Hinter Manuscripta Mediaevalia (im folgenden: MM) verbirgt sich das wohl wichtigste Online-Angebot für Forscher aller Disziplinen, die mit mittelalterlichen Handschriften deutscher Provenienz arbeiten. MM ist nichts anderes als der virtuelle Gesamtkatalog des deutschen Handschriftenbestandes, soweit dieser modern erschlossen ist (wobei sich "deutsch" immer auf die Herkunft, nicht auf die Sprache bezieht).
In Katalogen wurden Handschriftenbestände bereits im Mittelalter verzeichnet. Doch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt die Aufnahme der Handschriften in Deutschland nach einem immer weiter perfektionierten Regelwerk, das seinen aktuellen schriftlichen Ausdruck in den "Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung" der Deutschen Forschungsgemeinschaft findet (1. Aufl. 1963, zur Zeit gilt die 5. Aufl. von 1992). Die DFG (und nicht die jeweilige Einzelbibliothek) ist es auch, die heute die Katalogisierung leitet. So besitzen inzwischen zahlreiche deutsche Bibliotheken einheitliche und moderne Kataloge ihrer mittelalterlichen Manuskripte, die in überaus umfassenden, akribischen, terminologisch hochexakten und im Aufbau streng formalisierten "Handschriftenbeschreibungen" verzeichnet werden. Zusammen füllen diese Kataloge ganze Regale und sind als vollständiger Bestand nur in wenigen Bibliotheken verfügbar.
Deshalb ist die erste Funktion von MM, genannt "Handschriftenkataloge online", schlicht die Online-Stellung der Kataloge unter Abbildung der Druckform. Alle seit 1960 nach den DFG-Richtlinien verfaßten Kataloge können hier Druckseite für Druckseite auf dem Bildschirm durchgeblättert werden. Zur Zeit sind dies über 170 Werke, zuzüglich weniger älterer Kataloge sowie einiger ausländischer Kataloge mit deutschen (immer im Sinne der Herkunft, nicht der Sprache) Handschriftenbeständen, meist aus Österreich und der Schweiz, aber auch aus Krakau und Uppsala. Einige aktuelle Katalogisierungprojekte werden direkt in MM eingearbeitet, so daß der Benutzer von neuesten Forschungsergebnissen profitieren kann.
Zu einem echten virtuellen Gesamtkatalog wird MM aber erst durch die zweite Hauptkomponente, die "Handschriftendatenbank". In diese wurden die Daten aller Register der Kataloge eingespeist. Da auch die Register gemäß den DFG-Richtlinien mit größter Präzision, Einheitlichkeit und Ausführlichkeit gestaltet werden, ergibt sich mit ihrer Zusammenführung ("Kumulation") in der "Handschriftendatenbank" ein großartiges Recherche-Werkzeug für die Daten der deutschen Handschriften. Es enthält zudem einen Teil der Indices zum "Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften", einer historischen Sammlung von Handschriftenbeschreibungen aus der Vorkriegszeit.
Verknüpft sind die beiden MM-Hauptkomponenten durch Hyperlinks in den Ergebnis-Auswürfen der Handschriftendatenbank. Durch sie kann bequemerweise sofort die zugehörige Katalogstelle aufgerufen werden.
Die weiteren Bestandteile von MM sind weniger zentral und nicht mit den beiden ersten kombiniert: Unter "Handschriften" finden sich zur Zeit 71 vollständig digital reproduzierte Handschriften, meist illuminierte (mit Buchmalereien versehene). Ferner moderiert die Redaktion von MM auch eine Mailingliste zu Handschriften ("Diskus"). Auf eben dieser Liste entspann sich im Dezember 2002 und Januar 2003 eine rege Diskussion über MM 1, in der besonders Negativerfahrungen mit der Komplexität der Suchmasken und der technischen Zuverlässigkeit des Angebotes thematisiert wurden.
In der Tat funktioniert die Suche mit der MM-Datenbank nicht ganz intuitiv, also nicht wie in gängigen Browsern oder Bibliotheks-OPAC-Systemen. So muß auch in der einfachen Suchmaske ("Standardsuche") beachtet werden, daß bei mehreren eingegebenen Suchbegriffen vor jedes Wort außer dem ersten ein "+" zu stellen ist, sonst wird die Suche als "oder"-Suche interpretiert. In der komplexeren "Expertensuche" können wiederum nicht mehrere Suchworte eingegeben werden, es muß vielmehr in "einschränkenden" Suchdurchgängen hintereinander gesucht werden. In diesem Experten-Modus tut sich bald ein Dutzend Suchkategorien auf, welche meist nochmals differenziert werden können. So kann im "Stichwort Person" präzisiert werden: "Autor", "Vorbesitzer", "Schreiber". Hier ist streng zu beachten, daß lediglich die bibliothekarisch exakte Form des Namens suchbar ist. Man sollte also diese Form kennen oder mindestens deren Anfang: Nur wenn man diesen trunkiert (d.h. mit einer End-Variable "*" versieht) eingibt, erhält man Treffer, mit anderen Namensteilen hingegen nicht. Allerdings erleichtert eine anklickbare Thesaurusliste der vorhandenen Namen das Geschäft erheblich.
