Stadtbücher als Medien administrativer Schriftlichkeit im Spätmittelalter

Stadtbücher als Medien administrativer Schriftlichkeit im Spätmittelalter

Organisatoren
Jessica Back / Hanna Nüllen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte, Projekt „Index Librorum Civitatum“
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.09.2020 - 23.09.2020
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Von
Jessica Back, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ziel des ersten DoktorandInnen-Workshops des DFG-Langfristvorhabens „Index Librorum Civitatum“ war es, Einblicke in laufende Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit zu bieten, den wissenschaftlichen Austausch zu fördern und die wechselseitige Vernetzung zu erleichtern. Im Zentrum der Veranstaltung standen vor allem Fragen nach den Medien, Kontexten und Trägern kommunalen Schriftguts sowie den Mechanismen von Aneignung, Umformung und Weiterentwicklung administrativer Schriftlichkeit als kultureller Praxis.

Nach der Begrüßung durch Andreas Ranft, Christian Speer (beide Halle) und die beiden Organisatorinnen eröffnete JESSICA BACK (Halle) die erste Sektion, die der Stadtbuchproduktion gewidmet war. Sie sprach zunächst über den Entstehungskontext des ältesten Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest, das 1417/18 im Zusammenhang mit innerstädtischen Unruhen angelegt wurde, und die an der Führung des Ratsbuchs beteiligten Schreiber. Anschließend stellte sie eine eigens für diesen Band entwickelte Methode der Wasserzeichenanalyse vor, mithilfe derer die Lagenstruktur des im 19. Jahrhundert restaurierten Kodex rekonstruiert werden konnte. Auf diese Weise war es der Referentin möglich, die ursprüngliche Konzeption des Kodex sowie spätere Neukonzeptionen nachzuzeichnen. Da sich ein zuerst angedachtes sachliches Gliederungsschema als zu komplex und unpraktikabel erwiesen habe, sei es schließlich zugunsten einer primär chronologischen Reihung der Einträge aufgegeben worden.

Den Produzenten administrativer Schriftlichkeit widmete sich VICKY KÜHNOLD (Halle) ganz konkret am Beispiel der schlesischen Stadtschreiber. Sie zeigte auf, wie sich das Stadtschreiberamt im spätmittelalterlichen Schlesien entwickelte, welche Vergünstigungen mit ihm verbunden waren und welches Aufgabenspektrum die Schreiber wahrzunehmen hatten. Neben Tätigkeiten für den Rat führten sie u.a. Dienstleitungen für Bürger und gerichtliche Aufgaben aus, wodurch die herausgehobene Bedeutung des Amts nicht nur in Bezug auf die Stadtbuchführung, sondern in viel breiteren kommunalen und herrschaftsrelevanten Kontexten deutlich wurde. Auf der Grundlage prosopographischer Untersuchungen zahlreicher Stadtschreiberbiographien legte Kühnold zudem dar, welche Wege ins Stadtschreiberamt führen konnten. Während sich ein Universitätsstudium dabei erst seit dem 15. Jahrhundert verstärkt beobachten lasse, seien vor allem eine Herkunft aus dem wohlhabenden städtischen Bürgertum, persönliche Beziehungen zum Stadtrat sowie vormalige Tätigkeiten im Rahmen des öffentlichen Notariats zu konstatieren.

Im Rahmen der zweiten, dem „Ordnen“ gewidmeten Sektion stellte PATRIZIA HARTICH (Stuttgart) die reichsstädtischen Kommunikationspraktiken am Beispiel der Missivenbücher der Stadt Esslingen vor. Anhand der 44 überlieferten Bände, die eine Laufzeit von 1434 bis 1598 abdecken, konnte Hartich für das 15. Jahrhundert nachweisen, dass die Führung der Korrespondenzregister in erster Linie von den jeweiligen Schriftproduzenten abhing. Während einige Schreiber vorwiegend Konzepte ausgehender Schreiben in die Bücher eintrugen, notierten andere Abschriften bereits versandter Briefe oder beschränkten sich auf die Wiedergabe des wesentlichen Missiveninhalts. Zum Teil lasse sich zudem eine Kooperation der verschiedenen Akteure der städtischen Kanzleien beobachten, wenn mehrere Schreiber an der Produktion eines Eintrags beteiligt waren. Die Funktion der Esslinger Missivenbücher sei mithin primär die eines schriftlichen Gedächtnisses der ausgehenden städtischen Korrespondenz.

