Die Chancen von Weimar im rheinisch-westfälischen Vergleich

Die Chancen von Weimar im rheinisch-westfälischen Vergleich

Veranstalter
NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld; Stadtarchiv Krefeld / Historisches Institut, Universität Mannheim; Lehrstuhl für Hessische Landesgeschichte, Philipps-Universität Marburg; LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn (Landschaftsverband Rheinland)
Veranstaltungsort
Hochschule Niederrhein, Campus Krefeld-Süd, Reinarzstraße 49, 47805 Krefeld, Raum BE14
Ort
Krefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2019 - 27.09.2019
Deadline
22.09.2019
Website
Von
Stefanie van de Kerkhof

Die Perspektiven auf die Weimarer Republik, deren Gründung sich gerade zum 100. Mal jährt, sind bisher in Forschung, Lehre und Vermittlung in Museen und Gedenkstätten immer noch stark von deren Ende und dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie geprägt. Dabei werden Potentiale und Chancen in Politik, Wirtschaft und Kultur, die sich insbesondere in den frühen Jahren der jungen Republik boten, häufig übersehen. In dem Tagungsprojekt soll dieses Desiderat in einer dezidiert regionalen und vergleichenden landesgeschichtlichen Perspektive diskutiert werden. Als Konsequenz des Krieges und der nachfolgenden Besetzung des Rheinlandes und später des Ruhrgebietes teilten Rheinland und Westfalen sich in besetztes und unbesetztes Gebiet. Somit entstanden ein interessantes Beziehungs- und Spannungsfeld innerhalb und zwischen den Regionen im Westen. Eine differenzierte Untersuchung der sich daraus ergebenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermöglicht neue Blickwinkel sowohl auf die Regionen als auch auf die Periode. Gab es gemeinsame Signaturen der Weimarer Zeit oder unterschieden sich die regionalen Gegebenheiten je nach Ausrichtung der Besatzungsmacht bzw. der freien Gebiete so stark, dass singuläre Entwicklungspfade entstanden?
Unser Tagungsort in Krefeld bietet für diese übergeordnete Fragestellung mehrere inhaltliche Anknüpfungspunkte: Anhand der Biographie des Seidenhändlers Richard Merländer (1874-1942), dessen ehemaliger Wohnsitz die NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld beherbergt, lassen sich verschiedene Fragen und disziplinäre Herangehensweisen auffächern. Krefeld lag von Ende 1918 bis 1926 im belgisch besetzten Gebiet und bot damit für einen international tätigen Seidenhändler wie Richard Merländer andere Möglichkeiten und Grenzen als sie etwa in den unbesetzten Gebieten im Rheinland und Westfalen bestanden. Seine wirtschaftliche Tätigkeit, seine gesellschaftliche Stellung und sein kulturelles Engagement eröffneten ihm in der frühen Weimarer Zeit neue Perspektiven. So befinden sich in seinem Haus, das gleichzeitig als Lernort, Mahn- und Gedenkstätte fungiert, einzigartige Fresken des avantgardistischen Malers Heinrich Campendonk. Merländer gehörte zu den bedeutenden Wirtschaftsbürgern der renommierten Textilbranche in der Samt- und Seidenstadt Krefeld und war Jude. Unklar ist bislang, inwieweit sich neue Hindernisse aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seiner öffentlich bekannten Homosexualität in dieser Zeit des Umbruchs, der Selbstvergewisserung und der neuen Möglichkeiten ergeben haben.
Ein weiterer Ausgangspunkt liegt im Zusammenhang zwischen neuer Industriekultur und Konsumgeschichte Krefelds, dem sich ein u.a. vom Landschaftsverband Rheinland unterstütztes Projekt des Stadtarchivs Krefeld widmet. In den Blick genommen werden dabei die Paradoxien im „Weimar des Westens“, die einerseits neue innovative Fabrikationszweige wie die Kunstseidenproduktion, neuartiges Design von Bauhauskünstler/innen integrierten und moderne Färbereitechniken hervorbrachten, andererseits aber für die breite Masse der Bevölkerung nur langsam zu einer Verbesserung ihrer Konsummöglichkeiten führten.

Interessierte sind herzlich zur Tagung eingeladen. Wir bitten um formlose Anmeldung.

