Stellungnahme zum Buch von Julien Reitzenstein „Himmlers Forscher“ anlässlich der juristischen Auseinandersetzung um die Rezension von Sören Flachowsky

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Redaktion H-Soz-Kult

Von Michael Wildt, Vorsitzender Clio-online e.V., und Rüdiger Hohls, Leiter der Facharbeitsgruppe H-Soz-Kult

Zum ersten Mal in seiner zwanzigjährigen Geschichte hat sich H-Soz-Kult entschlossen, eine Rezension vom Netz zu nehmen. Es geht um das Buch von Julien Reitzenstein: Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS, Paderborn 2014. Besprochen hatte das Buch Sören Flachowsky, der durch seine Studien zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik bestens als Rezensent ausgewiesen ist.

Die Gründe für diese Vorgehensweise finden Sie unter folgender Adresse erläutert: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23622

Zunächst stellte Flachowsky in seiner Rezension fest, dass sich die Studie Reitzensteins mit der Genese des ‚Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ (IWZ), das aus dem ‚SS-Ahnenerbe‘ hervorging, beschäftige und sich damit einer bisher weitgehend unbekannten Einrichtung der entgrenzten Wissenschaft widme. Während das ‚Ahnenerbe‘ in den letzten Jahrzehnten immer wieder im Fokus von Forschungen gestanden habe, habe es bislang an einer Untersuchung des IWZ gefehlt. Allerdings widmet Reitzenstein einen beträchtlichen Teil seiner Studie dem Aufstieg und den weitverzweigten Aktivitäten des Reichsgeschäftsführers des ‚Ahnenerbes‘ und IWZ, Wolfram Sievers, einem gelernten Verlagskaufmann ohne akademische Ausbildung, ohne eine Biographie vorlegen zu wollen. Sievers hat sich ab Mitte der 1930er-Jahre mit Verve in die deutsche Wissenschaftslandschaft eingearbeitet und vernetzt und mit machtpolitischen Geschick während des Weltkrieges eine Schwerpunktverlagerung in Richtung der kriegsrelevanten Wehrwissenschaften betrieben.

Sören Flachowsky stellte fest, obwohl sich nur ein kleiner Teil des Buches der Entstehung und Struktur des ‚Ahnenerbes‘ widme, gelinge es Reitzenstein, hier neue Befunde vorzulegen. So widerlege Reitzenstein u.a. die immer wieder aufgestellte Behauptung, dass Reichsbauernführer Darré 1935 zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehörte (S. 26). Vor allem weise Reitzenstein im Hinblick auf die Finanzierung des ‚Ahnenerbes‘ nach, dass es einen Großteil seiner Mittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt. Die 1942 erfolgte Aufwertung des ‚Ahnenerbes‘ zum ‚Amt A‘ im Stab des Reichsführers SS bedeutete zudem eine finanzielle Entlastung, da es nun über das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt finanziert wurde (S. 34-35, 267-268). Neu sei auch der Blick auf die Liegenschaften des Ahnenerbes in Berlin-Dahlem, die es sich zum Teil durch dubiose Geschäftspraktiken aneignete und dabei auch von ‚Arisierungen‘ profitierte (S. 270-287).

Der Weltkrieg stellte das geistesgeschichtlich ausgerichtete ‚SS-Ahnenerbe‘ vor ernste Probleme, denn es musste nun seine Kriegswichtigkeit unter Beweis stellen. Daher nahm IWZ-Geschäftsführer Wolfram Sievers den Aufbau eines ‚Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ vor. Allerdings, so Flachowskys Interpretation von Reitzensteins Buch, scheint Sievers beim Aufbau der neuen Strukturen keineswegs systematisch vorgegangen zu sein, sondern ließ sich von Zufällen und persönlichen Interessen Himmlers leiten. Doch war die medizinische Schwerpunktlegung nicht unbegründet, denn neben der Behandlung von Kriegsverletzungen zwangen vor allem hygienische Probleme an der Front und in den Konzentrationslagern zu neuen Wegen medizinischer Prophylaxe. Allerdings kann man Flachowsky Einschätzung nur zustimmen, wonach Reitzenstein die Zeitumstände nicht ausreichend berücksichtige, denn Sievers standen kaum andere Alternativen offen, als sich auf dem Gebiet der medizinischen Wehrforschung zu etablieren, da die kriegs- und rüstungsrelevante Forschung von den auf Hochtouren laufenden Netzwerken der Hochschul- und Ressortforschungsbereiche bereits abgedeckt war und das Ahnenerbe aufgrund seiner bis dahin einseitigen Ausrichtung schlichtweg den Anschluss verpasst hatte. Im Zentrum des Buches stehen die zehn Abteilungen des IWZ, wobei sich Reitzenstein weniger auf die im Institut betriebenen Forschungen, als vielmehr auf den Auf- und Ausbau seiner Abteilungen, seine Vernetzungen und die damit zusammenhängenden SS-internen Entscheidungsprozesse konzentriert hat (S. 77f.). Kaum eine der Abteilungen – von denen faktisch nur sechs arbeiteten – scheint für die NS-Kriegswirtschaft verwertbare Ergebnisse produziert zu haben.

