Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen – Perception and Concepts of Current Events and Time in Early Modern Newspapers

Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen – Perception and Concepts of Current Events and Time in Early Modern Newspapers

Organisatoren
FWF-Forschungsprojekt „Participatory Journalism in Michael Hermann Ambros’ Periodical Media. Communicating Politics, Education, Entertainment, and Commerce in Central Europe at the End of the 18th Century, Universität Graz
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
19.09.2019 - 20.09.2019
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Von
Ingrid Haberl-Scherk, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Der Workshop ging aus dem FWF-Forschungsprojekt „Participatory Journalism in Michael Hermann Ambros’ Periodical Media. Communicating Politics, Education, Entertainment, and Commerce in Central Europe at the End of the 18th Century” (Projekt Nr. P 29979-G28) hervor. Die Konzeptualisierung der Dimension ‚Zeit‘ im Allgemeinen und die Kontextualisierung der Tagespresse im Speziellen erfolgten mit Fragen in Bezug auf Produktion, Distribution, Rezeption, Zensur, Intermedialität sowie auf Austauschprozesse mit der zeitgenössischen Historiographie und Populärphilosophie. Die Referate behandelten mehrheitlich mitteleuropäische Zusammenhänge aus historiographischen und literaturgeschichtlichen Perspektiven. Auf diesen geographischen Schwerpunkt nahm auch der weit gesteckte zeitliche Bezugsrahmen von ca. 1600 bis ca. 1850 Rücksicht.

Den inhaltlichen Einstieg besorgte ANDREAS GOLOB (Universität Graz) mit einem Referat, das anhand von Schlaglichtern und entlang der oben umrissenen Konzeptualisierung einen breiten Überblick über den engen Zusammenhang zwischen dem voll entwickelten Zeitungswesen des 18. Jahrhunderts und dem Zeitbegriff schuf. IVAN PARVEV (Sofia) lenkte als Respondent die Aufmerksamkeit auf das politische Bewusstsein der Zeitgenossenschaft und auf Möglichkeiten beziehungsweise Grenzen, dieses Bewusstsein zu Papier zu bringen. Zudem stieß er die Frage an, welche Entwicklungsstufen innerhalb des weit gesteckten zeitlichen Horizonts der Tagung zu identifizieren seien.

Es folgte ein Panel, welches sich auf intermediale Aspekte konzentrierte. RITA NAGY (Budapest) stellte den Historischen Haus- und Wirtschafts-Kalender aus Buda/Ofen vor, der das Zeitgeschehen dokumentierte und regionale Themen aufgriff. Als am langsamsten getaktetes der behandelten periodischen Medien war der Kalender bemüht, Übersichten zu liefern. Die Analyse der Ausgaben aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigte, dass der Kalender nicht nur Destillate des vergangenen Jahres enthielt, sondern ebenfalls Prognosen für das kommende lieferte. MISIA SOPHIA DOMS (Baden bei Wien) nahm Formen der erbaulichen Gebrauchsliteratur in den Blick: die Perikopendichtung des Andreas Gryphius, moralisch-theologische Wochenschriften und (ebenfalls religiös grundierte) Kalender. Die Gegenüberstellung changierte somit zwischen verschiedenen periodischen Intervallen und den daraus folgenden Implikationen. Besondere Aufmerksamkeit widmete die Referentin dem 1788 erschienenen interkonfessionellen und in weiterer Folge auch interreligiösen Oesterreichischen Toleranzboten, der die Zeitrechensysteme unterschiedlicher Religionen nebeneinander stellte und sich um eine interreligiöse Vervollkommnung des Menschen bemühte.

HEDVIG UJVÁRI (Budapest) sprach über die frühen Feuilletonromane des ungarischen Nationalerzählers Mór Jókai (1825–1904), der diese Werke für Zeitungen konzipierte und es zustande brachte, die Qualität des Fortsetzungsromans zu heben, ohne das Interesse des breiten Publikums zu verlieren. Dies ließ sich durch seine journalistische Erfahrung bewerkstelligen: Er schrieb von Tag zu Tag, hatte den Redaktionsschluss vor Augen und konnte die Spannung besser aufrechterhalten, als dies bei einem in Teilen abgedruckten, ‚vorgefertigten‘ Roman der Fall gewesen wäre.

Im folgenden Panel sprach INGRID HABERL-SCHERK (Graz) über die Schnelllebigkeit der Modeberichterstattung in europäischen Frauenzeitschriften des 18. Jahrhunderts. Es wurde anhand unterschiedlicher Frauenzeitschriften aus Europa die Frage erörtert, wie sich der Diskurs über die verschiedenen Länder ausbreitete und dass sich eine Aussage über die Chronologie und Migration der Berichterstattung treffen lässt.

