NS-Belastung zentraler deutscher Behörden. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte 1949-1969

NS-Belastung zentraler deutscher Behörden. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte 1949-1969

Organisatoren
Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2018 - 20.01.2018
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Von
Jan Ruhkopf, Forschungsbereich Zeitgeschichte, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde

Die Erforschung der zentralen deutschen Behörden und ihrer NS-Vergangenheit ist mit dem Jahr 2017 in eine neue Runde gegangen.1 Auf Anregung des Instituts für Zeitgeschichte und des Zentrums für Zeithistorische Forschung hatte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) eine entsprechende Förderlinie mit dem Ziel ausgeschrieben, die bisher auf einzelne Behörden ausgerichtete Forschung um Fragestellungen mit übergreifendem und vergleichendem Zuschnitt zu erweitern.2 Hieraus sind insgesamt zehn Forschungsunternehmen hervorgegangen; darunter Projekte zur Erforschung etwa der Nachkriegsgeschichte des Bundeskanzleramts, der Neuformierung der Landesjustizbehörden nach 1945 im deutsch-deutschen Vergleich sowie mit thematischen Schwerpunkten im Bereich politischer Bildung oder Eliten(dis)kontinuität.3

Zu den geförderten Forschungsvorhaben gehört auch das Projekt mit dem Titel „Ein Sonderministerium im klassischen Gewand. NS-Geschichte, Netzwerke und Diskurse des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte“. Beantragt wurde es durch einen Tübinger Forschungsverbund unter der Federführung von Mathias Beer und Reinhard Johler. Er vereinigt das Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL), das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft sowie das Zentrum zur Erforschung deutsche Geschichte und Kultur in Südosteuropa an der Universität Tübingen.

Organisiert von MATHIAS BEER (Tübingen), fand als eine Art take off des Projektes ein zweitägiger Workshop in den Räumen des IdGL in Tübingen statt, um bisherige Überlegungen zur Projektstruktur, zu bestehenden Forschungshypothesen und Erkenntnisinteressen zur Diskussion zu stellen und zusätzliche Impulse zu nutzen. Zu diesem Zweck wurden ausgewiesene Wissenschaftler eingeladen: PERTTI AHONEN (Jyväskyla), MAGNUS BRECHTKEN (München), CHRISTIAN MENTEL (Potsdam) und MATTHIAS STICKLER (Würzburg), die Impulsreferate beisteuerten, und HENRIK BISPINCK (Berlin), ERIK FRANZEN (München), MAREN RÖGER (Augsburg), MICHAEL SCHWARTZ (Berlin) sowie JOSEF WOLF (Tübingen), die als Kommentatoren mitwirkten.

Der erste Tag widmete sich einer ersten Annäherung an zentrale Fragen des Forschungsvorhabens: Forschungsperspektiven – NS-Belastung – Netzwerke – Quellenlage. CHRISTIAN MENTEL (Potsdam) versammelte einführend aktuelle Perspektiven der Behördenforschung, die sich weniger klassisch institutionengeschichtlich und stattdessen stärker thematisch sowie zäsur-übergreifend mit ihrem Gegenstand auseinandersetzen sollte. Dementsprechend gelte es, anhand von Querschnittstudien Netzwerke und personale Laufbahnen ebenso in den Blick zu nehmen wie die Frage nach der Wechselwirkung von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Dass die Erforschung des BMVt Anknüpfungspunkte für alle diese Perspektiven bieten kann, wurde vom Plenum herausgearbeitet. Dabei wurde zunächst auf die Verbindungslinien zwischen 1918 und 1969 verwiesen, die, da das BMVt keinen Vorgänger und Nachfolger hatte, vor allem über persönliche Netzwerke und Interessengruppen funktionierten, die die Arbeit des Ministeriums erst möglich machten und damit prägten. Bundesbehörden seien eben nicht rein „monolithische“ Apparate, sondern in ihrer Arbeit und Wirkung bedingt von der Herkunft und politischen Vergangenheit ihrer personalen Beziehungen, woraus sich wieder Fragen nach der Bedeutung und Funktionsweise von Systemwechseln und der (Weiter-)Nutzung inhaltlichen und administrativen Wissens ergäben. Im weiteren Diskussionsverlauf schloss man sich dieser Einschätzung an und betonte zusätzlich die Notwendigkeit, das BMVt in entsprechende Politik- und Wissensfelder einzubetten, um den Einfluss der Akteurs- und Diskursebene für die Arbeit des Ministeriums sichtbar zu machen.

