Aufsätze
Christian Lübcke
„Hat nichts mit Wahrheitsfindung zu tun“. Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 und die deutsche Militärgeschichtsschreibung
Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 ist bis heute die größte Meuterei in der deutschen Geschichte. Aus einzelnen Matrosenerhebungen entwickelte sich binnen weniger Tage eine landesweite Revolte in Marine und Heer, die in der Novemberrevolution gipfelte. Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hatte jahrzehntelang große Schwierigkeiten mit diesem Ereigniskomplex, wobei das Quellen- und Deutungsmonopol der von Akteuren in Offiziersuniform dominierten amtlichen Kriegshistoriografie stark ins Gewicht fiel. Christian Lübcke kann auf der Basis bislang kaum beachteter Dokumente zeigen, dass in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und noch in der jungen Bundesrepublik Sichtweisen dominierten, die wenig mit Wissenschaft, aber umso mehr mit Selbstrechtfertigung, Revisionismus und Apologie zu tun hatten
Christian Lübcke
“It Has Nothing to Do with Establishing the Truth”. The 1918 Kiel Mutiny and German Military Historiography
To date, the 1918 Kiel Mutiny is the largest mutiny in German history. Within the space of a few days, individual uprisings by sailors developed into a countrywide revolt in the navy and army, which culminated in the November Revolution. For decades, German military historiography had great difficulties with this nexus of events, strongly influenced by the fact that official war historiography, which was dominated by actors in uniform, enjoyed a monopoly on sources and interpretation. On the basis of hitherto disregarded documents, Christian Lübcke can show that during the Weimar Republic, the Third Reich and the young Federal Republic views predominated, which had little to do with scholarship and much more with self-justification, revisionism and apologia.
André Keil/Matthew Stibbe
Ein Laboratorium des Ausnahmezustands. Schutzhaft während des Ersten Weltkriegs und in den Anfangsjahren der Weimarer Republik – Preußen und Bayern 1914 bis 1923
Der Beitrag untersucht Kontinuitäten im Einsatz von Schutzhaft als Mittel des Ausnahmezustands zwischen 1914 und 1923 mit einem Fokus auf die beiden größten deutschen Staaten, Preußen und Bayern. Er behandelt Schutzhaft nicht nur als juristisches Konstrukt, sondern als einen neuen, experimentellen Raum für exekutives Handeln gegen eine Bandbreite von imaginierten, sowohl sozialen wie politischen „internen Feinden“. Der Beitrag argumentiert, dass Unterschiede zwischen den formalen rechtlichen Ordnungsrahmen bezüglich der Schutzhaft in Preußen und Bayern wenig Auswirkungen auf ihre praktische Anwendung oder ihre politische Zielsetzung hatten. Weiterhin erzeugte die Schutzhaft in beiden Staaten Mentalitäten, die lange nach Ende des Kriegs selbst weiterbestanden und dabei halfen, die gewaltorientierten Fundamente der frühen Weimarer Jahre zu legen. Jedoch sorgten eine Reihe von Kontrollmechanismen – auch im rechtlichen und politischen Bereich – dafür, dass es sich hier nicht um direkte Vorboten des Naziterrors von 1933/34 handelt.
André Keil/Matthew Stibbe
A Laboratory for the State of Exception. Protective Custody during the First World War and the Early Weimar Republic – Prussia and Bavaria, 1914 to 1923
This article examines continuities in the use of protective custody as an instrument of the state of exception between 1914 and 1923, focusing on the two largest German states, Prussia and Bavaria. It treats protective custody not only as a judicial construct, but as a new, experimental space for executive action against a range of imagined “internal enemies”, some social, some political. The article argues that differences between the formal legal frameworks surrounding protective custody in Prussia and Bavaria had little impact on its practical use or political intent. Furthermore, in both states protective custody produced a set of mentalities that extended well beyond the war itself, helping to underpin the violent foundations of Weimar’s early years. Nonetheless, a variety of checks and balances – including in the legal and political realms – ensured that there were as yet no direct portents of the Nazi terror of 1933/34.
