Sonia Combe: Ein Leben gegen ein anderes

Sonia Combe: Ein Leben gegen ein anderes

Organisatoren
Catherine Gousseff, Centre Marc Bloch; Dominik Rigoll, ZZF Potsdam
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2018 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Henning Fauser, Sciences Po Rennes

Aufbauend auf der Vorstellung des Buches "Ein Leben gegen ein anderes" durch die Autorin Sonia Combe, befasste sich ein Workshop mit dem darin 18angesprochenen Thema der „Grauzone“ (Primo Levi) im KZ-Alltag sowie der Nachgeschichte dieser „Grauzone“ in DDR, BRD und dem vereinigten Deutschland.

Zuerst legte Combe die Gründe für das Verfassen ihres Essays dar und stellte die wichtigsten Thesen daraus vor. Zunächst betonte sie, dass dieses Buch in der Kontinuität ihrer Beschäftigung mit der Geschichtsschreibung und dabei vor allem der Abhängigkeit vom jeweiligen soziopolitischen Klima stehe. Bereits in den 1980er Jahren hätten ihr kommunistische Staaten als Beobachtungsraum für die Erschaffung historischer Narrative gedient. Nach deren Auflösung habe sie einen Unterschied zwischen der ehemaligen DDR und den anderen postsozialistischen Staaten festgestellt: Im Gegensatz zu letzteren sei die Aufarbeitung und Neubewertung der DDR-Geschichte nicht die Arbeit „einheimischer“, ostdeutscher Historiker/innen gewesen, sondern aufgrund von deren „Abwicklung“ nach 1990 von ihren westdeutschen Kollegen geschrieben worden. Als konkretes Beispiel führte Combe hierfür Lutz Niethammers Buch „Der ›gesäuberte‹ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald“ 1 an, das sie bereits in ihrem Essay stark kritisiert hatte. Ein weiteres Beispiel für die „Revision“ der DDR-Geschichte nahm sie auch in der akademischen und medialen Beschäftigung mit „Buchenwaldkind“ Stefan J. Zweig wahr. Das starke mediale Interesse für diesen Fall sei der Ausgangspunkt für ihren Essay gewesen. Combes Ansatz habe dabei zunächst in der Dekonstruktion der Begriffe „Opfertausch“ und „rote Kapos“ bestanden. Für sie hätten diese Termini keinen heuristischen Wert und trügen nicht zu einem objektiven Verständnis des Funktionierens der Konzentrationslager bei. Vielmehr seien es „anklagende Begriffe“, die ein genaueres Verständnis des Lageralltags verhinderten.

Im Anschluss an die Feststellung des mangelnden wissenschaftlichen Wertes dieser Begriffe analysierte Combe deren Funktion, insbesondere innerhalb der deutschen Erinnerungspolitik nach der Wiedervereinigung. Zugespitzt fragte sie dabei, warum das Buchenwaldkind gleichsam „mit dem Bade ausgegossen“ worden sei und die ehemaligen „Helden“ nun auf der Anklagebank säßen. Sie verdeutlichte diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass Stefan J. Zweig und seine Geschichte in der aktuellen Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald keine Erwähnung mehr fänden und nun das Bild eines anderen Kindes gezeigt werde. In ihrer Antwort auf diese Fragen wies Combe zunächst auf das politische Klima hin, welches in der Zeit der Entstehung von Niethammers Buch geherrscht habe. Zum einen verwies sie hierbei auf eine „denunziatorische Dynamik“ nach der Öffnung der Archive von Staatssicherheit und SED. Zum anderen konstatierte Combe den Willen, die kommunistische Erfahrung der DDR zu diskreditieren, um so die rasche Wiedervereinigung zu legitimieren. In diesem Zusammenhang kritisierte sie auch die in der Bundesrepublik übliche Rede vom „Mythos des Antifaschismus“, dessen Verwendung suggeriere, dass der antifaschistische Kampf niemals existiert habe. Combe verdeutlichte diesen Unterschied am Beispiel Frankreichs, wo es aus ihrer Sicht unmöglich sei, vom „Mythos der Résistance“ zu sprechen, da dies die historische Existenz der Résistance in Frage stelle. Im Gegensatz zu Frankreich, wo der Begriff des „résistancialisme“ 2 die ideologische Instrumentalisierung der Résistance von deren historischer Existenz unterscheide, gebe es eine solche Differenzierung für den Antifaschismus nicht.

