Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte (frühes 20. Jahrhundert)

Von
Dirk van Laak

Essay von Dirk van Laak, Justus-Liebig-Universität Gießen

Pionierstudien, Neuinterpretationen und Synthesen sind drei der wesentlichen Varianten der akademischen Geschichtserzählung. Die diesjährigen Siegertitel enthalten von allem etwas. Sie durchmustern entscheidende Zeiten und Persönlichkeiten oder analysieren prägende Wendepunkte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Gleich der erste Titel bürstet die Weimarer Republik gegen den Strich der vorherrschenden Betrachtung, die noch immer auf das Siechtum und baldige Ende der ersten deutschen Demokratie fixiert ist. Doch 90 Jahre nach ihrer Gründung erfahren nun endlich auch die Figuren aus der zweiten Reihe sowie die tragenden Strukturen verstärkte Aufmerksamkeit. Rüdiger Graf, Assistent am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität in Bochum, hat über 600 Autorinnen und Autoren der Weimarer Zeit mit deren Stellungnahmen zur Zukunft ausgewertet, dazu eine breite Palette an Zeitungen und Zeitschriften aus den unterschiedlichsten politischen Milieus. Vorbereitet durch einen von ihm mit herausgegebenen Sammelband über den Topos der „Krise“ (2005) wird in Grafs Berliner Dissertation deutlich, dass die Oswald Spenglersche Untergangsbeschwörung des Abendlandes keineswegs den Generalbass der Weimarer Kultur bildete. Vielmehr verstand sich auch diese – nachträglich oft missverstandene – Diagnose eher als ein Ruf zu den Waffen, und sie erfüllte ihren Zweck als Aufforderung, es soweit nicht kommen zu lassen, rundum überzeugend. Einig waren sich nahezu alle politischen und kulturellen Lager der Weimarer Jahre darin, in einer entscheidenden Zeit der „Krisis“ zu leben und den Schlüssel für eine bessere Zukunft in der Hand zu halten. Dabei nahm der drängende Gestus, dass irgendetwas möglichst bald geschehen müsse, offenbar stetig zu. Grafs Fazit: Die Weimarer Republik starb nicht an zu wenig Zukunft, sondern eher an zu vielen widerstreitend vorgebrachten Visionen. Sie sorgten für die verunsicherte Nachfrage vieler Zeitgenossen, welcher Zukunftsprognose man denn nun Glauben schenken könne. Und hier sei es den Nationalsozialisten zwar nicht gelungen, die überzeugendsten Antworten zu liefern, diese aber in einer Haltung stärkster Gewissheit vorgebracht zu haben. Insofern war der Fluch des „Dritten Reiches“ zu möglichst radikalen Lösungsansätzen schon im Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik deutlich vorgezeichnet.

Das zweitplatzierte Buch schließt daran an. Peter Longerich ist seit langem einer der produktivsten NS-Forscher, dessen Bücher bereits des Öfteren für preiswürdig erachtet wurden. Der Direktor des Holocaust Research Centre am Londoner Royal Holloway College hat mit seiner Biographie zwar keine Forschungslücke im engeren Sinn geschlossen. Denn der von seinem historischen „Auftrag“ durchdrungene Heinrich Himmler war schon mehrfach Gegenstand von Studien seines problematischen Charakters. Besonders in Großbritannien und den USA hat die Figur des persönlich weichen und komplexbeladenen Cheforganisators der NS-Verfolgungsmaschinerie immer wieder für ebenso fasziniertes wie befremdetes Erstaunen gesorgt. Dennoch stellt die auf breiter Quellengrundlage recherchierte Arbeit Longerichs das bislang vollständigste Porträt des „Architekten der Endlösung“ (Richard Breitman) dar. Sie verschränkt die Perspektiven der neueren biographischen Forschung mit psychologischer Deutung und kontextualisiert sie sowohl politisch als auch strukturgeschichtlich zu einem insgesamt über 1000seitigen Werk. Himmler, so Longerichs Bilanz zu dessen Anteilen an der „deutschen Katastrophe“, lässt sich zwar nicht ausschließlich aus Deformationen in seiner Sozialisationsphase erklären. Doch ist er sicher insoweit repräsentativ für die NS-Elite, als er auf emotionslose, kühle und pedantische Weise eine stets gewaltbereite „Unbedingtheit“ (Michael Wildt) pflegte, wie sie der nationalsozialistischen Grundprämisse vom vitalistischen Behauptungskampf entsprach. Seine oft belächelte Versponnenheit in historische und quasi-religiöse Spekulationen lieferte ihm von Fall zu Fall eher Begründungszusammenhänge als ethische Maßstäbe. Insofern verkörperte er die spezifisch voluntaristische NS-Moral so exemplarisch wie kein zweiter. Sie befähigte ihn, sich in der immer rasanteren Dynamik des „Dritten Reiches“ zu behaupten und im Hochgefühl der anfänglichen militärischen „Erfolge“ sogar in die Rolle eines Erfüllungsgehilfen des utopischen Ziels eines rassereinen großgermanischen Imperiums zu phantasieren. Immerhin gelang es dem zuletzt mit einer beispiellosen Machtfülle ausgestatteten Himmler, den „Kriegsschauplatz Innerdeutschland“ durch effektiven Terror bis 1945 unter Kontrolle zu halten. So gelingt Longerich mit seiner Biographie der Nachweis, dass die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne die Person Himmlers sehr wahrscheinlich anders verlaufen wäre.

