Emotionsgeschichte und Musik. Forschungsperspektiven und Methoden

Emotionsgeschichte und Musik. Forschungsperspektiven und Methoden

Organisatoren
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung; MPFG 'Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas'; Sven Oliver Müller; Marie Louise Herzfeld-Schild; Lena van der Hoven
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.09.2015 - 19.09.2015
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Von
Sarah Avischag Müller, Georg-August-Universität Göttingen

Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin widmete sich die Forschungsgruppe „Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas“ von 2010 bis 2015 der Erforschung emotionaler Gemeinschaft aus musikhistorischer Perspektive. Der Workshop zu Emotionsgeschichte und Musik zog nun die Bilanz der Arbeit und zeigte die weit gefächerten, transdisziplinären Möglichkeiten einer Historisierung von musikalischer Emotion. Diskutiert wurden besonders die Chancen und Grenzen einer emotionshistorischen Musikforschung.

Zur Einführung stellte der Historiker und Leiter der Max-Planck-Forschungsgruppe „Gefühlte Gemeinschaften“ SVEN OLIVER MÜLLER (Berlin) Grundfragen der Erforschung von Musik und Emotion vor. Emotionsgeschichte könne vornehmlich zwei Phänomene in den Blick nehmen: die Bildung von Gemeinschaften durch Musik in vielfältigen Kontexten und die wesentlich durch Emotion bestimmte soziale Kommunikation. Müller interessierte dabei vornehmlich der zeitlich und räumlich komparatistische Blick, um Emotionsgeschichte in historische Kontinuitäten und übergreifende sozialgeschichtliche Strukturen zu verorten. Am Beispiel der emotionalen Streitkultur um Richard Wagner im 19. und 20. Jahrhundert zeigte er auf, dass die Analyse von Emotionen innerhalb musikalischer „Parteien“ sozial-kommunikative Prozesse der gelingenden Identifikation und Integration gesellschaftlicher Gruppen sichtbar macht. So interpretierte er die emotional geführte Parteinahme für Wagner als „Lernleistung“ und gleichzeitig als Instrument zur Verhandlung von Gruppeninteressen des Bildungsbürgertums.

Im zweiten Teil der Einführung berichtete Musikwissenschaftlerin MARIE LOUISE HERZFELD-SCHILD (Berlin) von der Diskussion innerhalb der Forschungsgruppe um die Präzisierung der Rolle der Musik für emotional-soziale Prozesse. In der umstrittenen Frage, wie die Musik selbst als Gegenstand der historischen Emotionsforschung methodisch und inhaltlich ernst genommen werden kann, blieb Herzfeld-Schild nicht bei der Auswertung diskursiver Quellen über Zuschreibungen und Einordnungen emotionalen Erlebens durch Zeitgenossen stehen. Sie sprach sich auch für die Analyse von Musik anhand historisch-rhetorisch kodierter Topoi aus, die bis hin zu neueren hörpsychologischen Theorien über Gestaltähnlichkeit von musikalischen Parametern wie Melodik und Rhythmik reichen könne. Die emotionshistorische Sicht auf Musik bringe damit Komposition, Performance und Rezeption zusammen. Chancen und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit der Neurophysiologie und der Musikpsychologie deuteten sich hier an.

SUSANNE RODE-BREYMANN (Hannover) erprobte den emotionshistorischen Ansatz für musikalisches Repertoire der frühen Neuzeit. Geisteswissenschaftliche Beiträge zu einer Historisierung von Emotionen sieht sie als notwendige Perspektivierung des Diskurses in den empirischen Disziplinen. Trotz des virulenten Schweigens der Quellen zum konkreten emotionalen Erleben von Musik forderte sie zu Relektüren und Kontextualisierungen von Quellen auf. So könne beim ersten Blick auf eine Funeralmotette des 15. Jahrhunderts zunächst nur die gesellschaftliche Repräsentation von Trauer rekonstruiert werden. Die Relektüre könne jedoch die "Kerben" sichtbar machen, die als individueller Trauerausdruck in die Repräsentation eindringen. Im Kontext (auch unter Nutzung alternativer Quellenarten) könne eine alltagsgeschichtliche Norm und ihre (individuelle/emotionale) Abweichung bestimmt werden. Aus der schlüssigen Verbindung solcher Indizien sei schließlich eine interpretierende Schlussfolgerung berechtigt.

