HT 2014: ‚The Winner Takes It All’. Popgeschichtliche Narrative des 20. Jahrhunderts zwischen Ausbeutung und Emanzipation

HT 2014: ‚The Winner Takes It All’. Popgeschichtliche Narrative des 20. Jahrhunderts zwischen Ausbeutung und Emanzipation

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Becker, German Historical Institute London

Auf dem diesjährigen Historikertag fehlte es nicht an Premieren. Jedenfalls nahmen wenigstens drei Sektionen für sich in Anspruch bisher – auf dem Historikertag – Nichtdagewesenes zu präsentieren: die Gefühlsgeschichte, die Homosexualitätsgeschichte und die Popgeschichte. Ob diese Premierendichte auf eine generelle Innovationsfreude oder doch eher auf den lange gepflegten Konservatismus des Historikerverbandes zurückzuführen ist, mag an anderer Stelle diskutiert werden. Auf jeden Fall erfreuten sich alle drei Sektionen regen Publikumszuspruchs und angeregter Diskussionen. Das gilt insbesondere für die von Bodo Mrozek (Berlin/Potsdam) und Detlef Siegfried (Kopenhagen) organisierte Sektion zur Popgeschichte. Bei einem Gegenstand, der so überreich ist an Erfolgsgeschichten, an Scheitern und Comebacks, fiel es der Sektion nicht schwer an das übergeordnete Thema des Historikertags anzuknüpfen. Das klang bereits leitmotivisch an, als sich die Zuhörer*innen zu „The Winner Takes It All“ von ABBA versammelten – auf Vinyl abgespielt von einem Original-Philips Stereo 382 vom Ende der 1970er-Jahre, der vor jedem Vortrag zum Einsatz kommen sollte.

Wie DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) in seiner Einführung deutlich machte, zielte die Sektion jedoch gerade darauf ab, die bekannten Erzählungen von Erfolg und Scheitern ebenso wie die etablierten akademischen Narrative auf den Prüfstand zu stellen. Das schien ihm schon deshalb geboten, da die Interpretationen so widersprüchlich sind, wie in ihnen die Rollen überklar verteilt erscheinen: den einen gelten Jugendliche als widerständige Opponenten gegen eine Hegemonialkultur, den anderen als willenlose Opfer der Manipulation einer kommerzialisierten Konsumindustrie. Siegfried beschrieb Pop als ein zentrales mediales, ökonomisches und politisches Handlungsfeld des 20. Jahrhunderts, das übertheoretisiert und unterforscht ist und mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Geschichtswissenschaft verdient. Dass diese Aufmerksamkeit gerechtfertigt ist und nicht nur ein besseres Verständnis der Popkultur, sondern der Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt verspricht, stellten die folgenden Vorträge nachdrücklich unter Beweis.

Im ersten „Dance Circle – Dance Craze. Wettbewerb in medialen Tanzspektakeln“ überschriebenen Vortrag schlug ASTRID KUSSER (Rio de Janeiro) einen Bogen von der RTL-Fernsehshow „Let’s Dance“ zurück zu den Tanzmarathons der Zwischenkriegszeit und zu den Modetänzen, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert in Nord- und Südamerika aufkamen, um dann mit dem Film „Flashdance“ von 1983 zu enden. Ausgehend vom Cakewalk entwickelte Kusser die Geschichte des Standardtanzes, den sie als historischen Kompromiss zwischen europäischem Gesellschaftstanz und schwarzen Modetänzen kennzeichnete. Letzterer habe den „dance circle“ afro-diasporischer Herkunft in die moderne, urbane Unterhaltungskultur eingespeist. Kusser zeigte dies an zwei Filmclips: der Aufnahme einer Cakewalk-Vorführung von 1902 und einem Ausschnitt aus dem Tanzfilm „Flashdance“. Ihr zufolge war allerdings in beiden Fällen der dance circle eine weiße Projektion auf schwarze Kultur und diente letztlich der Segregation. Kusser spitzte diese Lesart während der Diskussion noch zu, in der sie Pop als im Kern schwarz und seine Aufarbeitung als Trauerarbeit verstanden wissen wollte. Offen blieb dabei allerdings, ob dies der Agency schwarzer Akteure gerecht wird.