Die Praktiken des Recht-Schreibens in den Stadtbüchern der wetterauischen Reichsstädte Friedberg und Gelnhausen standen im Zentrum des Vortrags von HANNA NÜLLEN (Halle). Auf der Basis einer Untersuchung von Charakteristiken wie Sprachusus, Formulargebrauch und Temporalität arbeitete sie zum einen schreiberspezifische Verschriftlichungsmodi und zum anderen akteursunabhängige Sprachstrukturen der Bücher heraus. Darauf aufbauend entwickelte sie ein Modell dreier distinkter Verschriftlichungsformen von Rechtszusammenhängen: das Kompilieren, das Protokollieren und das Kodifizieren. Die jeweiligen Praktiken unterschieden sich primär durch die zugrundeliegenden Selektions- und damit Produktionsmechanismen von Information, was sich zudem in ihrer sprachlichen Gestaltung ausdrücke. Das Kompilieren bestehe in einer Auswahl und Neuanordnung bereits schriftlich vorliegenden Materials, welches so ausgedeutet, angeeignet und zur Konstruktion einer städtischen Rechtsvergangenheit genutzt werde. Strukturbildend für das Protokollieren sei die Selektion aus Anwesenheitskommunikation, die die Protokolle durch diverse sprachliche Mittel zu referenzieren und zu reproduzieren versuchten. Dem Kodifizieren liege ein komplexer Vorgang der Aushandlung unterschiedlicher Formen des Rechtswissens zugrunde, dessen Basis sowohl bestehende Schriftlichkeit als auch implizites wie explizites Wissen der Träger und Produzenten darstellten.

In der Sektion „Visualisieren“ erweiterte DAVID GNIFFKE (Münster/Darmstadt) mit seinem Beitrag zur Heberegisterserie des Augustiner-Chorherrenstifts Frenswegen das Blickfeld des Workshops nicht nur um administrative Schriftlichkeit aus monastischen Kontexten, sondern auch um einen alternativen methodischen Zugriff. Er stellte die Frage nach der Wirksamkeit spezifischer Eigenschaften schrifttragender Artefakte auf soziale Interaktionen ins Zentrum seiner Untersuchung. Dabei fokussierte er insbesondere die Interdependenzen der materiellen, visuellen, textuellen und räumlichen Charakteristika administrativer Schriftlichkeit. Er modellierte diese Beziehungen in einem methodischen Dreischritt aus der Realienkunde, bestehend aus 1. der genauen Beschreibung, 2. der Analyse der Verwendungszusammenhänge und 3. der Rückwirkungen auf die Anwendungspraxis des Objektes. Dabei demonstrierte er, wie sich die Bedingungen materieller und zweidimensionaler Begrenzung des Schriftraums unter den Herausforderungen grundherrlicher Informationsverarbeitung auf die Wandlung tabellarischer Strukturen und Ergänzung von Schedulae in der Heberegisterserie während des 15. und 16. Jahrhunderts auswirkten. Es gelang ihm so schließlich, die den Objekten eigene Agentialität in der grundherrlichen Verwaltungspraxis abzustecken.

In der vierten Sektion ging es um Praktiken des Wirtschaftens und ihren Niederschlag in städtischer Schriftlichkeit. MONIKA GUSSONE (Mannheim) widmete sich der Schuldenwirtschaft und insbesondere informellen Kreditpraktiken als Faktoren sozialer Kohäsion im spätmittelalterlichen Kalkar. Anhand der schriftlichen Belege für niedrigschwellig und auf Vertrauensbasis gewährte Kredite in Stadtrechnungen, Mahnbüchern, Zinslisten, Gerichtsprotokollen, Inventaren und Testamenten demonstrierte sie, wie die städtische Gesellschaft von Schulden durchsetzt war. Diese seien von Personen aus sämtlichen Schichten oftmals auf Vertrauensbasis aufgenommen und teilweise über längere Zeiträume oder gar niemals zurückbezahlt worden. Trotz der Informalität, wenn auch nicht Formlosigkeit dieser Kreditpraktiken tauchten diese unter anderem im städtischen Schriftgut beispielsweise bei Pfandsetzungen, Stundungen oder verzögerten Zahlungen auf. Besonderes Interesse weckten dabei sowohl die Fortnutzung der Kerbholznotierung in den buchförmigen Zinslisten als auch die zeitgenössische Benennung der Stadtrechnungskonzepte als „Carffstock“.

