Das Vorrücken des Staates in die Fläche im Langen 19. Jahrhundert / The Encroaching State. Local Government during the Long Nineteenth Century

Das Vorrücken des Staates in die Fläche im Langen 19. Jahrhundert / The Encroaching State. Local Government during the Long Nineteenth Century

Veranstalter
Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker (VOH); Herder-Institut, Marburg
Veranstaltungsort
Herder-Institut
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.02.2013 - 22.02.2013
Deadline
15.10.2012
Website
Von
Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer und PD Dr. Jörg Ganzenmüller

For an English version see below

Die Entstehung des modernen Staates ist eng mit der Ausweitung der zentralen Staatsgewalt auf die lokale Ebene des Staatsgebietes verknüpft. Diese erfolgte nicht zuletzt durch den Aufbau von Bürokratien und durch die Ausweitung der Staatstätigkeit. Betrachtet man die beteiligten Akteure, so sind zum einen die lokalen Amtsträger zu nennen, die als zunehmend professionell ausgebildete Beauftragte einer bei aller Differenzierung einheitlichen Staatsgewalt erscheinen. Sie stießen auf die traditionellen Eliten, die nicht selten noch kurz zuvor Herrschaftsträger aus eigenem Recht gewesen waren. Wollten die staatlichen Beauftragten Projekte zur Entwicklung der Gesamtgesellschaft implementieren, so konnte ihnen dies nur gelingen, wenn sie sich erfolgreich innerhalb der traditionellen lokalen Machtbeziehungen verorteten.

Die Forschung ist sich inzwischen darüber einig, dass Herrschaft vor Ort im Europa des 19. Jahrhunderts durch komplexe Kommunikations- und Interaktionsprozesse gekennzeichnet war, die mit dem Begriff des „Aushandelns“ beschrieben werden können. Es erscheint deshalb lohnenswert, auch den Prozess des Staatsausbaus als einen solchen Aushandlungsprozess zwischen Agenten der Zentralgewalt und jenen der lokalen Gesellschaften, speziell der ökonomisch Mächtigen sowie sozial Einflussreichen unter ihnen, zu untersuchen. Das Vorrücken des Staates in die Fläche erscheint dann nicht als unaufhaltsamer Vormarsch der staatlichen Bürokratie, sondern als diskontinuierlicher, vielfach kontingenter Prozess, in dem die Bedingungen der Ausübung von Autorität auf verschiedenen Feldern stets neu ausgehandelt wurden. Gleichzeitig veränderte die staatliche Zentralgewalt diese Aushandlungsprozesse, indem sie ihre Normen vermittelte und die Institutionalisierung von Herrschaft initiierte.

Ziel der Tagung ist es, den Staatsausbau als Prozess zu begreifen und in seinen unterschiedlichen europäischen Ausprägungen zu untersuchen. In einer ersten Kartierung sollen alle europäischen Geschichtsregionen in den Blick genommen werden: von der iberischen Halbinsel bis zu Russland und dem Osmanischen Reich, und von Skandinavien bis hin zur Apenninhalbinsel und dem Balkan. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen die unterschiedlichen Konzepte des Staatsausbaus, die Felder, auf denen das Vorrücken des Staates ausgehandelt wurden, und die Akteure, die im Zuge dieser Prozesse vor Ort aufeinandertrafen.

Folgende Leitfragen sollen im Mittelpunkt der Diskussion stehen:
1. Mit Hilfe welcher Institutionen rückte der Staat in die Fläche vor? Von welchen Logiken ließen sich die Akteure dabei leiten, welche Strategien wandten sie an und welche Perzeptionen hatten sie in ihrem kulturellen Gepäck?

