Gesundheit
1946 definierte die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen«. Diese Definition stellt einen wirkmächtigen Versuch dar, einen universalen und fortschrittlichen Gesundheitsbegriff zu schaffen, der über Nationen- und Kulturgrenzen hinweg Gültigkeit besitzt. Sie geht allerdings unter der Hand mit Normierungsvorgängen, Anpassungszwängen und einem technisch-sozialen Machbarkeitsglauben einher. Das zeigt sich nicht nur in der modernen Medizin, sondern auch in der Gesellschaft, die ständig mit ihrer eigenen Diagnose befasst ist und sich durch ein pursuit of perfection auszeichnet: Politische Konflikte und gesellschaftliche Krisen werden in Metaphern des Pathologischen übersetzt und mit Vorstellungen des Kurierens, Immunisierens und Ausmerzens verbunden. Der Band analysiert die Vielfalt paradoxer Phänomene, die mit dem modernen Willen zur Gesundheit entstanden sind.
INHALTSVERZEICHNIS
Patricia Purtschert, Jakob TannerEditorial 7–19
Lea HallerKrankheit in Zahlen. Cortison und therapeutische Ökonomie um 1950 23–38
Felix TrautmannHeillose Ansteckung. Roberto Esposito und das Paradigma der Immunisierung 39–63
Cornelius BorckDas Paradox der Vertrauenskrise. Eine kleine Epistemologie von Wissen und Können in der Medizin 65–84
Marcel Dreier, Patrick HarriesMedizin und Magie in Afrika. Eine Sozialgeschichte des Wissens 85–104
Daniel HedingerKrieg, Biopolitik und Medizin. Mori Ōgais Werdegang oder Japan als Vorbild des Westens um 1900 105–124
Paula-Irene VillaKünstliche Körper in der Kritik. Von den Ambivalenzen der Körperarbeit in der Gegenwart 127–140
David GugerliNach uns die Informationsflut. Zur Pathologisierung soziotechnischen Wandels 141–147
Michael HagnerIst Kulturkritik wirklich unser Problem?. Ein Kommentar zu David Gugerli 149–153
Philipp SarasinEin klein wenig Flut. Eine Antwort auf David Gugerli 155–158
Ivan Illich»…und führe uns nicht in die Diagnose, sondern erlöse uns von dem Streben nach Gesundheit« 161–167
Barbara DudenZur Aktualität des Denkens von Ivan Illich und seiner »Kritik der Medikalisierung des Lebens« 169–178
Flurin Condrau, Carsten TimmermannIvan Illichs ›Medical Nemesis‹ und die Medizingeschichte 179–188
Brigitta Bernet»Depressed? It might be political!«. Die Pathologien der Leistungsgesellschaft im Fokus der außerklinischen Literatur 189–198
Jakob Tanner, Londa Schiebinger, Patricia PurtschertVom Gender Bias zu geschlechterspezifischen Innovationen. Eine Begegnung mit Londa Schiebinger 201–222
Die Autorinnen und Autoren 223–229