Schließlich räumte Sonia Combe ein, dass die Erinnerungspolitik und das historiographische Schaffen der DDR zur Gründungserzählung der DDR beigetragen und somit legitimierenden Charakter gehabt hätten. Dem stellte sie jedoch die Bundesrepublik entgegen, in der die Wehrmacht und das diplomatische Korps über Jahrzehnte hinweg von jeglicher Beteiligung an der Verfolgung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma freigesprochen worden seien, um so die vom Nationalsozialismus geschundene „deutsche Identität“ wiederaufzubauen. Dieser „Mythos“ der BRD sei noch weiter von der historischen Wahrheit entfernt gewesen als die Aneignung des antifaschistischen Kampfes zu Legitimationszwecken durch die DDR. In ihren abschließenden Worten betonte Sonia Combe die Bedeutung der Geschichte des Antifaschismus als „Schmelztiegel einer europäischen Identität“ und leitete daraus die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Forschung zu diesem Thema ab.

Nach der Buchvorstellung ging VERONIKA SPRINGMANN (Berlin) in ihrem Vortrag am Beispiel von Fußballspielen in verschiedenen Konzentrationslagern auf die „Grauzone“ im KZ-Alltag ein. Diese Spiele zwischen Häftlingsmannschaften fanden ab 1942 in den meisten Lagern unter Duldung oder mit Erlaubnis der Aufseher statt. Die Mannschaften waren dabei nach Arbeitskommandos, Farben oder Nationen benannt und spiegelten somit das Herrschaftsprinzip der SS, „divide et impera“, wider. Neben der optisch sichtbaren Kategorisierung der Häftlinge durch Winkelfarben und Symbole sorgte das Prinzip der „Häftlingsselbstverwaltung“, d.h. die Vergabe von verschiedenen Befehls- und Anweisungskompetenzen an „Funktionshäftlinge“, für eine weitere Hierarchisierung der Häftlingsgesellschaft. Nur die Häftlinge in solch herausgehobenen Funktionen hatten die Möglichkeit, Fußballspiele und alle dafür nötigen Utensilien zu organisieren, was wiederum nicht ohne „Nahbeziehungen“ zu den Wachsoldaten möglich war. Veronika Springmann betonte, dass es sich dabei um Kollaboration gehandelt habe, „wie sie ständig in den Konzentrationslagern stattfand, stattfinden musste“. Wie dieser Raum aber von den Häftlingen für sich oder andere genutzt wurde, sei eine ambivalente Frage gewesen, der die Überlebenden später weitestgehend aus dem Weg gegangen seien. Auch die Nachkriegsgesellschaft habe Geschichten dieser Beziehungen zwischen Häftlingen und Bewachern nicht hören wollen. In der abschließenden Bewertung von Combes Studie betonte Springmann, dass deren Verdienst weniger im Beitrag zur Geschichte der Konzentrationslager und zur Erforschung der „Grauzone“ bestehe, dafür jedoch die komplizierte Diskursgeschichte freilege, die den Blick auf die Konzentrationslager und das Gedenken präge.

Im Anschluss daran las Dominik Rigoll den Vortrag der abwesenden DAGMAR LIESKE (Frankfurt/Main) vor, welcher der Wahrnehmung der als „Berufsverbrecher“ stigmatisierten Häftlinge gewidmet war. Am Beispiel des KZ Sachsenhausen zeigte sie dabei, dass diese Verfolgtengruppe häufig mit der „Grauzone“ assoziiert wurde. Dies lag vor allem daran, dass die Häftlinge mit dem „grünen Winkel“ von der SS zur Kontrolle der anderen Inhaftierten eingesetzt wurden. Mitunter seien diese Funktionshäftlinge später als die eigentlichen Schergen erinnert worden, wohingegen die SS-Angehörigen in den Hintergrund gerückt seien. Elemente dieser wenig hinterfragten Darstellung als Gruppe, die per se anfälliger für Gewalt und unsolidarisches Verhalten gewesen sei, identifizierte Lieske auch im Essay von Combe. Detailliert hinterfragte sie anschließend die Formel des „Kampfes“ zwischen „politischen“ und „kriminellen“ Häftlingen. Der Vorstellung eines Kampfes zwischen „Rot“ und „Grün“ setzte Lieske entgegen, dass nur eine kleine Gruppe in diese Auseinandersetzungen involviert gewesen sei, wohingegen die große Mehrheit der Inhaftierten keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss auf ihr persönliches Schicksal oder das ihrer Mithäftlinge gehabt hätten. Dennoch würden insbesondere die „grünen Winkel“ bis heute eher als „Mittäter“ denn als NS-Opfer wahrgenommen. Abschließend kritisierte sie Combes Verwendung des Begriffes „gewöhnliche Straffällige“, der zu implizieren scheine, dass es sich nicht um „echte“ NS-Opfer handele. In der anschließenden Diskussion ging Sonia Combe auf dieses Übersetzungsproblem ein und betonte, dass der französische Terminus „droits commun“ die nach allgemeinem Recht verurteilten Inhaftierten bezeichne und weit weniger stigmatisierend als die Bezeichnung „Krimineller“, und erst recht „Berufsverbrecher“, sei.