Emotionshistorische Forschung erhält in diesen Tagen eine neue institutionelle Verankerung in dem im Mai 2015 bewilligten DFG-Sonderforschungsbereich 1171 „Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ an der FU Berlin. Diesem gehört die Theaterwissenschaftlerin DORIS KOLESCH (Berlin) an, die von der konzeptionellen Forschungsausrichtung des SFB berichtete. Der interdisziplinäre Forscherverbund untersucht Gegenwartsphänomene von zunehmend mobilen, vernetzten und mediatisierten Emotionsdynamiken. Unter dem zu überprüfenden Leitbegriff der „affektiven Relationalität“ wird die Pluralität, Hybridität und Dynamik von emotionalen Wechselwirkungen zwischen Akteuren, Repertoires und Kollektiven untersucht. Zentral ist der Versuch, beim Nachdenken über emotionale Praktiken die Dichotomie von diskursiver Rationalisierung und körperlicher Einbettung zu unterlaufen. Die methodische Stärkung einer geisteswissenschaftlichen Perspektive auf aktuelle Emotionsforschung (mit Disziplinen wie Ethnologie, Soziologie, Politik- und Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft) soll einen bewussten Kontrapunkt zum dominanten Diskurs in den kognitiven und psychologischen Wissenschaften setzen.

Im zweiten Panel der Tagung wurde die emotionale Welt der Oper im 17. und 18. Jahrhundert zum Anschauungsobjekt. FRANK HENTSCHEL (Köln) beschäftigte sich mit der Inszenierung von Horror auf der barocken Opernbühne. Er knüpfte an die von Herzfeld-Schild gestellte Aufgabe an, die Musik selbst als Quelle von Emotionen zu analysieren, natürlich im Zusammenwirken mit anderen Bühnenmitteln. Ihn interessierte der Wandel im Verständnis von Horror vom 17. ins 18. Jahrhundert mit seiner Konjunktur des Gruselns. Als musikalische Marker für Horrorwirkungen besonders im 17. Jahrhundert identifizierte er einen tiefen Tonumfang/ Klangfarbe, Monotonie als Zeichen für Tod, und Lautstärke sowie Geräuscheinsatz. Mittels Kontextualisierung der musikanalytischen Befunde, Regieanweisungen und zeitgenössischer Diskurse zum Erhabenen, Überwältigenden und Majestätischen schloss er seine Indizienkette zu einer Interpretation eines "majestätischen Bösen" in der Barockoper.

SIMON HAASIS (Wien) brachte gewinnbringend die Kategorie des Körpers in die Tagung ein. Die anthropologischen Grundannahmen einer Zeit sind entscheidend für die Ermöglichung einer Rede, ja sogar einer Erfahrung von Emotion. Das wachsende und sich wandelnde Wissen über den Körper im 18. Jahrhundert vom homme machine zum homme sensible parallelisierte Haasis mit der Reform in der französischen tragédie lyrique hin zu realistischerer, empfindsamer Schauspielkunst und mit dem wachsenden Einfluss italienischer Opernmusik mit ihrer „exaltierten musikalischen Sprache“. Er diskutierte den Begriff der „Ansteckung“, der in zeitgenössischen Theatertraktaten die körperliche Übertragung von Emotion zwischen Schauspieler und Zuschauer beschreibt, in seinem Zusammenhang mit anthropologischen Überlegungen zu den körperlichen Sinnen etwa bei Diderot. Das zeitgenössische Verständnis einer körperlichen Ansteckung habe die Neukonzeption des Illusionstheaters mit dem Schauspielerkörper als Zeichenträger, sowie die Indienstnahme der körperlichen Wirkung von Gesang für illusionistisches Theater ermöglicht.

Das Panel beschloss SEBASTIAN WERR (München) mit einem raumtheoretischen Blick in das höfische Opernhaus als Erlebnisraum, wie es von offizieller Seite in idealtypischer Form in den höfischen Festberichten kodifiziert wurde. Der Vortrag regte eine Diskussion über die Differenz zwischen normativen Konstruktionen von Emotion in den Quellen und dem emotionalen Erleben in der historischen Praxis an.