Podium
Podium Zeitgeschichte: Jenseits von Donald Trump. Zeithistorische Annäherungen an die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 1945
Das Podium Zeitgeschichte wirft ein kritisches Schlaglicht auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei werden Faktoren der Stabilität und des Wandels herausgearbeitet, Kontinuitäten und Zäsuren untersucht, das spezifische Gewicht organisatorischer Strukturen der internationalen Politik bestimmt, der Einfluss personeller Konstellationen problematisiert und die Grenzen des transatlantischen Verständnisses ausgelotet. Dazu präsentiert das Podium Zeitgeschichte fünf sektorale Analysen auf Feldern von besonderer Bedeutung: erstens die bilateralen politischen Beziehungen im Kontext der internationalen Politik (Philipp Gassert); zweitens Partnerschaft und Kontroversen unter besonderer Berücksichtigung der Sicherheits- und Bündnispolitik (Andreas Etges); drittens Wirtschaft, Handel und Finanzen als ebenso stabilisierende wie konfliktbehaftete Säule des transatlantischen Austauschs (Stormy-Annika Mildner); viertens Konjunkturen des Konservatismus als Gradmesser für Kommunikationskanäle und -blockaden zwischen der Bundesrepublik und den USA (Michael Hochgeschwender); fünftens gegenseitige Wahrnehmungen, Bilder und Stereotype, deren Dekonstruktion eine bessere Bestimmung des Grads von Nähe oder Fremdheit zulässt (Reinhild Kreis und Jan Logemann).
Contemporary History Podium: Beyond Donald Trump. Contemporary Historical Approaches to German-American Relations since 1945
The “Contemporary History Podium” takes a critical look at German-American relations since the end of the Second World War. In this process, it identifies factors of stability and change, investigates continuities and caesuras, measures the specific weight of organisational structures in international politics, critically examines the influence of the compatibility of personalities and fathoms the limits of transatlantic understanding. The “Contemporary History Podium” thus presents five sectoral analyses of fields with special importance: One, the bilateral political relations in the context of international politics (Philipp Gassert); two, partnership and controversies with special emphasis on security and alliance policy (Andreas Etges); three, economy, trade and finance as both stabilising and conflict-laden pillars of transatlantic exchange (Stormy-Annika Mildner); four, boom and bust of conservatism as a measure for communication channels and blockages between Germany and the USA (Michael Hochgeschwender); five, mutual perceptions, images and stereotypes, whose deconstruction allows for a better understanding of the degree of proximity or unfamiliarity (Reinhild Kreis and Jan Logemann).
VfZ-Schwerpunkt
Andreas Wirsching
„Kaiser ohne Kleider“? Der Nationalstaat und die Globalisierung
Globalisierung gehört zu den wichtigsten Bewegungsbegriffen unserer Zeit und bedarf einer systematischen Analyse, um wissenschaftlich brauchbar zu sein. Insbesondere stellt das spannungsreiche Verhältnis von Nationalstaat und Globalisierung für die zeitgeschichtliche Forschung eine bedeutende fachliche und methodische Herausforderung dar. Die Zeitgeschichte sollte sie annehmen und über diese wichtige Thematik in einen Dialog mit den Sozialwissenschaften treten. Der Artikel plädiert für einen engeren Globalisierungs-Begriff, der die jüngeren Entwicklungen von früheren Jahrhunderten unterscheidet und um 1970 ansetzt. In dieser Zeit begann die Globalisierung als ein politisches Projekt der westlichen Industriestaaten, angeführt von den USA. Seit den 1990er Jahren veränderte sie grundlegend die Raumvorstellungen der Nationalstaaten. Die Verflüssigung nationaler Grenzen wurde in längerfristige nationale Traditionen eingeordnet, was erhebliche Unterschiede in den jeweiligen nationalen Haltungen zur Globalisierung erzeugte.
Andreas Wirsching
“An Emperor Withour Clothes”? The Nation State and Globalisation
Globalisation is one of the most important concepts of our time and requires systematic analysis in order to become accessible for research. The relationship between the nation state and globalisation is particularly laden with tensions and thus poses a methodological challenge for contemporary historiography. Contemporary history should accept this challenge and enter into a dialogue with the social sciences about this important topic. The article pleads for a narrow concept of globalisation starting around 1970, which helps distinguish recent developments from those of earlier centuries. During this time, globalisation began as a political project of the Western industrialised countries, headed by the USA. Since the 1990s, it fundamentally changed the concepts of space of the nation states. The increasing fluidity of national borders was declared to be part of long-term national traditions, which led to considerable differences in the respective national attitudes to globalisation.
Schlusskommentar
VfZ-Online
Neu: Forums-Kommentar und ergänzende Materialien zu VfZ-Beiträgen der Juli-Ausgabe
Rezensionen online
Abstracts
Autorinnen und Autoren
Hinweise
Jahresinhaltsverzeichnis