Im Bereich "Ikonographie" kann der kunsthistorische Versierte das Klassifikationssystem "Icon-class" benutzen.
Der Vorteil solcher Komplexität liegt auf der Hand: Wer sich eingearbeitet hat, kann gezielte, minutenschnelle Spezialabfragen unternehmen, für die er früher den Besuch einer Forschungsbibliothek und geraume Zeit für das Blättern in zahlreichen Handschriftenkatalogen einplanen mußte: So kann z.B. rasch festgestellt werden, welche (modern erschlossenen) Handschriften etwa der Heidelberger Gelehrte Matthias von Kemnat aus dem 15. Jh. selbst (teilweise) geschrieben hat (zwei), welche er besessen hat (diese beiden und weitere acht) und in welchen sich von ihm verfaßte Texte finden (zwölf, davon keine von ihm selbst geschrieben oder besessen).
Der Nachteil ist eine immer im Hinterkopf zu behaltende terminologische Spitzfindigkeit im begrifflich ohnehin schon recht spezialisierten Bereich der Handschriftenforschung. Ferner sind unvermeidlicherweise Fehler in den Namensansetzungen vorhanden: So findet sich eine der Handschriften, die Matthias von Kemnat besaß, nur bei der Suche unter "Mathias von Kemnat" mit einem "t", denn diese vergleichsweise einfache Namensvariante wurde im Gegensatz zu vielen komplizierten (Matthias Widmann von Kemnat, von Kemnaten usw.) unseres Beispielgelehrten übersehen. Es besteht jedoch stets die Ausweichmöglichkeit auf die einfachere Standardsuche, in der man ohne Weiteres nach "Mathias oder Matthias (von) Kemnat" suchen kann (einzugeben ist: "Matthias Mathias + Kemnat"). Man muß in solchen Fällen lediglich in Kauf nehmen, möglicherweise unter den vielen Ergebnissen aus allen Kategorien die richtigen herauszusuchen bzw. die Doppelungen zu übergehen. Deren Überprüfung wird durch den bequemen Klick zu den Katalogen in Druckform jedoch ungemein erleichtert.
Für die Expertensuche ist es gewiß ratsam, den langen Hilfstext auszudrucken (was leider wegen Überformat jedenfalls aus dem Internet-Explorer nicht direkt möglich ist), denn er bedarf zur Verinnerlichung der mehrmaligen Lektüre.
Was die technische Zuverlässigkeit des Zugangs angeht, hat auch der Rezensent häufig Stockungen erfahren. Intern gibt es mitunter Fehlschaltungen. In manchen Fällen ist die Verknüpfung von der Datenbank zum Katalog nicht vorhanden. So gibt es etwa vom Registereintrag zum Texteingang "Constantinopolitana clades" aus der Handschrift Nürnberg Cent. V, App. 15. keinen Link zum entsprechenden Nürnberger Katalog, obwohl dieser in "Handschriften online" durchaus enthalten ist. Genauso verhält es sich beim Texteingang "Primo quando aliqua persona" aus einer Basler Handschrift (IX 4): kein Link zum Basler Universitätsbibliothekskatalog. Das macht unbequeme Umwege erforderlich, die jedoch innerhalb von MM zu bewältigen sind.
Die Gestaltung der Seite ist gefällig, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Unpraktisch sind lediglich die eng gesetzte, deshalb das Danebenklicken fördernde Menüführung in der rechten oberen Ecke sowie die Tatsache, daß man mit dem "Home"-Link aus der Handschriftendatenbank immer wieder nur in die Datenbank gelangt statt zur MM-Hauptseite. Zu letzterer gelangt man vielmehr mit dem Klick auf "Handschriftendatenbank" am oberen Rand der Seite!
Die Seite ist bisher einsprachig. An der Ergänzung mit englischen Texten wird jedoch bereits gearbeitet.
Insgesamt ist MM ein sehr gelungenes Beispiel dafür, wie Digitalisierung mit vergleichsweise einfachen Mitteln die Effizienz, Verknüpfung und bibliotheksunabhängige Verfügbarkeit geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung steigern kann. Zweierlei sind dem Angebot noch zu wünschen: Erstens eine Sammlung von "Interrogata usitatissima" (vulgo: Frequently Asked Questions), die sicher manches Benutzungsproblem oder -mißverständnis schnell klären könnte - und auch manche allzugroße Erwartung dämpfen. Zweitens eine stärkere Bekanntheit auch über den engen Kreis der Handschriftenkatalogbearbeiter hinaus bei allen Handschriftenlesern. Denn für Forscher aller Disziplinen, die mit mittelalterlichen Handschriften deutscher Provenienz arbeiten, dürfte MM das wichtigste Online-Angebot überhaupt sein.
Anmerkungen
1 Dokumentiert in den Archiv-Dateien, abrufbar durch E-Mail an: Majordomo@Lists.Uni-Marburg.DE mit dem Befehl: "get diskus diskus.0212" bzw. "get diskus diskus.0301"