ALEXANDRA FUCHS (Graz) nahm sich der italienischen Moralischen Periodika an und behandelte die Frage, welche alltagsrelevanten, zeitgebundenen Themen in der Zeitschrift Il Caffè (1764–1766) verhandelt wurden. Zudem veranschaulichte eine Analyse der formalen Gestaltung der repräsentierten Inhalte den Modus zweckgerichteten Schreibens. Dafür zog Fuchs weitere Blätter hinzu und erörterte, ob die Auswahl der Inhalte und Texte ‚von außen‘ die Bearbeitung für die Zeitung beeinflussten.

Im letzten Panel des ersten Tages standen zunächst JAN HILLGÄRTNERS (Leiden) Anmerkungen zu den Begriffen ‚Aktualität‘ und ‚Peripherie‘ in Zeitungen des 17. Jahrhunderts zur Diskussion. Basierend auf einem umfangreichen statistischen Datenpool wurde aufgezeigt, wie Drucker und Verleger auf saisonale Schwankungen der Nachrichtenmenge reagierten, und wie die Frequenz von Neuigkeiten sowie die Geschwindigkeit der Übertragung dieser Nachrichten im Laufe des Jahrhunderts strukturell und anlassbezogen zunahmen. Eine Fallstudie widmete sich verzögerter Berichterstattung über die Hinrichtung Karls I. in der französischen Presse.

RÉKA LENGYEL (Budapest) analysierte Mátyás Ráts Strategien, in der Zeitung Magyar Hírmondó (1780–1788) auf den schnellen Anstieg der Nachrichtenmenge zu reagieren. Sie ging auch der Frage nach, welche Textgattungen er verwendete, um weniger ereignisreiche Zeiten zu überbrücken. Ebenso wurden Reflexionen über Verkauf, Kosten und Subskribenten vorgetragen.

Den zweiten Tag des Workshops eröffneten CLAUDIA RESCH und NINA RASTINGER (Wien) mit einem Vortrag zur Wiener Zeitung (ab 1780) und deren Vorläufer, dem Wienerischen Diarium (ab 1703). Sie erörterten mit einem korpusbasierten Ansatz, welche Relevanz zeitnaher Berichterstattung im Lauf des 18. Jahrhunderts beigemessen wurde und welche sprachlichen Marker zum Einsatz kamen. Außerdem zeigten die Vortragenden mit welchen sprachlichen Mitteln Sachverhalte relativiert wurden, um Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Nachricht auszudrücken; dem Klarheit schaffenden Faktor Zeit wurde quantitativ, qualitativ und mit digitalen Methoden nachgespürt.

ANDREA SEIDLER (Wien) beschäftigte sich mit der langwährenden inhaltlichen Präsenz von Wissensbeständen in der periodischen Presse. Am Beispiel der Klementiner in Syrmien zeigte sie das Weiterwirken der ersten einschlägigen Leistungen in verschiedenen Medien des 18. Jahrhunderts und des langen 19. Jahrhunderts in Text und Bild auf. Die Langlebigkeit von originären Beschreibungen der vormodernen Völker- und Länderkunde bis in die Zeit der frühen Akademisierung der Ethnographie/Ethnologie wurde damit augenscheinlich.

Das zweite Panel, das sich ausschließlich mit dem Wienerischen Diarium beschäftigte, brachte mit NORA FISCHERS (Wien) Referat einen weiteren Blick in dieses ‚Leitmedium‘ und umriss dessen Taktik der Zeitverzögerung in der Berichterstattung. Sie analysierte, welche Strukturen, Netzwerke und Kanäle der Nachrichtenaufbereitung und Informationsverbreitung sich in der Zeitung bemerkbar machten, welcher Status der Aktualität zukam und welche Rollen bewusste Selektion und unbewusste Kopierfehler spielten.

MICHAEL PÖLZL (Wien) untersuchte das Diarium hinsichtlich des zeitlichen Aspekts des Informationsaustausches zwischen dem Wiener Hof und den Mitarbeitern der Zeitung. Er warf einen differenzierten Blick auf einmalige Ereignisse, wie Geburten oder Todesfälle, einerseits und wiederkehrende andererseits. Durch Vergleiche von Wortlaut und Länge der Berichte konnte er ein Bild von verschiedenen erzählerischen Modi zwischen Standardisierung und enger Ereignisbezogenheit entwerfen.

Im letzten Panel beabsichtige ANDRÁS DÖBÖR (Szeged) eine Annäherung an die Möglichkeiten und Grenzen der Berichterstattung über die Französische Revolution und über den ebenso kontrovers diskutierten letzten Österreichischen Türkenkrieg (1788–1791). Das Genre der Unterweltdialoge fungierte bei zeitbedingt zunehmender Zensur als geeignetes Ventil.