Die Frage, unter welchen Umständen welche Geschäfte überhaupt in Stadtbüchern verschriftlicht wurden, beschäftigte MAX GRUND (Kiel) in seinem Vortrag zur Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch. In den Stadtbüchern von Weimar, Kamenz und Lübben untersuchte er nicht nur, welche Typen von Geschäften eingetragen wurden, sondern zeigte am Beispiel von Zinszahlungen, dass sich die Formen der Einträge deutlich voneinander unterscheiden konnten. So seien sowohl in Weimar als auch im älteren Kamenzer Stadtbuch nur ein Bruchteil der Einträge vollständig bzw. überhaupt hinsichtlich des Geschäfts- und Zinswerts auswertbar. Darüber hinaus hob er hervor, dass zahlreiche Geschäfte aufgrund der geringen Höhe der betreffenden Beträge und der im Vergleich dazu höheren Gebühren, die für einen Eintrag im Stadtbuch anfallen konnten, nie Eingang in die städtische Buchschriftlichkeit fanden. Dennoch ließen sich in den untersuchten Städten unterschiedliche Gruppen feststellen, welche die den Geschäften nachgeordnete Schriftlichkeit nutzten, um diese zusätzlich abzusichern.

Im abschließenden Vortrag untersuchte LUISE CZAJKOWSKI (Leipzig) die Varianz und den Wandel der Schreibsprachen im niederdeutsch-ostmitteldeutschen Übergangsraum. Auf der Basis eines acht Stadtbücher und 39 Urkunden umfassenden Quellenkorpus legte sie den genauen raumzeitlichen Verlauf der Verdrängung des Niederdeutschen aus dem nördlichen ostmitteldeutschen Sprachraum in der Zeit von 1365 bis 1490 dar. Dabei sei es möglich, zwischen dem (im Schriftlichen festgehaltenen) Sprachwandel in der gesprochenen Sprache und dem seit dem 16. Jahrhundert ausschließlich im Schriftlichen vollzogenen Sprachwechsel zu unterscheiden. Da Czajkowski die besonders signifikanten sprachlichen Merkmale und Wortformen für verschiedene Zeitabschnitte kartiert hat, stehe nunmehr für den untersuchten Raum ein interdisziplinär nutzbares Hilfsmittel zur Datierung von Schriftstücken zur Verfügung.

Die meisten Vorträge und Diskussionsbeiträge beleuchteten neben der spezifischen Materialität buchförmiger Schriftlichkeit auch die Bedeutung exogener Faktoren für Aufbau, Inhalt und Funktion von Stadtbüchern aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während einige Vortragende akteurszentrierte Analysen vorschlugen, machten andere die Objekte selbst oder städtische Gesellschaften im Allgemeinen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Trotz der daraus resultierenden Themenvielfalt bildeten sich einige gemeinsame Fragen heraus. Als besonders relevant erwies sich die quellentypologische Abgrenzung von Stadtbüchern zu nicht-buchförmiger Schriftlichkeit sowie zum Schriftgut monastischen oder fürstlichen Verwaltens. Darüber hinaus wurden vor allem die Nutzungs- und Funktionalitätsspektren buchförmigen Verwaltungsschriftgutes in vormodernen städtischen Gesellschaften, vor allem im Hinblick auf Vergesellschaftung und Herrschaftsausübung, diskutiert. Damit knüpfte der Workshop an zentrale Fragestellungen der Stadtbuchforschung an, deren interdisziplinäre Erörterung durch eine weitere Vernetzung künftig ermöglicht werden sollte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Sektion 1: Produzieren

Moderation: Mathias Franc Kluge (Augsburg)

Jessica Back (Halle): Deus Assit. Zur Genese des ältesten sogenannten Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest (1414–1509)

Vicky Kühnold (Halle): „Eyn ouge und eyn munt des rates“. Das Stadtschreiberamt im spätmittelalterlichen Schlesien

Sektion 2: Ordnen

Moderation: Marc von der Höh (Rostock)

Patrizia Hartich (Stuttgart): Mit Brief und Buch. Reichsstädtische Kommunikationspraxis im ausgehenden Mittelalter

Hanna Nüllen (Halle): Recht Schreiben. Praktiken der administrativen Wissensproduktion in Friedberg und Gelnhausen

Sektion 3: Visualisieren

Moderation: Marc von der Höh (Rostock)

David Gniffke (Münster/Darmstadt): Listen, Tabellen, Zettel. Beobachtungen zur Visualität und Materialität der Heberegisterserie des Chorherrenstifts Frenswegen (1415–1580)

Sektion 4: Abrechnen

Moderation: Andreas Ranft (Halle)

Monika Gussone (Mannheim): Pragmatisches Schriftgut als Quelle für informelle Kreditpraktiken in spätmittelalterlichen Städten am Niederrhein

Max Grund (Kiel): „Zu mehrer Sicherheit in unser Stat Buch vorschreiben lassin“. Die Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch

Sektion 5: Kommunizieren

Moderation: Andreas Ranft (Halle)

Luise Czajkowski (Leipzig): Varianz und Wandel historischer Schreibsprachen Ostmitteldeutschlands

Abschlussdiskussion