Als Reaktion auf Sonia Combes Vortrag plädierte Philipp Neumann-Thein für einen genaueren Blick auf die Situation nach 1989, insbesondere auf den Umgang mit dem in der DDR aufgebauten und anschließend dekonstruierten Geschichtsbild, welches insbesondere jüdische Häftlinge, aber auch Sinti und Roma und andere Gruppen praktisch hermetisch ausgeschlossen habe. Bezüglich der „Abwicklung“ des Antifaschismus betonte er, dass diese Lesart auf die Gedenkstätte Buchenwald nicht zutreffe, da der Mitarbeiterstab in den ersten, für die Neukonzeption der Gedenkstätte sehr entscheidenden, Jahren nach der Wiedervereinigung größtenteils mit dem der DDR identisch geblieben sei. Zudem fragte er Combe, welche Alternativen sie für die nach 1989 erfolgte umfassende quellenbasierte Aufarbeitung der Geschichte des KZ und des Speziallagers Buchenwald, aber auch der Gedenkstätte selbst, vorschlage. In ihrer Antwort wiederholte Combe die Kritik an der Tilgung Stefan J. Zweigs aus der gegenwärtigen Dauerstellung und rief dazu auf, dies unmittelbar zu beheben. Außerdem forderte sie, die ihrer Ansicht nach einseitig stigmatisierende Darstellung Ernst Busses – früherer kommunistischer Reichstagsabgeordneter, in Buchenwald Kapo des Häftlingskrankenbaus und 1952 im Gulag gestorben – in dieser Ausstellung zu beenden, d.h. auch Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die sein Handeln positiv beurteilen.

Im zweiten Panel beleuchtete HENNING FISCHER (Berlin) Parallelen der Erinnerungsgeschichte zwischen Ravensbrück und Buchenwald. Neben Reaktionen auf die Strafverfolgung ehemaliger Funktionshäftlinge ging er auf den Umgang mit Erinnerungsberichten und literarischen Darstellungen ein, die nicht dem offiziellen Geschichtsbild entsprochen hätten. Am Beispiel der Rezeption von Hedda Zinners „Ravensbrücker Ballade“, 1961 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt, verdeutlichte er dabei, warum dieses Werk im Gegensatz zu Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ kein antifaschistischer Erinnerungsort werden konnte. Zum einen habe die Ballade zu sehr dem „Antifaschismus-Dogma“ der DDR widersprochen, um erfolgreich werden zu können, zum anderen stehe sie im Kontrast zur Selbstwahrnehmung der Mehrheit der Ravensbrücker Überlebenden.

Anschließend befasste sich PHILIPP NEUMANN-THEIN (Weimar) in seinem Vortrag mit den erinnerungspolitischen Aktivitäten der kommunistischen Häftlinge des KZ Buchenwald im Kalten Krieg. Dabei vertrat er die These, dass die Protagonisten des kommunistischen Buchenwald-Narrativs während ihrer Haft und auch danach stets Akteure geblieben seien, d.h. die eigene Geschichte – im doppelten Sinne – selbst hatten mitbestimmen wollen. Ihre Beteiligung an der „Häftlingsselbstverwaltung“ brachte er auf den Begriff der „zwiespältigen Kernerfahrung“, betonte jedoch auch die bedeutenden Leistungen dieses transnationalen Widerstandsnetzwerkes. So habe diese Organisation nach der Befreiung des Lagers die Versorgung der überlebenden Häftlinge aufrechterhalten und Lynchmorde wie in anderen befreiten Lagern verhindern können. Danach betrachtete Neumann-Thein die Entstehung des „kommunistischen Buchenwald-Narrativs“ und seine Etablierung in der Öffentlichkeit bis zum Ende der 50er Jahre. Zentrale Motive dieser Großerzählung waren die Suggestion, dass es innerhalb der Häftlingsgesellschaft eine generelle internationale Solidarität gegeben habe, die „Selbstbefreiung“ ohne Einwirken der amerikanischen Armee, sowie das Bild, dass alle Häftlinge unter den gleichen schlechten Bedingungen gelitten und gekämpft hätten. Dieses Geschichtsbild sei anschließend bis 1989 hermetisch aufrechterhalten, neue Forschungsergebnisse der Gedenkstätte nicht publiziert worden. Abschließend erklärte Neumann-Thein die „gestaute Emotionalität“ der Auseinandersetzungen über Buchenwald nach Ende der DDR durch die fehlenden öffentlichen Debatten in den vorhergehenden Jahrzehnten, wie sie z.B. in Frankreich seit 1945 stattgefunden hatten.