Das dritte Panel der Tagung betrachtete Bewegung, Politik, Musik und Geräusch im 19. Jahrhundert. STEPHANIE SCHROEDTER (Berlin) bereicherte die Diskussion um die Perspektive der Tanzwissenschaft. In den zahlreichen Abbildungen im mittleren 19. Jahrhundert von den großen Massenbällen in der Pariser Opéra während der Karnevalsaison rekonstruierte sie kollektive emotionale Grenzüberschreitungen und Ekstasen. Schroedter erläuterte, wie der Tanz im Urbanisierungsprozess zunehmend den Zugang größerer Bevölkerungsschichten zu Räumen kultureller Teilhabe wie dem Opernhaus ermöglichte. Gesellschaftstanz konnte dabei in drei Dimensionen inszeniert werden: als „Musik zu Bewegung“ im Ballett der Oper, als „Musik in Bewegung“ bei Verwendung von Tanzmusik im Konzert, und als „Musik als Bewegung“ im öffentlichen Ball. Schroedter fasste das Erleben von Musik und Bewegung im „kinästhetischen Hören“ als Einheit, die emotional durchtränkt war und soziale Aggression oder Sublimierung beförderte.

ANGELA HEINEMANN (Essen) beleuchtete die politisch-emotionale Praktik der Burschenschafts- und Turnerlieder im frühen 19. Jahrhundert, die nationales Gefühl und soziale Kohärenz hervorbrachten und reproduzierten. Die Praxis der Neutextierung von Volksliedmelodien auf wechselnde Inhalte zeigte auch in diesem Kontext die Grenzen der Möglichkeit, musikalische Faktur und emotionale Wirkung aufeinander zu beziehen, und verdeutlichte die Nutzbarkeit von Musik als „blindem“ Katalysator von Gemeinschaft.

Eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Tagung brachte der Vortrag des Historikers DANIEL MENNING (Tübingen) über die Börsensalons in den USA des späten 19. Jahrhunderts und ihren Soundscapes. Menning betrachtete die Geräuschhaftigkeit des Börsentickers, der mit konstantem Klackern telegraphisch die aktuellen Börsendaten in die amerikanischen Börsensalons übertrug. Menning las die Beschreibungen der Spekulanten ihrer Wahrnehmung des Börsenticker-Geräuschs als Quelle für ihre Rationalisierungsstrategien ihrer Arbeit, die stets emotional eingebettet waren. Die Akteure schieden Rationalität von Irrationalität, indem sie das Klackern des Tickers nicht als Lärm, sondern als Musik hörten, den Kurs-Chart als Partitur, und die eigene Arbeit als die antrainierte Intuition eines Dirigenten verstanden. Gleichzeitig zeige die Euphorie über das musikalisierte Erleben des Tickers die Integration ihrer Tätigkeit in ein rational-emotionales Selbstverständnis. Eine explizite Verortung dieses Ansatzes in das naheliegende Feld der sound studies wäre fruchtbar gewesen.

Im vierten Panel wurden emotionale Gemeinschaften des 20. und 21. Jahrhunderts thematisiert. KONRAD SZIEDAT (München) betrachtete die emotionalen Subtexte der Diskussionen in der westdeutschen Linken angesichts des Mauerfalls 1989 am Beispiel der kollektiven Kraft der Nationalhymne. Anhand von TV-Aufzeichnungen aus der historischen Bundestagssitzung am 9. November 1989 und von der Kundgebung Helmut Kohls in Berlin am Folgetag zeigte er, wie das Absingen der Nationalhymne von linken Kreisen vor dem Hintergrund der üblichen „Symbolaskese“ der Bundesrepublik als politisch affirmativ empfunden wurde. Die Verweigerung des kollektiven Gesangs hingegen wurde als politischer Nonkonformismus wahrgenommen.

Gewinnbringend war der Beitrag MALTE KOBELS (Berlin), der aus der Forschung im Rahmen seiner Masterarbeit über die Technologie der Hi-Fi-Anlagen in den USA der 1950er-Jahre und das damals neue Unterhaltungsmusikrepertoire der „Exotica“ berichtete. Er betonte die Produktion von Gefühlen mittels der neuen Technologie des Stereo-Klangs, die von Familienvätern in Mittelklasse-Wohnungen in einem klanglich entrückten und männlich privilegierten Schutzraum konsumiert wurde. Technologie und Exotismus des neuen „Südsee-Jazz“ interpretierte er sowohl als Marktkalkül der Unterhaltungsindustrie, als auch als Mittel des emotionalen Selbstmanagements der Nachkriegsjahre. Raum, Klang und Imagination wirkten dabei zusammen.