MAGNUS BRECHTKEN (München) stellte in seinem Beitrag den Begriff „NS-Belastung“ ins Zentrum. Er machte deutlich, dass zunächst ein Unterschied zwischen formaler Belastung, durch Mitgliedschaft in entsprechenden Organisationen, und materialer Belastung, durch tätiges/tätliches Mitwirken im NS-Apparat, bestehe. Dieser Unterscheidung müsse aber auch die Dimension der Zeit hinzugerechnet werden: NS-Belastung wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren jeweils anders wahrgenommen als etwa in der Gegenwart. Daraus resultiere eine unterschiedliche juristische und gesellschaftliche Bewertung, der sich die Forschung bewusst sein müsse. Insbesondere vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ergebe sich daraus für das Projekt die Notwendigkeit, nach den Bewertungsmaßstäben und ihrem Wandel zu fragen, sowie kritisch zwischen völkischem Denken und genuin nationalsozialistischem zu unterscheiden. Damit ergäben sich aber gleichzeitig auch Chancen: So könne, ausgehend vom Ministerium, nach den mentalen Entwicklungen in deutschen Gesellschaft insgesamt gefragt und hier innovativ nach der Wirkung auf Arbeitsinhalte von Ministerien und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unter dem Rubrum der NS-Belastung gefahndet werden.

PERTTI AHONEN (Jyväskyla) führte am Beispiel der Vertriebenenverbände in der Politik der frühen Bundesrepublik in den Bereich Netzwerke und seine Bedeutung für das Thema ein. Nach 1945 hätten vormalige Gegner auf Zusammenarbeit setzen müssen, um ihren Interessen Ausdruck zu verleihen. Dies müsse problematisiert werden, wenn man entsprechende Debatten und Deutungskämpfe in den politischen Verhandlungen der 1950er-Jahre erforsche. Zwar sei die Legitimation und Repräsentativität der Verbände anhand unsicherer Mitgliederzahlen zu hinterfragen, dennoch galten sie, vor allem in Fragen der Ostpolitik, als „Nebenregierung“, deren Kompetenzen die staatlichen Behörden nutzten. Die anschließende Diskussion hob dabei zwei Punkte im Zusammenhang mit dem BMVt besonders hervor: Zum einen den Widerspruch zwischen der „Heimat“-Politik der Verbände und den Zielen des Ministeriums, die offiziell unter dem Paradigma der „Eingliederung“ standen, zum anderen die Bedeutung des BMVt als Netzwerkknotenpunkt zwischen Verbänden, deren wissenschaftlichen Instituten und staatlichen Institutionen sowie dem Gesamtrahmen der frühen BRD als „Honoratioren-Demokratie“.

Quellen für mögliche Zugänge zur Flüchtlings- und Vertriebenenproblematik präsentierte MATTHIAS STICKLER (Würzburg). Grundsätzlich sei die Überlieferung aufgrund der Aufsplitterung von Akteuren, Institutionen und Organisationen breit gestreut. Gedruckte Quellen seien erinnerungsgeschichtlich interessant (Heimatbücher, Memoirenliteratur, Heimatzeitungen), wohingegen die wissenschaftliche Aufarbeitung durch die Vertriebenenverbände selbst dürftig gewesen sei, was sich in wenig auswertbarem Material widerspiegele. Ungedruckte Quellen fänden sich dagegen auf allen Ebenen, so im Bundesarchiv und in den Landesarchiven, den Partei- und Verbandsarchiven bis hinunter auf die Ebene unterschiedlich erschließbarer Privatarchive. Die Quellenübersicht wurde vom Plenum noch weiter ergänzt: Archivalien westlicher wie östlicher Geheimdienste könnten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zum Thema BMVt ebenfalls interessante Quellen verwahren, wie auch Stadt- und Kommunalarchive auf einschlägiges Material zu prüfen wären. Ein Sonderpunkt ergab sich aus der Frage nach Bildquellen und der Möglichkeit ihrer Verwendung, wobei man auf Unterschiede der ästhetischen Wahrnehmung zwischen den 1950er-Jahren und der Gegenwart und deren Rückspiegelung auf den entsprechenden „Zeitgeist“ hinwies, wie auch die Repräsentations- und Inszenierung des Bundesministeriums selbst als möglicher Faktor der Untersuchung festgehalten wurde.

Am zweiten Tag wurden von den Projektmitarbeitern Thema, Ziele, Fragestellungen und Struktur des Projektes vorgestellt. MATHIAS BEER (Tübingen) gab als Projektleiter zunächst einen Überblick zum Gesamtvorhaben. Als oberste Bundesbehörde sollte das 1949 gegründete BMVT mithelfen, eine zentrale sozialpolitische Aufgabe zu lösen, die der Bundesrepublik in die Wiege gelegt wurde – die Integration von rund acht Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen und damit von über einem Fünftel der Bevölkerung des neuen westdeutschen Staates. Das Ministerium – ein „Sonderministerium im klassischen Gewand“4 – hatte weder einen institutionellen Vorgänger noch Nachfolger. Dennoch, so die These des Projektes, sei eine NS-Belastung auch bei diesem Ministerium gegeben und anhand dreier Bereiche besonders gut greifbar, die das Forschungsvorhaben als einzelne, miteinander verflochtene Projektbereiche mit einem jeweiligen thematischen Schwerpunkt gliedern: I.) Personal- und Organisationsgeschichte, II.) Verflechtungs- und Netzwerkgeschichte, III.) Diskursgeschichte des ministeriellen Verwaltungshandelns. Mit diesem Ansatz, so Beer, erweitere das Projekt als Kulturgeschichte des BMVt die Forschungszugänge zur NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden mit dem besonderen Fokus darauf, den Begriff „NS-Belastung“ sowohl genauer als auch differenziert zu konturieren. In der anknüpfenden Besprechung wurde zum einen die notwendige Verzahnung dieser Bereiche betont, die komplementär und kommunizierend zusammenarbeiten sollten. Hier wurden aber auch die Möglichkeiten des Projektes gesehen: Eben weil das BMVt einen Sonderfall in der Behördenforschung bilde, könne die Zusammenschau von Organisationsgeschichte, Netzwerkstrukturen, Diskursen und Verwaltungshandeln dem Zusammenhang von NS-Belastung und Gesellschaftsgeschichte der 1950er- und 1960er-Jahre neue Aspekte hinzufügen. Konkret wurden in diesem Zusammenhang auch Möglichkeiten erwogen, das konkrete Handeln des Ministeriums zu erfassen.

