HistLit 2005-4: Kategorie Mittelalterliche Geschichte

Von
Harald Müller

Essay von Harald Müller, Universität Leipzig

Die Würfel sind gefallen! Das nach Meinung der Jury beste Mittelalter-Buch des Jahres 2004 ist Valentin Groebners „Der Schein der Person“. Dem Basler Historiker ist mit seinem bis ins Mittelalter zurückgreifenden Essay über Identifizierung, Identität und identity cards offenbar der Spagat zwischen solider Wissenschaft und tagespolitischer Aktualisierung gelungen.

Wie selbstverständlich uns die eindeutige Erkennbarkeit von Personen ist, zeigt die anfangs mysteriöse, jetzt ins Schalkhafte abgleitende Geschichte des durchnässten Pianisten, der im Frühjahr 2005 ohne Papiere, Sprache und Gedächtnis an die englischen Küste gespült wurde. Wie in einem Ratespiel wurden ihm wechselnde Identitäten zugeschrieben – stets abhängig von Personen, die den Mann wieder erkannt zu haben glaubten. Sicherheit aber gewann man nicht! Und so ist Identität bei weitem kein Problem des Individuums und war es nie. Schon immer gehört zu beiden die Gesellschaft dazu. Sie erkennt oder verkennt, weist Identität – auch als Stigma – zu. Vor dieser Gedankenkulisse entwickelt Groebner sein historisches Panorama der Identifizierungszeichen und nutzt dabei die Chance zu zeigen, dass Geschichtswissenschaft zu den Diskussionen der Gegenwart manch Erhellendes beizutragen hat.

Insgesamt fällt bei den Büchern, die von der Jury auf die vorderen Plätze gesetzt wurden, die internationale Ausrichtung und die Bedeutung historiografiegeschichtlicher Fragen ins Auge. Sowohl Jean Claude Schmitts Studie über die Autobiografie Hermanns des Juden (in französischer Sprache!), wie Dorothea Welteckes Untersuchung über den jakobitischen Patriarchen von Antiochia Michael I. und Johannes Frieds „Schleier der Erinnerung“ kreisen, teils in dezidiert interkultureller Perspektive, um diese Thematik. Mit Wolfgang Huschners monumentaler Habilitationsschrift „Transalpine Kommunikation im Mittelalter“ schaffte es zudem eine der gemeinhin als sperrig geltenden Qualifikationsschriften klassischen Zuschnitts unter die ersten Fünf. Sie bietet im Kern eine transalpin vergleichende Diplomatik des 9.-11. Jahrhunderts, die einige eherne Grundsätze der Urkundenforschung detailreich revidiert, und deckt die kulturellen Unterschiede und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen dem Reich und Italien auf – ein Eldorado für Kenner, ein künftiges Standardwerk, und doch wird man prognostizieren können, dass die Verkaufszahlen kaum 10 Prozent des Siegertitels von Valentin Groebner erreichen werden.

In der Gunst der Fachvertreter hat sich die ebenso gelehrte wie geschickte Aktualisierung durchgesetzt. Ist hierin neben der Anerkennung der Leistung auch der heimliche Wunsch verborgen, das Fach Mittelalterliche Geschichte möge mehr Publizität gewinnen? Das ist legitim und geht insgesamt, wie die Liste zeigt, nicht auf Kosten eng wissenschaftlich orientierter Bücher. Auffällig ist aber auch, dass die Jury sich von einem schleichenden „turn“ der deutschen Mediävistik nicht hat anstecken lassen. Kämpfte man vor kurzem noch um die Signatur der Modernität und überbot einander darin, dem Fach zukunftsweisende Perspektiven aufzunötigen, so hat seit etwa zwei Jahren in den Verlagskatalogen eine neue-uralte Textgattung Konjunktur: Man übt sich in Kompaktversionen des Wissens. „Wendezeiten“ und „Wendepunkte“ des Mittelalters, Sammelbände mit Herrscherbiografien liegen im Trend. Nichts ist dagegen einzuwenden! Wer wollte behaupten, Studierende (und nicht nur die) bedürften keiner gedrängten Basisinformationen? Aber merkwürdig nimmt sich dieses aufblühende Segment des Lernbüchleins doch aus gegenüber den Visionen von Transdisziplinarität, sinnstiftender Begleitung des Politischen und dem Beharren auf der „Aktualität des Mittelalters“, deren Echo noch nicht verhallt ist.

Vor diesem Hintergrund setzt unser Mittelalter-Ranking für das Fach ausgesprochen hoffnungsvolle Akzente, indem es die quellenkritische Tiefenbohrung ebenso honoriert wie die öffentlichkeitsorientierte Darstellung. Wer die fünf Erstplatzierten unter dieser Maßgabe liest, kann sehen, was die Wissenschaft vom Mittelalter derzeit zu leisten im Stande ist!

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