirkungen des 17. Juni von Hermann-Josef Rupieper analysiert. Weil die Teilung Deutschlands und Europas die Grundlage von Sicherheit und Stabilität war, nutzten Eisenhower und Dulles bei allem rhetorischen Engagement für die Zurückdrängung des Kommunismus die Erschütterung des sowjetischen Imperiums durch den Volksaufstand nicht zu einer politischen Offensive. Sie suchten zwar eine Restabilisierung in der DDR zu verhindern, wollten aber die Aufrechterhaltung des Status quo nicht gefährden. Ebenso wie Gary Bruce kommt Rupieper zu dem Schluss, dass es keine Chance für eine Wiedervereinigung Deutschlands gab, solange der Ost-West-Konflikt bestand. Die Mächte auf beiden Seiten scheuten das unkalkulierbare Risiko, das sich mit einem Kompromiss über die deutsche Einheit verbunden hätte. Auch Stalins Nachfolger hielten an dieser Linie fest, suchten aber im Gegensatz zu Ulbricht, der nur Härte und Zwang kannte, die Auseinandersetzung mit dem Westen stets auch politisch zu führen. Das gilt selbst für Chruschtschows Vorgehen in der von ihm 1958 ausgelösten Berlin-Krise: Trotz aller Drohungen schreckte er vor einer Konfrontation zurück, die zu einem militärischen Konflikt hätte eskalieren können. In einer „Nachbetrachtung“ führt Winfried Heinemann aus, dass die völlige Sperrung der Grenze zum Westen 1961, die im Innern der DDR frühere Tendenzen lediglich verschärfte, deutschlandpolitisch zur entscheidenden Zäsur wurde mit sehr weitreichenden Folgen auf längere Sicht, vor allem für das Ost-West-Verhältnis in Europa und für die Beziehungen innerhalb des westlichen Bündnisses.

Wie Rupieper stellt auch Andreas Malycha fest, dass es nicht nur der KPD/SED-Führung, sondern auch dem Kreml, dessen Weisungen sie folgte, von Anfang an um die Errichtung einer kommunistischen Diktatur ging. Die Umwandlung der SED in eine „Partei neuen Typus“ und der Beschluss über den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ wurden durch die Verschärfung des Ost-West-Konflikts zwar beschleunigt, aber nicht hervorgerufen. Daher bestand zu keiner Zeit eine Alternative zum Sowjetisierungskurs. Mithin war der 1952 beschlossene „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“, der zur Krise von 1953 entscheidend betrug, im gesamten sowjetischen Vorgehen seit 1945 angelegt. Im Anschluss an den Aufstand verfolgte Ulbricht eine Linie, die sich gegen alle Reformbestrebungen wandte, zugleich aber zur Reduzierung des Innendrucks mit vorübergehenden Lockerungen der Unterdrückung verbunden war. Malycha hebt hervor, dass der SED-Chef im Gegensatz dazu nach dem Mauerbau, als die Macht durch die Abriegelung nach außen gesichert erschien, in die Rolle des Reformers schlüpfte. Das bedarf der Differenzierung. Ulbricht war sich zwar – anders als die innerparteilichen Gegner seiner Politik – der entscheidenden Bedeutung des ökonomischen Erfolgs für die langfristige Aufrechterhaltung des SED-Regimes bewusst und bemühte sich daher um effizientere Methoden sozialistischer Wirtschaftslenkung, was Änderungen am hergebrachten kommunistischen Modell erforderte. Er war aber, wie wiederholte Repressionsschübe zeigen, in politischer wie kultureller Hinsicht kein Neuerer, der von marxistisch-leninistischen Postulaten abzugehen bereit war.

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