Dieser Gegenstand wurde verstärkt in der Besprechung des dritten Projektbereiches diskutiert, den JAN RUHKOPF (Tübingen) vorstellte. Die Möglichkeiten und Ziele des Dissertationsvorhabens erläuterte er an dem vom BMVt geförderten Forschungsprojekt „Die Vertriebenen in Westdeutschland“5 und insbesondere dem Leitbegriff dieses Projektes, „Eingliederung“. Zum einen werde es mit diesem Einstieg möglich, das Handeln des Ministeriums auf den Einfluss und damit die Wirkung von NS-Belastung und früherer Denktraditionen zu analysieren. Zum anderen könne das BMVt-geförderte Projekt aber auch als Sonde dienen, Ordnungsvorstellungen der jungen bundesrepublikanischen Gesellschaft abzuleiten, die diese Denktraditionen zuließ. In der anschließenden Diskussion wurde auf weitere Leitbegriffe der Zeit hingewiesen; neben der „Ordnung“ gelte es zugleich „Dynamisierung“ und die daraus entstehende Dialektik im Blick zu behalten. Zugleich wurde dafür plädiert, Reichweite und Bedeutung des Sammelwerks für die öffentliche Diskussion kritisch zu prüfen und daran angeschlossen angeregt, neben der Wissenschaft weitere „Arenen der Öffentlichkeit“ wie Politik, Presse, Publizistik der 1950er- und 1960er-Jahre systematisch auszuwerten – so könnte, mit dem BMVt als Startpunkt, Wirkung und Reichweite des Eingliederungsdiskurses und seiner Leitbegriffe innerhalb des gesellschaftlichen Denkens tiefer erfasst werden.

Der aktive und diskussionsfreudige Teilnehmerkreis hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Ziel des zweitägigen Workshops erreicht wurde – eine „produktive Verunsicherung“, wie Mathias Beer betonte. Bestehende Forschungshypothesen konnten überprüft und verbessert werden, außerdem wurden neue Perspektiven hinzugefügt und weitere Analyseschwerpunkte gesetzt. Der take off des Projektes ist gelungen und es wurde positiv aufgenommen, dass der Forschungsprozess mit weiteren Arbeitstreffen kritisch-reflektierend begleitet werden soll.

Konferenzübersicht:

Mathias Beer / Reinhard Johler (Tübingen): Einführung. Anlass, Ziele, Erwartungen

Christian Mentel (Berlin): Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung

Magnus Brechtken (München): NS-Belastung. Ein schillernder Begriff(?)

Pertti Ahonen (Jyväskylä): Netzwerke. Vertriebenenorganisationen in der Politik der frühen Bundesrepublik

Matthias Stickler (Würzburg): Quellenlage. Zugänge zur Flüchtlings- und Vertriebenenthematik

Mathias Beer (Tübingen): Das Forschungsprojekt BMVt. Thema, Fragestellung, Ziele

Jan Ruhkopf (Tübingen): Das Forschungsprojekt BMVt. Projektbereich III – Diskurse und Kategorien im Verwaltungshandeln des Bundesvertriebenenministeriums

Anmerkungen:
1 Zum aktuellen Forschungsstand und zur Übersicht über abgeschlossene und laufende Projekte bis 2016 vgl. Christian Mentel / Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Frank Bösch / Martin Sabrow / Andreas Wirsching, München / Berlin 2017.
2 Vgl. dazu den Ausschreibungstext https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/2016/2016-11-23-forschungsprogramm-ns-vergnagnehit.pdf?__blob=publicationFile&v=4;v=4 (25.01.2018).
3 Vgl. die entsprechende Mitteilung zu den Ergebnissen der BKM-Fördermaßnahme, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zentraler Behörden - Start der Forschungsprojekte, https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/2017/08/2017-08-14-bkm-aufarbeitung-ns.html (25.01.2018), sowie dort auch der Link zur Liste der ausgewählten Projekte.
4 Mathias Beer, Symbolische Politik? Entstehung, Aufbau und Funktion des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, in: Jochen Oltmer (Hrsg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Osnabrück 2003, S. 295–322, hier S. 322.
5 Eugen Lemberg / Friedrich Edding (Hrsg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, 3 Bde., Kiel 1959.


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