„Alexander’s Ragtime Band“ von 1911, einem der bis dato erfolgreichsten Songs der „Tin Pan Alley“, leitete über zu dem Vortrag von KLAUS NATHAUS (Oslo) über „Erfolgswege in der Popgeschichte“, in dem die New Yorker Song-Schmiede in der 28. Straße als Fallbeispiel diente. Nathaus begann, in dem er die Popgeschichte selbst historisierte und nach anschlussfähigen Vorbildern suchte. Dabei machte er eine Vernachlässigung der Produktionsseite aus, der er den aus der Soziologie stammenden Production of Culture-Ansatz gegenüberstellte. Nathaus benutzte diesen Ansatz um die Wandlungsfähigkeit und stilistische Vielfalt der amerikanischen Populärmusik im 20. Jahrhundert zu erklären. So kam er zu dem Schluss, dass Dilettantismus und Improvisation, durch die sich amerikanische Musiker von ihren europäischen Kollegen unterschieden, mehr als „amerikanische“ Marketingmethoden und „tayloristische“ Prinzipien Kernelemente ihres nationalen wie internationalen Erfolgs gewesen seien. Hinzu sei als weiteres Element die Marktforschung getreten, die sich in den USA sehr viel früher als in Europa etabliert habe. Abschließend betonte Nathaus den Wert popkultureller Forschung für die Zeitgeschichte insgesamt. Er plädierte dafür, populäre Kultur als eigendynamischen Faktor sozialer und kultureller Differenzierung zu betrachten und an die Debatte um die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ anzuschließen.

Während Nathaus ganz die Produktion in den Mittelpunkt stellte und die Konsumenten geradezu als vernachlässigbare Größe verstand, nahm BODO MROZEK (Berlin/Potsdam) in seinem Vortrag über „Geschmacksgemeinschaften. Fan-Clubs als Avantgarden (1950er-1980er-Jahre)“ die gegenteilige Perspektive ein. Ausgehend von Private Presley’s friedlicher Eroberung Deutschlands im Jahr 1958, betrachte Mrozek die deutschen Elvis Fan-Clubs. Dabei ging es ihm darum, mit gängigen Klischees von Gewinnern und Verlierern zu brechen. Vielmehr hätten Fan-Clubs als Instrumente eines Konsumentenwandels von der imagined zur organized community fungiert. Fan-Clubs seien keine Erfindung der Medien oder der Musikindustrie gewesen, sondern hätten sich „von unten“ als Interessengemeinschaften Gleichgesinnter formiert. Als solche entwickelten sie sich schnell zu einer wichtigen Größe der Musikindustrie, verbunden mit neuen Praktiken und neuen Produkten. Das ursprünglich als Kaufanreiz gedachte Starmarketing beispielsweise wurde zu einem eigenständigen Wirtschaftsfaktor. Als Beispiel diente hier wiederum Elvis, dessen Popularität zur Einführung neuer Fan-Artikel führte und der zu Hochzeiten 25 Angestellte beschäftige, die sich ausschließlich um die massenhaft auflaufende Fan-Post kümmerten. Dieses Zusammenwirken von Industrie und Fans veranlasste Mrozek zu der Forderung, Produktion und Konsum nicht als getrennte oder gar sich ausschließende, sondern als sich ergänzende Aspekte zu betrachten.