Man kann nur spekulieren, weshalb so viele der großen Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte zwischen Zweitem und Drittem Reich noch immer aus der Feder britischer oder amerikanischer Historiker stammen. Ist es die größere Distanz? Eine stärkere Unerschrockenheit vor den Gegenständen? Der stärkere Bedarf nach Übersichtswerken in der Ausbildung? Mark Mazower gehört zu den bedeutenden englischsprachigen Historikern der etwas jüngeren Generation, die Spezialwissen – hier: über den modernen Balkan und Griechenland – mit beeindruckend strukturierten historischen Bilanzen zu kombinieren verstehen. Der gegenwärtig an der Columbia University lehrende Mazower ist in Zeitungen, Funk und Fernsehen auch publizistisch überaus präsent. Nach seinem stark beachteten Werk „Der dunkle Kontinent“ über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert (2000) legte er im vergangenen Jahr eine Übersicht zur deutschen Besatzungsherrschaft im Europa des Zweiten Weltkriegs vor. Von Martin Richter übersetzt, ist das Werk im Verlag C.H. Beck jetzt auch auf Deutsch erschienen. Perspektivisch komplementär zum Werk Longerichs schildert es die langfristige Vorbereitung und Entstehung der deutschen Herrschaft über den europäischen Kontinent im Stile einer großen, jedoch zum Scheitern verurteilten Vision einer imperialen Herrschaft – wie bei nicht wenigen Zeithistorikern gehen auch Mazowers akademische Wurzeln wohl nicht von ungefähr auf die Altertumswissenschaften zurück.

Auch unter den übrigen preisverdächtigen Titeln bis zum zehnten Rangplatz befinden sich – neben der Großedition an Quellen über „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ – Synthesen der Forschung, so etwa das (von Klaus-Dieter Schmidt übersetzte) Werk „Wendepunkte“ von Ian Kershaw über die Schlüsselentscheidungen des Zweiten Weltkriegs, Wolfgang Schieders Studien zu den „Faschistischen Diktaturen“ in Italien und Deutschland oder Dieter Pohls Werk über „Die Herrschaft der Wehrmacht“ über die deutsche Militärbesatzung und die einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944. Die nach einem zweiten Platz im letzten Jahr noch einmal nominierte Großbiographie Wolfram Pytas über den problematischen Helden Paul von Hindenburg hat es mittlerweile zu drei Auflagen und einer Paperback-Ausgabe gebracht – ein Beleg nicht nur für die Güte der Arbeit, sondern auch für den Aufklärungsbedarf der deutschen Öffentlichkeit über eine ihrer historischen Legenden.

Zwei Nachwuchswerke verdienen besondere Erwähnung, gerade weil sie sich – wie schon der Siegertitel – gegenüber den stärker Etablierten zu behaupten verstanden und darüber hinaus als „Pionierstudien“ gelten dürfen: Das Buch von Sabine Kienitz über „Beschädigte Helden“ beleuchtet eine heute weithin vergessene Dauererscheinung der deutschen Sozialgeschichte für die Zeit zwischen 1914 und 1923, die Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs. Die fast drei Millionen Personen haben nicht nur umständlich ins zivile Leben zurückfinden müssen. Sie waren auch Gegenstand widerstreitender Deutungen über die Folgen, die man aus ihrem Zustand zu ziehen habe. Das Buch „Stadt der Schieber“ von Malte Zierenberg landete schließlich auf dem siebten Rang und knüpft an eine Erfahrung an, die manchen Zeitzeugen noch geläufig sein dürfte: die Berliner Schwarzmarktzeit zwischen 1939 und 1950. Die Prägungen des Tauschhandels jenseits von „Marktgesetzen“, so wissen wir heute, haben sich freilich weit über die Ausnahmejahre von Krieg und Nachkrieg hinweg erhalten. Das Buch klärt daher über Verhaltensmuster auf, die eine durchaus universelle Gültigkeit beanspruchen dürfen.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2009“ wurden in der Kategorie „Neueste Geschichte (frühes 20. Jahrhundert)“ folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918 – 1933, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2008. Rezension von Ulrich Sieg, in: H-Soz-u-Kult, 30.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-091>.

2. Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler Verlag 2008.

3. Mazower, Mark: Hitler’s Empire. How the Nazis rules Europe, New York [u.a.]: Penguin Press HC 2008.

4. Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914 – 1923, Paderborn [u.a.]: Schöningh Paderborn 2008.

5. Aly, Götz u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 1: Deutsches Reich 1933-1937, bearb. von Wolf Gruner, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2008. Rezension von Susanne Willems, in: H-Soz-u-Kult, 06.06.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-158>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte (frühes 20. Jahrhundert), In: H-Soz-Kult, 26.09.2009, <www.hsozkult.de/text/id/texte-1153>.
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