In der darauffolgenden Diskussion, wurde die von Sonia Combe gestellte Frage der Klärung der Begriffe aufgriffen, um den Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR von dessen Vorgängern zu unterschieden. Siegfried Prokop schlug in Anlehnung an Jochen Czerny den Begriff „autochthoner Antifaschismus“ vor, wohingegen Cornelia Siebeck von einem „doktrinären Antifaschismus“ der DDR sprach. Anschließend wiederholte Sonia Combe ihre Frage, ob der Name von Stefan J. Zweig auch weiterhin in der Dauerausstellung der Gedenkstätte tabu bleibe. Daraufhin skizzierte Philipp Neumann-Thein die Erinnerungsgeschichte des „Buchenwald-Kindes“ in der DDR und beschrieb die Kontakte zwischen der Gedenkstätte und Stefan J. Zweig seit den 1980er Jahren. So hätte seine Biografie auch in der neuen Dauerausstellung dargestellt werden sollen, was Zweig jedoch abgelehnt habe.

In der von Rigoll moderierten Abschlussdiskussion betonte Springmann, dass man bei der Auseinandersetzung mit „Grauzonen“ Widersprüchlichkeiten akzeptieren können müsse. Zudem plädierte sie dafür, in diesem Kontext von „Häftlingen“ und „Aufsehern“ zu sprechen, anstatt die moralisch beladenen Begriffe „Täter“ und „Opfer“ zu verwenden. Betrachte man Häftlinge nur als „Opfer“, so vernachlässige man deren „agency“, d.h. den Blick auf ihre Handlungsräume, deren genauere Betrachtung wiederum zu neuen Narrationen führen könne. Im Anschluss daran hinterfragte Siebeck diese Dichotomien wie auch den Opferbegriff und stellte zur Debatte, ob nicht auch Opfer „agency“ haben könnten. Combe betonte danach, dass David Roussets bisher nicht ins Deutsche übersetzter Roman „Les jours de notre mort“ (1947) das bedeutendste literarische Werk sei, um die „Grauzone“ zu verstehen. Angesichts der Veränderung von deren Wahrnehmung sagte sie, dass beispielsweise Primo Levi am Ende seines Lebens sein persönliches Urteil über die Angehörigen des „Sonderkommandos“ revidiert habe. Mit Blick auf die vielfältigen Debatten dieses Kolloquiums resümierte Rigoll schließlich, dass die Diskussion gerade erst begonnen habe.

Konferenzübersicht:

Keynote

Sonia Combe (Paris): Buchenwald und der politische Gebrauch der Vergangenheit, vor und nach 1990

Panel 1: Die „Grauzone“ im KZ-Alltag
Moderation: Agnès Arp (Jena)

Veronika Springmann (Berlin): Kooperation, Kollaboration, Konfrontation

Dagmar Lieske (Frankfurt am Main): „Rot“ versus „Grün“? „Politische“ und „Berufsverbrecher“

Panel 2: Die umstrittene Nachgeschichte der „Grauzone“ zwischen Antifaschismus - Mythos und Antikommunismus
Moderation: Cornelia Siebeck (Berlin)

Henning Fischer (Berlin): Ravensbrück im Schatten von Buchenwald. Parallelen des Widerstands und der Erinnerungspolitik

Philipp Neumann-Thein (Weimar): Führende Kommunisten aus Buchenwald als erinnerungspolitisches (Re)Aktiv im Kalten Krieg

Anmerkungen:
1 Berlin: Akademie Verlag 1994.
2 Henry Rousso, Le Syndrome de Vichy : 1944-198..., Paris: Seuil 1987.


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