In Anlehnung an neuere theoretische Konzepte zur ‚neuen Staatlichkeit‘ des NS-Systems ist Reitzenstein zu dem Befund gelangt, wonach Sievers zu jenen ‚Schnittstellenmanagern‘ des NS-Wissenschaftssystems gezählt habe, die ihrer Führung eilfertig zuarbeiteten und dabei eine zum Teil mörderische Dynamik freisetzten. Der ‚strukturelle Erfolg‘ bei der Etablierung des IWZ sei in der Ausrichtung auf die Person Sievers‘ begründet gewesen (S. 306) und habe den Ausschlag dafür gegeben, dass sich das Institut Ende 1944 auf einem guten Wege befand, „eine etablierte Forschungseinrichtung“ (S. 303) zu werden. Durch seine Kompetenzen als Sonderkommissar Himmlers habe sich Sievers‘ „Machtposition innerhalb der SS“ (S. 304) so weit ausgedehnt, dass er sich nicht nur gegenüber seinen Konkurrenten Oswald Pohl und Ernst-Robert Grawitz, sondern sogar gegenüber Himmler und der SS ‚emanzipiert‘ habe (S. 304). So habe Sievers seit 1943 auch einflussreiche Ämter außerhalb des Ahnenerbes – so etwa im Reichsforschungsrat (RFR) – eingenommen und auf diese Weise schließlich die „Wehrforschung des Deutschen Reiches“ (S. 261) maßgeblich mitkoordiniert.

Wie schon Flachowsky in seiner Rezension sind wir der Auffassung, dass diese Sicht einer deutlichen Korrektur bedarf. Denn schon einleitend überbewertet Reitzenstein die Bedeutung des Ahnenerbes, wenn er schreibt, dass „dessen Ideologisierung zur Radikalisierung einer ganzen Generation“ (S. 10) beigetragen habe. Zudem war Sievers nach unserer Einschätzung auch kein „weit über das Ahnenerbe hinaus mächtiger Wissenschaftsmanager“ (S. 41). Zwar verfügte Sievers über enge Beziehungen zum DFG-Präsidenten und Amtschef Wissenschaft im Reichserziehungsministerium, SS-Brigadeführer Rudolf Mentzel. Aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass er den Reichsforschungsrat „mit geführt“ habe (S. 256). Die Ernennung Sievers‘ zum Vize-Chef des Reichsforschungsrates im Jahr 1943 war vielmehr – da stimmen wir dem Rezensenten Flachowsky zu – ein Zugeständnis des Reichserziehungsministeriums an Himmler, um die Position Mentzels im RFR abzusichern, dessen eigene Machtstellung zwischenzeitlich zur Disposition stand. Danach war das Ahnenerbe von der Gunst Mentzels abhängig, der Himmlers Forschungsgemeinschaft und damit auch Sievers zur Absicherung seiner eigenen Machtstellung benutzte. So stellte Reitzenstein auch selbst fest, dass Sievers lediglich „im Vorzimmer der Macht“ (S. 51) gesessen habe.

Besonderes Augenmerk widmet die Studie der Einbindung des Instituts in verbrecherische Menschenversuche. So lobt der Rezensent Flachowsky, dass Reitzenstein die Opfer der Giftgas-Versuche von Prof. Dr. August Hirt aus der namentlichen Anonymität hole und die Hintergründe erhelle, die zur Entstehung der berüchtigten „Schädel- und Skelettsammlung“ an der Reichsuniversität Straßburg führten. Dagegen seien andere Ausführungen Reitzensteins nicht nur als unglückliche, sondern als problematische Formulierungen einzuschätzen. Dazu seien hier zwei Zitate aus Reitzensteins Buch angeführt:

Auf S. 61 findet sich die Passage: „Es wird gezeigt, dass Rascher von Beginn an letale Versuche anstrebte, Sievers jedoch nie von sich aus derartige Versuchsanordnungen forderte. Daraus ergibt sich, dass Sievers selbst ‚nur‘ an zwei Stellen von sich heraus potentiell todbringende Maßnahmen forciert hat: Bezüglich der Lost-Versuche von Hirt und bezüglich der sogenannten ‚Jüdischen Skelettsammlung‘.“