Programm

Donnerstag 26. September 2019
Begrüßung: 10.00-10.20 Uhr

1. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
In dieser Sektion werden die politischen, wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Großwetterlagen in ihren regionalspezifischen Ausformungen fokussiert. Wie wirkten sich die Revolution 1918/19, der Friedensvertrag mit seinen außen- und innenpolitischen Konsequenzen, die „scheinstabilen“ innenpolitischen Verhältnisse nach der Hyperinflation und schließlich die schrittweise Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie in den Jahren der Präsidialkabinette vor Ort in der Region aus? Welche Antworten fand man links- und rechtsrheinisch sowie in Westfalen auf die damit verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zeit? Gibt es lokale und regionale Spezifika, die die zeitspezifischen Problemlagen verschärften oder auch abmilderten? Welche Antworten und Impulse aus der Region wurden auch überregional beachtet?

10.20-10.40 Uhr Stefanie van de Kerkhof (Krefeld): Einführung in Thema und Programm
10.40-11.30 Uhr Georg Mölich (Bonn): Weimar im Westen - Grundzüge der Entwicklung im Rheinland und in Westfalen
11.30-12.20 Uhr Sandra Franz/Stefanie van de Kerkhof (Krefeld): Seidenindustrie und Seidenhandel in Krefeld und dem Niederrhein
12.20-13.00 Uhr Philipp Koch (Wesel): Die Preußisch-Hessische Staatseisenbahn in Rheinland-Westfalen zwischen Krieg, Revolution und Besatzung 1918 bis 1920
13.00-14.00 Uhr Mittagspause

2. Sprache, Kultur und Konsum
Kunst und Kultur erlebten in der Weimarer Republik gemeinhin eine Blütezeit. Dies spiegelt sich in der Malerei, Literatur und Musik, im Theater und Film wider. Eng verbunden war dies mit der langsamen Entfaltung des Massenkonsums, der neue Möglichkeiten in Mode, Freizeit, Spiel und Sport bot. Zu denken ist hier auch an Verschränkungen zwischen Kunst, Werbung und Design oder neuen Bildungsmöglichkeiten in Volkshochschulen, Wochenschauen, Kunstschulen und den Vereinen des Kulturbereichs. Bewegungen wie das „Junge Rheinland“ oder die Bauhäusler/innen in der Region gestalteten diese neue Zeit mit. Es ist daher zu fragen, wie sich diese Vielfalt, Aufbruchstimmung und Experimentierlust, die schon für die Metropolen Berlin oder Hamburg konstatiert und eingehend untersucht wurden, in den Regionen Rheinlands und Westfalens gestalteten. In welchem Verhältnis stehen hier bürgerliche und Arbeiter-Kultur sowie großstädtische Avantgarde zueinander? Wer sind die lokalen und regionalen Akteure und welche Interessen verfolgen sie? Welche Folgen haben die wechselvollen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen vor Ort und im Reich auf diesem Feld und inwieweit hängen die Entwicklungen voneinander ab?

14.00-14.40 Uhr Silke Fehlemann (Dresden/Düsseldorf): „Hate speech“ im Rheinland
14.40-15.20 Uhr Brigitte Braun (Koblenz): Das Kino als Vergnügungsstätte und Kampfzone im (besetzten) Rheinland und Westfalen
15.20-16.00 Uhr Daniel Cremer (Düsseldorf): Entwicklung statt Revolution? Die Künstlervereinigung Das Junge Rheinland
16.00-16.20 Uhr Kaffeepause
16.20-17.00 Uhr Gertrude Cepl-Kaufmann (Düsseldorf): Utopien in der rheinischen und westfälischen Literatur im Vergleich
17.30-18.30 Uhr Führung durch die NS-Dokumentationsstätte Villa Merländer, Stadt Krefeld
Ab 19.00 Uhr Abendessen

Freitag, 27. September 2019
3. Gender und Devianz
Unter den oben genannten Anknüpfungspunkten soll ein möglichst breiter Blick auf die Aspekte Geschlechterrollen, Sexualität und Emanzipation geworfen werden. Fragestellungen könnten sein: Inwieweit ergaben sich neue Karrieremöglichkeiten für Frauen oder führte das Kriegsende zu einem Roll-back? Inwieweit forderten Typen wie die „Neue Frau“ oder offen ausgelebte Sexualität bestehende Geschlechterrollen heraus? Konnten deviante Haltungen praktiziert werden oder gab es einen opaken Bereich des Wegsehens? Inwieweit gab es neue Chancen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft für Frauen und Randgruppen? Welche Qualität hatten diese Chancen, waren mit den Fortschritten auch Rückschritte verbunden? Welche neuen Praktiken offen ausgelebter Sexualität entstanden beispielsweise in Vereinen, zu besonderen Anlässen wie im Karneval oder in anderen Bereichen? Entstand ein neues Frauenbild lokal oder in der Region, vergleichbar mit den Flapper Girls in den USA oder der proklamierten neuen Sachlichkeit?

