Bodies in Formation - Mass Gymnastics under Communism

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Titel
Bodies in Formation - Mass Gymnastics under Communism [Open Society Archives].
Herausgeber
Rubal, Petr (Curator) <petr_roubal@hotmail.com>
Veröffentlicht durch
Open Society Archives (OSA): Budapest, HU <http://www.osa.ceu.hu/>
Enthalten in
Von
Diethelm Blecking

Bei der Website handelt es sich um eine der virtuellen Ausstellungen der Open Society Archives (OSA) an der Central European University in Budapest (www.osa.ceu.hu), die Teile eines Ausstellungsunternehmens im Internet "begehbar" macht, das vom 17. Mai bis zum 29. Juli 2001 in der Galeria Centralis der Universität stattfand.

Das Projekt beschäftigt sich mit der Bedeutung turnerischer und sportlicher Massenveranstaltungen für die symbolische Repräsentanz von sozialen sowie nationalen Bewegungen. Das politische Spektrum der Regisseure dieser Veranstaltungen konnte dabei von der extremen Linken bis zur extremen Rechten gehen. Die Großveranstaltungen waren Instrumente der Legitimierung und Stabilisierung politischer Herrschaft. Im Fokus der kleinen Ausstellung stehen Überlegungen und Bildquellen zu den Spartakiaden und Maiaufmärschen, die von den kommunistischen Herrschaftssystemen in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert wurden. Die Autoren sind sich aber der Ursprünge dieser Massenveranstaltungen im Kontext der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts bewusst. Die deutschen Turner und die tschechischen Sokol-Turner (Sokol=Falke), Protagonisten der jeweiligen Nationalbewegung, kultivierten und demonstrierten in ihren Massentreffen maskuline, sozialdarwinistisch akzentuierte Kraft und überführten sie in die für die Moderne charakteristischen Kategorien Gehorsam und Disziplin. Diese Tradition wurde sowohl von den disziplinierten Massenkörpern der Nürnberger Nazi-Parteitage als auch von den Spartakiaden wieder aufgenommen und fortgeführt. Im riesigen Prager Strahov-Stadion, dem größten Stadion der Welt, fanden vor dem Zweiten Weltkrieg die Masseninszenierungen des Sokol statt und im selben Stadion organisierten die kommunistischen Eliten ihre Begegnung mit den Massen, die als disziplinierte Formationen erscheinen. Es sind Foucaults "gelehrige Körper", die auf exakten Punkten imaginärer x- und y-Achsen aufmarschieren. Stehen die männlichen Körper für Disziplin und durchaus militärisch intendierte Stärke, so symbolisieren Frauen und Jugendliche bei ihren Auftritten die Schönheit und die Zukunftsorientierung der kommunistischen Welt.

Die Ausstellung ist in sechs Rubriken (Prologue, Discipline, Strength, Beauty, Youth, Epilogue) unterteilt und unterfüttert ihre Argumentationsfiguren mit interessantem Bildmaterial (Fotos der Inszenierungen, Poster, Auszüge aus Handbüchern und Festschriften) von den Sokolfesten der Zwischenkriegszeit, über die Spartakiaden und Maiaufmärsche der untergegangenen kommunistischen Staaten Osteuropas bis zu den grotesken Adaptionen dieser Form der symbolischen Politik in Kambodscha und Nordkorea während Titos Asienreise 1977. Dazu werden eindrucksvolle Textdokumente vorgestellt, wie jene berühmte Reuters-Meldung vom 20. März 1990, die nach dem Sieg der samtenen Revolution in Prag die Absage der Spartakiade 1990 notierte, welche 14.000 Sportlerinnen, Sportler und Soldaten zu den Massenübungen im Strahov-Stadion versammeln sollte (http://www.osa.ceu.hu/galeria/spartakiad/online/epilogue/index.html).

In Prag folgte dem Ende der Spartakiaden die Renaissance der Sokolbewegung und ihrer Feste diesmal organisiert durch die Zivilgesellschaft. Václav Havel eröffnete 1994 das erste Sokolfest nach dem Ende des Poststalinismus.

Der Durchgang durch die Ausstellung führt adäquat in ein bisher von der Geschichtswissenschaft recht stiefmütterlich behandeltes Thema ein. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Gerald E. Carr.1 Ein zweisprachiger (ungarisch/englisch) Printkatalog lässt sich zum Preis von 5 US-Dollar online ordern (der Rezensent ist aber bisher beim Ordern jedes Mal an einem Webmaster-Problem gescheitert). Er enthält einen 20-seitigen Essay des Kurators zum Thema der Ausstellung. Die Bibliographie des Katalogs kann man schon jetzt von der Website laden. Sie umfasst, wenn auch nicht immer fehlerfrei notiert, die wichtigste weiterführende Literatur aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft, der Sportgeschichte und der Sportsoziologie. Eine hochinteressante Linkliste führt von den deutschen Turnern, ihren xenophoben bzw. antisemitischen Kollateralbewegungen, nebst ihren Kritikern bis zu Leni Riefenstahls Ästhetisierung der Nazi-Masseninszenierungen und Susan Sontags Interpretation derselben. Die Liste ist jedoch leider nicht mehr ganz aktuell, da bereits einige der Links ins Leere führen.

Alles in allem transportiert die Website Gedanken und Quellenmaterial für einen kritischen Ansatz, der die Rekonstruktion einer Sportgeschichte der Moderne und das Verhältnis zwischen Sport und Macht durchaus anschlussfähig für Überlegungen macht, welche die organisierte Bewegungskultur als Teil von Herrschaftszusammenhängen begreift und analysiert. Weder das "Frisch, fromm, fröhlich, frei" der deutschen Turner, noch der NS-Slogan "Kraft durch Freude" oder das Spartakiademotto "Freude, Gesundheit, Kraft" können diesen wissenschaftlichen Verdacht aus dem Weg räumen.

1 Gerald E. Carr, The Spartakiad, Its Approach and Modification from the Mass Displays of the Sokol, in: Canadian Journal of History of Sport 18 (1987) 1, S. 86-96.

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