Das zweite Heft des achten Jahrganges eröffnet ein Beitrag von Juliane Rebentisch zur Demo-kratietheorie. Unter dem Titel Masse – Volk – Multitude rekonstruiert Rebentisch einflussreiche sowohl demokratieskeptische als auch demokratieoptimistische Konzeptionen der Volkssouveränität, um am Ende die Frage aufzuwerfen, wie das Problem der uniformen Masse in und durch die Herrschaft einer wahren Multitude überwunden werden könnte. Vinzenz Hedigers breitgefächerte Studie Kino nach dem Kino untersucht die gegenwärtige gesellschaftliche Lage des Films. Entlang der Stichworte einer Entgrenzung des Kinos und der Medienimmanenz analysiert Hediger ökonomische und technische, ästhetische und pragmatische Dimensionen heutiger Filmkunst und deren reflexive Verarbeitung im Film. Die dritte »Studie« entstammt der Feder von Wolfgang Streeck. Am Beispiel des Verhältnisses zwischen der Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit seit den 1970er Jahren und den damit verbundenen demografischen und sozialpolitischen Folgen diskutiert Streeck Fragen der, wie es im Untertitel heißt, Reproduktion im Dreieck von Markt, Sozialstruktur und Politik. Welche Schäden zeitigt die äußere und innere »Landnahme« des Marktes in der sozialen Lebenswelt und wie – und mit welchen (unbeabsichtigten) Folgen – reagieren unterschiedliche gesellschaftliche Modelle auf die Dysfunktionen des Marktes? Führt mehr Markt zu mehr Staat oder zu noch mehr Markt? Volksheim oder Shopping Mall?
Das »Stichwort« zum Schwerpunkt dieses Heftes gibt José Casanova mit seinen Thesen zur »postsäkularen Gesellschaft«. Während Thomas M. Schmidt für ein deliberatives Modell postsäkularer Öffentlichkeit argumentiert, welches das semantische Potential religiöser Überzeugungen im Interesse eines lebendigen gesellschaftlichen Pluralismus einbezieht und wertschätzt, und José Casanova die Religion gegen säkularistische Vorurteile als eine produktive Quelle der gesellschaftlichen Selbstverständigung verteidigt, verzeichnet Joachim Höhns Beitrag eine Dispersion religiöser Traditionen in Populärkultur und Werbung. Seine Beschreibung ebenso wie die von Oliver Sturm im religiösen Untergrund Berlins eingefangenen Stimmen dürften weit eher ein Indiz dafür sein, dass die Rede von einer postsäkularen Gesellschaft zumindest mit Blick auf Deutschland und Europa verfehlt ist. Sie gehe, wie Ferdinand Sutterlüty in seiner Einleitung bemerkt, an der Tatsache vorbei, dass Religion kaum noch imstande ist, eigenständige Wirklichkeitsdeutungen zu entfalten und der öffentlichen Debatte relevante Impulse zu geben. Angemessener wäre deshalb vielleicht die Bezeichnung »postsäkularistisch«.
In den »Eingriffen« erzählt Michael Greenberg von seinen Begegnungen mit Occupy-AktivistInnen im Zuccotti Park. Volker Heins liest in unveröffentlichten Vorträgen Adornos und wendet seine Lektüre gegen das verbreitete Klischee von Adorno als einem teilnahmslosen Beobachter. Alexander García Düttmann spürt der euphemistischen Redeweise nach und analysiert, weshalb die zunehmende Verallgemeinerung dieser Form des Sprechens uns zutiefst beunruhigen sollte.
INHALT
Studien
Juliane RebentischMasse – Volk – Multitude. Zur Quelle demokratischer Legitimität 3
Vinzenz HedigerKino nach dem Kino. Zur gesellschaftlichen Lage des Films 19
Wolfgang StreeckVolksheim oder Shopping Mall? Die Reproduktion der Gesellschaft im Dreieck von Markt, Sozialstruktur und Politik 43
Stichwort Postsäkularismus? (Ferdinand Sutterlüty) 65
José CasanovaErkundungen des Postsäkularen. Rolle und Bedeutung der Religion in Europa 68
Joachim HöhnPostsäkulare Moderne? Beobachtungen zur Dispersion religiöser Traditionen 80
Thomas M. SchmidtVernünftiger Pluralismus – irrationaler Glaube? Säkularisierung und die Zukunft der Religion 90
Olivier SturmGnosis oder Die Moabiter – Ein Hörspiel 101
Eingriffe
Alexander García DüttmannDer automatisierte Euphemismus 111
Volker Heins»Nicht bange machen lassen!« – Adornos unveröffentlichte Reden 116
Michael GreenbergIm Zuccotti Park 127
Mitteilungen
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012 143 Neuerscheinung in der Schriftenreihe des IfS 144 Vorschau auf das nächste Heft 144 Zu den Autorinnen und Autoren 145