Zu den Klängen von „Verschwende deine Jugend“ begann ALEXA GEISTHÖVEL (Berlin) ihren Vortrag über „‚Gelebtes Leben‘: Wie verschwendete Jugend wertvoll wurde“. In den Texten der Populärkultur der 1980er-Jahre beobachtete Geisthövel eine „komplizierte Ökonomie der Verschwendung“, von der sich nicht genau sagen lasse, ob sie Bekenntnis oder Rollenprosa gewesen sei. Geisthövel ging von der These aus, dass es keine natürliche Wahlverwandtschaft von Pop und Leben gebe. Vielmehr sei Pop als Medium und Effekt eines Diskurses zu betrachten, der „das Leben“ der Einzelnen am Maßstab der Erlebnissteigerung und Erlebnisfülle messe. Zwar sei die Frage nach dem gelebten Leben keineswegs auf den Pop beschränkt, aber der Pop stelle sie mit besonderer Vehemenz und Dringlichkeit. Quer durch alle Strömungen biete er als Subtext stets eine Anleitung zum gelebten Leben. Erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts werde jugendliche Devianz, Nonkonformität und Sich-Ausprobieren statt als gesellschaftliche Bedrohung als notwendige Übergangsphase im Prozess des Erwachsenwerdens gesehen. Die Unschärfe des Pop sah Geisthövel dabei als Vorteil: immer gehe es um gelebtes Leben, aber was dies sei, lasse sich stets anders definieren. Nie jedoch laute die Botschaft: Sei vernünftig und lebe vorsichtig. Als Kultur strebe Pop danach, diese Momente zu verstetigen, zu strukturieren, in eine Ressource zu verwandeln, die vielen zugänglich ist und nicht ständig neu erfunden werden müsse. Geisthövel schloss mit der Forderung an die Popgeschichte, ihrem Gegenstand nüchtern und distanziert zu begegnen und sich größere Narrative zuzutrauen.

Abgerundet wurde die Sektion durch einen Kommentar von THOMAS MERGEL (Berlin), der noch einmal deutlich werden ließ, wie wichtig eine Popgeschichte jenseits der Selbsthistorisierung ist. Mergel erkannte die unterschiedlichen Ansätze der Vorträge, wie generell den Wert und die Fruchtbarkeit der Popgeschichte an, plädierte jedoch dafür, dass in dieser auch die Politik nicht zu kurz kommen dürfte. Der Kommentar leitete über zur Diskussion, die sowohl bei einzelnen Vorträgen und Aspekten, wie auch bei den übergreifenden Ansätzen der Sektion ansetzte. Insbesondere die Spannung zwischen dem produktions- und dem konsumorientierten Ansatz bot Diskussionsstoff.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Sektion nicht nur einzelne sehr gute Vorträge bot, sondern dass sie auch als Ensemble bestens funktionierte. Ein Vorzug gegenüber älteren Ansätzen war die Wahl eines langen Zeitraums vom späten 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, wobei die Vorträge chronologisch aufeinander aufbauten, zusätzlich aber jeder einzelne Vortrag in sich bemüht war, einen größeren historischen Bogen zu schlagen. Da der Begriff Pop jedoch neueren Datums ist, lässt sich fragen inwiefern Popgeschichte das richtige Etikett für einen solchen Ansatz ist. Trotz manchen Seitenblicks auf Film, Mode, Werbung und Literatur fiel darüber hinaus auf, dass sich die hier vorgestellte Popgeschichte primär für Popmusik interessiert. Inwiefern sie andere Gegenstände aufnehmen kann und sollte oder eben – aus Profilierungsgründen – auch nicht, wäre daher ebenfalls noch zu diskutieren. Die Nobilitierung der Popgeschichte durch eine Historikertags-Sektion jedenfalls signalisiert, dass sie langsam dort ankommt, wo sie im angelsächsischen Kontext längst ist: im wissenschaftlichen Mainstream. Während vor ein paar Jahren noch Qualifikationsarbeiten zur Geschichte der Populärkultur als verschwendete Jugend galten, scheint die Popgeschichte heute auf der Gewinnerseite zu stehen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen) / Bodo Mrozek (Freie Universität Berlin/ Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)

Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen), Popgeschichte: Probleme und Perspektiven (Einleitung)

Astrid Kusser (Universidade Federal Rio de Janeiro), Dance Craze, dance circle. Wettbewerb in medialen Tanzspektakeln um 1900 und um 1980

Klaus Nathaus (Universität Oslo), Erfolgswege in der Popgeschichte

Bodo Mrozek (Freie Universität Berlin / Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung Potsdam), Geschmacksgemeinschaften. Fan-Clubs als Avantgarden (1950er-1980er-Jahre)

Alexa Geisthövel (Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin), Gelebtes Leben: Wie verschwendete Jugend wertvoll wurde

Thomas Mergel (Humboldt-Universität zu Berlin), Kommentar