ILONA PAVERCSIK (Budapest) beschloss den Workshop mit einer dichten Analyse der Ungarn betreffenden Berichterstattung in der Zeitspanne zwischen dem Tod Josephs II. und der Krönung Leopolds zum ungarischen König. Ihr Schwerpunkt lag auf der Presse und politischen Broschüren, deren Standpunkte und Funktionen unterschiedlicher nicht sein konnten. Die Abfolge von Zeitungsnachrichten oder auch Gerüchten und Flugschriften wurde schließlich auch mit Geheimdienstberichten in Beziehung gesetzt; somit konnten komplexe Konstellationen der gegenseitigen Bezugnahme zwischen Aktion und Reaktion erörtert werden.

Der Workshop zeigte einmal mehr, wie gewinnbringend ein interdisziplinärer Austausch sein kann. In den lebhaften Diskussionen wurde auch klar, wie ein scheinbar abstraktes Thema Problemfelder eröffnen und Forschungsfragen über die Grenzen von Disziplinen vernetzen kann. Schließlich bestach die Methodenvielfalt, die qualitative und quantitative Annäherungen sowie digitale Tools umfasste.

Konferenzübersicht:

Einführung
Moderation: Ingrid Haberl-Scherk (Universität Graz)

Andreas Golob (Universität Graz): Die Zeitung im Zeitstrom.

Respondent: Ivan Părvev (Universität Sofia)

Panel 1: Intermediale Aspekte
Vorsitz: Christian Teissl (Graz)

Rita Nagy (Universität Budapest): Der Historische Haus- und Wirtschafts-Kalender.

Misia Sophia Doms (PH Niederösterreich, Baden bei Wien): Woche, Jahr und Ewigkeit. Formen der Verzeitlichung und Periodisierung theologischer Bildung von Gryphius’ Perikopenzyklus „Sonn- und Feiertagssonette“ (1639) bis zum interreligiösen Kalender Der Oesterreichische Toleranz-Bote (1788/89ff.).

Hedvig Ujvári (Universität Budapest): Feuilletonroman und Serialität bei Mór Jókai.

Panel 2: O tempora o mores!
Vorsitz: Yvonne Völkl (Universität Graz)

Ingrid Haberl-Scherk (Universität Graz): Die Gier nach Neuem. Mode als Phänomen kulturellen Wandels in europäischen Frauenzeitschriften.

Alexandra Fuchs (Universität Graz): Repräsentation der zeitgenössischen kulturellen Entwicklungen in den italienischen Moralischen Periodika.

Panel 3: Newspapers and the Imponderable News Stream
Chair: Zsuzsa Barbarics-Hermanik (Universität Graz)

Jan Hillgärtner (Universität Leiden): “To Always Deliver the Latest News”. Some Remarks on ‘Contemporaneity’ and ‘Periphery’ in German Newspapers of the Seventeenth Century.

Réka Lengyel (Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest): Newspaper Writing and the Acceleration of Time – The Editorial Practice of Mátyás Rát and the Magyar Hírmondó.

Panel 4: Tagesaktualität und Wirkung über den Tag hinaus
Vorsitz: Alois Kernbauer (Universität Graz)

Claudia Resch / Nina Rastinger (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien): „Es will keine Bestättigung / oder Verlässigkeit einlangen“ – Aktualität und Authentizität in der frühneuzeitlichen Wiener Zeitung.

Andrea Seidler (Universität Wien): Aktualität und Originalität in gelehrten Medien des 18. Jahrhunderts.

Panel 5: Dimensionen zeitnaher und zeitverzögerter Berichterstattung
Vorsitz: Sabine Jesner (Universität Graz)

Nora Fischer (Austrian Center for Digital Humanities, Wien): Zensur und „Stille Post“. Taktiken und Praktiken der Zeitverzögerung in der Berichterstattung im Wien(n)erischen Diarium des 18. Jahrhunderts.

Michael Pölzl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien): Heute fruhe haben ihro kays[erliche] Majestät. […] Höfisches Zeitgeschehen im Wien[n]erischen Diarium im 18. Jahrhundert.

Panel 6: Ereignis und Zeitung
Vorsitz: Andreas Golob (Universität Graz)

András Döbör (Universität Szeged): Die Nachrichten von der französischen Revolution, die Nachrichten vom Türkenkrieg im Süden, und Unterweltdialoge als politische Publizistik im Jahre 1789 in der Zeitung der Aufklärungszeit Magyar Kurír (Ungarischer Kurier).

Ilona Pavercsik (Széchényi-Nationalbibliothek, Budapest): Die Krönung hat ihre Zeit …

Abschließende Bemerkungen und Diskussion


Redaktion
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