10.00-10.40 Uhr Mareen Heying (Düsseldorf): Prostituierte in der Besatzungszone in der Zwischenkriegszeit
10.40-11.10 Uhr Kaffeepause
11.10-11.50 Uhr Frank Sparing (Düsseldorf): Homosexualität im Rheinland
11.50-12.20 Uhr Diskussion
12.20-13.00 Uhr Mittagslunch

4. Die Weimarer Republik als Erweiterung der Gedenkstättenarbeit?
Neben den inhaltlichen Erweiterungen der wissenschaftlichen Perspektiven auf die Weimarer Republik soll sich der vierte Bereich einer neuen Ausrichtung der Vermittlungsarbeit widmen. Denn in der deutschen Gedenkstättenlandschaft spielt die Weimarer Republik, sofern sie überhaupt behandelt wird, bislang eine eher untergeordnete Rolle. Dauerausstellungen beginnen in den meisten Museen mit den letzten Jahren des demokratischen Systems, welches sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Zerfall befand. Wirtschaftliche Aspekte und die emanzipatorische Entwicklung für Minderheiten wie die jüdisch-deutsche Bevölkerung zwischen 1918/19 und 1933 bleiben meist unerwähnt oder zumindest unterrepräsentiert. Doch sind gerade in Kombination diese beiden Aspekte grundlegend wichtig, um ein tieferes Verständnis für das Verhalten und die Sichtweise der betroffenen Verfolgtengruppen in der Zeit des Nationalsozialismus zu entwickeln. Der Krefelder Seidenfabrikant Richard Merländer ist hierbei nur eins von zahlreichen Beispielen für konfessionell jüdische Deutsche, die sich als gesellschaftlich integriert und wirtschaftlich etabliert 1933 mit einer veränderten und als bis dahin als undenkbar wahrgenommenen Lebensrealität konfrontiert sahen. Daher soll gefragt werden: Wie könnten Gedenkstätten davon profitieren, die Chancen und Entwicklungen von Weimar stärker in ihre Ausstellungen und die pädagogische Arbeit einzubinden? War die wahrgenommene und propagierte Gleichstellung der assimilierten jüdischen Bevölkerung nur eine oberflächliche Erscheinung oder eine Realität, die jedoch auf zu brüchigen Standbeinen basierte? Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Erfahrungen der Situation der Minderheitsbevölkerung der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland auf andere Perioden des 20. und 21. Jahrhunderts schließen? Welche Parallelen und welche Unterschiede gibt es zwischen der damaligen und der heutigen Situation in Deutschland und anderen westlichen Ländern?
13.00-13.40 Uhr Leonard Schmieding (Münster): Demokratie als Feind – Das völkische Westfalen, 1918-1933
13.40-14.20 Uhr Sabine Reimann (Düsseldorf): Biographische Spurensuche im Rheinland

14.30-16.00 Uhr Abschlussdiskussion : Der historische Ort von Weimar in der Gedenkstätten- und Vermittlungsarbeit
Moderation: Sabine Mecking (Marburg), Lehrstuhl für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg, Vorsitzende des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V.
Sandra Franz (Krefeld), Villa Merländer, NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld
Alfons Kenkmann (Leipzig/Münster), Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Universität Leipzig, Vorsitzender des Arbeitskreises NS-Gedenkstätten NRW e.V.
Sabine Reimann (Düsseldorf), Erinnerungsort Alter Schlachthof
Leonard Schmieding (Münster), Projekt Demokratielabor, Geschichtsort Villa ten Hompel

Kontakt

PD Dr. Stefanie van de Kerkhof
Stadtarchiv Krefeld/
Historisches Institut Universität Mannheim

kerkhof@uni-mannheim.de


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