Und auf S. 223 liest man: „Nachdem Schilling Plötner erneut zur Mitarbeit eingeladen hatte blieb der Frieden zwischen beiden nur von kurzer Dauer. Hintergrund war die Tatsache, dass Plötner sich weigerte, Menschenversuche mit Polygal und oder Malariaerregern zu machen, bevor die Wirkmechanismen nicht gründlich erforscht seien. Diese Weigerung Plötners wurde nicht nur von Neff bestätigt, sondern auch von Sievers selbst in Nürnberg. Es gibt keinen Hinweis, dass Sievers Menschenversuche gefordert hätte, sofern es Alternativen gab. Dies belegt die These Ina Schmidts, dass Sievers aus religiösen Gründen die Menschenversuche ablehnte. Seit dem Zeitpunkt des Ausscheidens des ehemaligen Himmler-Protegés Raschers sind keine letal angelegten oder besonders grausamen Versuche im Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung dokumentiert.“

Apropos „..., sofern es Alternativen gab“ und Nürnberg: Sievers wurde im Nürnberger Ärzteprozess am 20. August 1947 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und im Folgejahr im Gefängnis Landsberg am Lech hingerichtet.

Auch in Reitzensteins Buch finden sich zahlreiche Belege dafür, dass Sievers letale Humanversuche forcierte, koordinierte und finanzierte (S. 89f., 92, 120f., 122f., 129f., 150, 155f.) und sogar einigen Versuchen persönlich beiwohnte (S. 173, 177f.). Und der Befund, dass mit dem Ausscheiden von Sigmund Rascher aus dem Ahnenerbe „keine letal angelegten oder besonders grausamen Versuche“ (S. 223) im IWZ dokumentiert seien, muss nicht zwingend mit der Person Sievers‘ zusammenhängen. Denn Himmler hatte am 15. Mai 1944 verfügt, dass ärztliche Versuche, welche in Konzentrationslagern durchgeführt werden, mit sofortiger Wirkung ausnahmslos seiner persönlichen Genehmigung bedürften, was Sievers‘ autonomes Handeln weitgehend eingeschränkt habe.

Bei der Behandlung der Abteilungen des IWZ schildert Reitzenstein detailliert Machtkämpfe zwischen Sievers und konkurrierenden Institutionen, insbesondere mit dem Reichsarzt-SS, Ernst-Robert Grawitz, aber auch die konkreten Aufgaben und Arbeiten der Abteilungen sowie die hinderlichen materiellen und personellen Engpässe. Darüber verliert sich die Studie häufiger in teils langatmig ausgebreiteten Details, die es schwer machen, beim Lesen den roten Faden nicht zu verlieren. Der Autor hat sehr viele, selbst randständige Quellen ausgewertet, die häufig eher referiert oder über Zitate eingebunden, nicht jedoch im wünschenswerten Maße im historischen Kontext analysiert werden. Einzelne Abschnitte ähneln eher einer chronologischen Zusammenschau von Briefen, Telefonaten, Tagebuchauszügen, Dienstreisen, Besprechungen usw., was 2.350 Anmerkungen im umfänglichen Endnotenteil zur Folge hat. Deshalb sowie wegen der ungewöhnlichen Kapiteleinteilung, der Redundanzen und Rechtschreibfehler wäre ein formales und inhaltliches Lektorat seitens des Verlages hilfreich gewesen.

Zudem teilen wir Sören Flachowskys Einschätzung, wonach Reitzensteins Buch ‚Himmlers Forscher‘ die stark limitierte wissenschaftliche, politische und ökonomische Bedeutung des IWZ und des SS-Ahnenerbes im NS-Wissenschaftssystem belegt. Die am ‚Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ betriebenen Forschungen, so resümiert Flachowsky, „über Steppenpferde, Insekten, Rostschutzmittel, Kartoffelbrei, Impfstoffe, Blutstillmittel, Lost- und Phosgen-Therapien gingen nicht auf eine stringente Planung zurück. Die Ergebnisse der Forschungen waren mehr als bescheiden und wurden namentlich im Falle von Hirt, Rascher, Bickenbach und Haagen – allesamt Aushängeschilder des Instituts – mit verbrecherischen Menschenversuchen erzielt.“

Soweit unsere Bewertung des Buchs und Anmerkungen zur Rezension von Sören Flachowsky. Nach unserer Einschätzung entbehrt Reitzensteins gerichtliches Vorgehen gegen den Rezensenten jeder wissenschaftlichen Grundlage. Über die vorstehend angeführten Kritikpunkte an der Studie Reitzensteins sollte es möglich sein, sich im Rahmen eines wissenschaftlichen Dialoges auseinanderzusetzen.

Citation
Stellungnahme zum Buch von Julien Reitzenstein „Himmlers Forscher“ anlässlich der juristischen Auseinandersetzung um die Rezension von Sören Flachowsky, In: H-Soz-Kult, 20.02.2017, <www.hsozkult.de/text/id/texte-4060>.
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