Wohl keine andere Epoche ist so sehr "In Gewalt verstrickt" wie die Moderne. Angetreten mit dem Versprechen, Frieden und Fortschritt zu verwirklichen, ist sie zum Schauplatz der größten Menschheitsverbrechen geworden. Und in ihrem Bemühen, die Gewalt zu überwinden, bringt sie bis heute immer neue Formen von Gewalt hervor. Wieso führen alle Versuche, der Gewalt zu entkommen, nur immer tiefer in sie hinein? Was sagt das über uns als soziale Wesen aus? Und was bedeutet all das für die Soziologie, jene Wissenschaft, von der wir uns Aufklärung über unsere modernen Gesellschaften erhoffen?
Zur "Einleitung" in die Thematik des Heftes beschreiben Eddie Hartmann und Thomas Hoebel "Neue Sensibilitäten für ein altes Versprechen" und erläutern, warum eine an zeitdiagnostischen und gesellschaftstheoretischen Fragen interessierte Soziologie nicht umhin kann, das Verhältnis von Gewalt und Moderne zu reflektieren. In Fortsetzung dieser Überlegungen plädiert Eddie Hartmann in "Soziodizee und Gewaltverzicht" für eine gewaltsensible Soziologie der Gegenwart, die dem zeitgebundenen Charakter und der wechselseitigen Beeinflussung gesellschaftlicher Gewalt- und Ordnungsvorstellungen Rechnung trägt. Dazu gehört nicht zuletzt die Bereitschaft, neben den öffentlich anerkannten auch jene subtilen und bisweilen unsichtbaren Formen von Gewalt in den Blick zu nehmen, die den sozialen Alltagspraktiken vermeintlich gewaltfreier Gesellschaften entspringen. Den Auswirkungen eines ganz anders gearteten Phänomens widmet sich der Beitrag von Susanne Krasmann. Unter dem Titel "Die Situation der Zerstörung" erörtert sie, inwiefern sich die zwar nicht willentlich, aber doch wissentlich herbeigeführten desaströsen Folgen des Klimawandels als spezifische Form einer "Gewalt im Anthropozän" verstehen lassen. Warum die Geschichte der Moderne auch "Eine Geistergeschichte" ist, in der die gegenwärtig Lebenden immer wieder von den Toten der Vergangenheit heimgesucht werden, beschreibt Fabian Bernhardt, der in Auseinandersetzung mit Toni Morrisons Roman Menschenkind Überlegungen "Zum affektiven Nachleben kolonialer Gewalt" präsentiert. Radikal diesseitig orientiert ist der nachfolgende Beitrag "Kinder im Visier" von Svenja Goltermann, der anhand einer kritischen Diskursgeschichte zeigt, wie "Gewaltprävention und die Entpolitisierung von Mobbing (1969–2000)" miteinander zusammenhängen. Am Ende des Themenschwerpunkts führen Eddie Hartmann und Thomas Hoebel "Ein Gespräch mit Armin Nassehi" über das Verhältnis von Theorie und Gesellschaft, das Problem sozialer Ordnung und die Aufgaben der Soziologie: "Das Faszinierende an Gewalt ist ihre Eindeutigkeit“.
Zum Ortstermin bittet diesmal Lothar Müller, der uns mitnimmt zu einem langen Spaziergang Auf dem Tempelhofer Feld, in dessen Verlauf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Europas größter urbaner Brache zur Sprache kommen.