2. Welche Akteure trafen vor Ort aufeinander und auf welche Weise nahmen diese sich wechselseitig wahr? Inwieweit strukturierte die gegenseitige Wahrnehmung die Konzepte und Strategien des Staatsausbaus vor? In welcher Weise führten die gemachten Erfahrungen zu Lernprozessen bei den Akteuren vor Ort und im jeweiligen Herrschaftszentrum? Gegenstand der Untersuchung können hier sowohl staatliche Amtsträger und Wahlbeamte als auch der Adel oder kleinstädtische und bäuerliche Honorationen sein.

3. Auf welchen Feldern und an welchen Orten wurde Staatlichkeit ausgehandelt? Man kann bei Feldern sowohl an Infrastrukturprojekte, an die öffentliche Wohlfahrt oder den Bereich der ländlichen Ökonomie denken. Orte der Aushandlung können zum Beispiel Ämter, Gerichte oder ständische Vertretungen sein.

4. Inwieweit wirkten Umbrüche und Krisen als Katalysatoren für Staatsbildungsprozesse? Hier ist sowohl an Krisen im Zuge von Kriegen und Herrschaftswechseln als auch an innere Umbrüche im Zusammenhang mit einer tiefgreifenden Reformpolitik gedacht.

Die Reisekosten der ReferentInnen werden übernommen.

Vorschläge im Umfang von nicht mehr als 1,5 Seiten werden erbeten bis zum 15.10.2012 an die Adresse unten.

The formation of the modern state was closely tied to the expansion of its authority to the local level of village and town far from the administrative and political centre of capital or court. In this process the establishment of bureaucracies and the extension of government activities were instrumental. When considering the driving actors mainly local officials come to mind. Increasingly they emerged as professionally trained representatives of a – despite all heterogeneities – unified central state authority. On the spot those officials encountered traditional elites who sometimes had ruled the area only a few years or decades ago. If the state officials wanted to succeed in comprehensively integrating society they had to position themselves within the traditional local power relations.

By now most historians agree that local rule in nineteenth-century Europe was defined by complex processes of communication and interaction, which can be described as “negotiating” [Aushandlung]. Therefore it makes sense to study the processes of state formation that occurred on a local level as such a “negotiation” taking place between agents of the central government and local communities, and among them especially those groups and individuals with great economic power or social influence. As a consequence of adopting this alternative perspective on state formation the encroachment of the state’s authority on the local level does no longer appear as an unstoppable progress of its bureaucracy but as a discontinuous and in many ways contingent process, in which the conditions of exercising power in different areas had to be constantly renegotiated. Yet at the same time the central government changed the conditions of these negotiating processes by communicating norms and institutionalising its rule.

At the conference “The Encroaching State” we want to conceptualise the expansion of the state’s authority as a process and to discuss its varying characteristics within Europe. All the continent’s historical regions ought to be included: from Iceland to the Bosporus, from Gibraltar to the Ural Mountains. Of central interest are the varying concepts of the role of the state, the areas of its encroachment and the actors that clash during these processes on a local level.

The following main questions will guide our discussions:
1. By which means did the state encroach on the local level? What considerations and strategies guided the actors on the spot and how did they perceive their own cultural baggage?

2. Which actors clashed locally and how did they perceive each other? How did this reciprocal perception structure the concepts and strategies of the state’s extension of authority? What did actors on the local level and in the political centre – like state officials and local representatives on the one side, members of the gentry and aristocracy as well as rural or small town notables on the other side – learn from their experiences?

3. In which areas and in which locations was the role of the state negotiated? Possible areas could be infrastructure projects, public welfare or the rural economy. Locations could be offices, courts of law or the representations of the estates.

4. To what extent functioned disruptions and crises as crystallisation points for processes of state formation? This includes crises as a consequence of war or change of government as well as disruptions following far-reaching reform policies.

Travelling costs will be reimbursed.

Questions and proposals not exceeding 1.5 pages may be sent until 15 October 2012 to the address below.

Programm

Kontakt

Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer

Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte
Bergische Universität Wuppertal
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal

toensmeyer@uni-wuppertal.de


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Deutsch
Sprache der Ankündigung