LUIS-MANUEL GARCIA (Groningen) stellte die Hypothese auf, dass die Konjunkturwellen von elektronischer Tanzmusik mit globalen Krisenzeiten zusammenfallen. Die seit den 1970ern erfolgten Wellen der massenwirksamen Rezeption von underground-Clubkultur ständen in „affektiver Dissonanz“ zu global-politischen Ereignissen. Garcia versteht diesen Widerspruch als Versuch, zeitlich begrenzte Utopien zu inszenieren.

Im abschließenden Roundtable wurden die im Laufe der Tagung explizierten Chancen und Grenzen der historischen Emotionsforschung rekapituliert. Die große Chance für die Musikwissenschaft, durch Emotionsgeschichte näher an den „Kern“ der Musik heranzukommen als durch Formalanalysen (Frank Hentschel), treffe immer auf die methodische Schwierigkeit, von konstruktiven oder normativen Diskursivierungen von Emotion aus an die historische Emotion heranzukommen, ohne der Gefahr der subjektiven Übertragung und Vereinnahmung des Quellenmaterials zu erliegen. Methoden wie ein ethnographischer Blick auf Geschichte, historical re-enactment, ein historisch-anthropologischer Fokus oder die Nutzung musikpsychologischer Theorien wurden diesbezüglich diskutiert. Emotionsgeschichte könne schnell Ideologemen wie der „Einfühlung“ oder der Suche nach kausalen Bedingungen verfallen. Durch emotionshistorische Fragen können aber auch wichtige Schritte zur Interdisziplinarität und zur Erschließung alternativer Quellenarten und Fragestellungen gemacht werden. Methodische Tugenden wie die Markierung der Positionalität des Geschichtsschreibers können positive Begleiteffekte der Emotionsgeschichte sein.

Die Tagung gab erhellende Einblicke in die aktuelle interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft und Musikwissenschaft. Das Verhältnis zu den empirischen Disziplinen wurde nur zurückhaltend problematisiert, hier deutete sich Diskussionsbedarf an. Gerade die Frage, wie man mit den Arbeitsweisen, Ergebnissen und der wissenschaftspolitischen Dominanz der empirischen Forschung umgehen kann, erscheint mir wichtig für die Zukunft geisteswissenschaftlicher Beschäftigung mit Emotion.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Probleme und Perspektiven

Sven Oliver Müller (Berlin)/Marie Louise Herzfeld-Schild (Berlin): Einführung

Susanne Rode-Breymann (Hannover): Emotionen im Musikleben – Emotionen in der Musik: Einige grundsätzliche Überlegungen über das Problem, auf der Grundlage von Quellen der Frühen Neuzeit eine Binsenwahrheit zu validieren

Doris Kolesch (Berlin): Überlegungen zum SFB 1171 „Affective Societies“

Panel 2: Formen des Musiktheaters in der Frühen Neuzeit

Frank Hentschel (Köln): Horror im Musiktheater des Barock

Simon Haasis (Wien): Ansteckende Gesten und infizierte Körper. Emotionshistorische Überlegungen zu einer Poetik des Schrecklichen in der Tragédie lyrique des späten Ancien Régime

Sebastian Werr (München): Das höfische Opernhaus als Erlebnisraum

Panel 3: Bewegung und Politik im 19. Jahrhundert

Stephanie Schroedter (Berlin): Gefühle in Bewegung und gefühlte Bewegung – Tanz(musik)kulturen des 19. Jahrhunderts zwischen Emotion und Imagination

Angela Heinemann (Essen): Empfundene Nation – National-patriotische Lieder als Ausdruck einer neuen Identität bei Turnern und Burschen im frühen 19. Jahrhundert

Daniel Menning (Tübingen): Emotion und Rationalität, Lärm und Musik – Oder: Erklärungsdichotomien der Börsenspekulation

Panel 4: Gemeinschaftsgefühl und Musikkultur im 20./21. Jahrhundert

Konrad Sziedat (München): „Wir sehen nicht, wir hören nicht.“ Musik und Gemeinschaft bei westdeutschen Linken um 1989

Malte Kobel (Berlin): Vorgefühlt? Die Produktion von Gefühlen in der Hi-Fi-Kultur der 1950er Jahre am Beispiel von Exotica

Luis-Manuel Garcia (Groningen): Krise und euphorische Klubkultur

Roundtable – Chancen und Grenzen
Moderation: Lena van der Hoven (Bayreuth)

Teilnehmer: Luis-Manuel Garcia, Frank Hentschel, Marie Louise Herzfeld-Schild, Sven Oliver Müller, Susanne Rode-Breymann


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