Die Grenzen der Zeitgeschichte sind nicht nur für ihren Beginn, sondern auch für das Ende ihres Zuständigkeitsbereichs fließend. Oft wird die Chance vergeben, Deutungslinien bis zur Gegenwart zu ziehen und damit das politische Gewicht historischer Aussagen zu stärken. Dabei sind die Möglichkeiten dazu so günstig wie noch nie: Gerade das Internet erleichtert den Zugang zu jüngst Vergangenem, es verkürzt Recherchewege und Reaktionszeiten. Immer mehr seriöse Einrichtungen nutzen die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und besinnen sich auf die Servicepotenziale eines zeitunabhängigen, vom Nutzer interaktiv gesteuerten Angebots. So machen etwa Archive auf diesem Wege Auskünfte zugänglich, für die noch vor wenigen Jahren mehrwöchige Briefwechsel unumgänglich waren.
An handgestrickten Versuchen, solche Informationen des Internets zu bündeln, herrschte auch bisher schon kein Mangel. Manches davon war zu verspielt, zu selektiv oder auch zu breit angelegt, um sich dauerhaft zu etablieren. Denn das Internet ist ein Organ der täglichen Abstimmung mit dem Zeigefinger, fast ohne "Loyalitäten" oder "Kundenbindung". Wer sich nicht umfassend oder zuverlässig genug informiert fühlt, orientiert sich neu. Zahlreiche Projekte sind daher im Ansatz stecken geblieben. Das "Lexikon zur Zeitgeschichte" der RWTH Aachen beispielsweise verwaltet seit einigen Jahren genau 16 Artikel - aber darüber möchte sich niemand erheben. Der nüchterne Anspruch von "Zeitgeschichte-online" (ZOL), das seit wenigen Monaten einen neuen Versuch zu einem solchen Portal unternimmt, ist daher nicht leicht einzulösen: "Ziel des Vorhabens ist es, einen zentralen zeithistorischen Einstiegspunkt in das WWW für die Geschichtswissenschaften im deutschsprachigen Raum zu schaffen und auszubauen". Denn bei der Unüberschaubarkeit und Wandlungsintensität des elektronischen Universums ist es fast unvermeidlich, dass mancher der dort verzeichneten Links schon wieder ins Nichts führt. Umso notweniger ist es, sehr aufmerksam gegenüber Veränderungen und konkurrierenden Angeboten zu sein.
Was das vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und der Staatsbibliothek Berlin aufgebaute und betreute Portal bietet, muss hier nicht in allen Einzelheiten beschrieben werden. Wer diese Zeilen liest, ist in der Regel online und binnen weniger Mausklicks bei <www.zeitgeschichte-online.de>. Schon eine oberflächliche Tour durch die verschiedenen Ebenen lässt den auf Sachlichkeit und Standardisierung bedachten Charakter der Einstiegsseite erkennen. Man findet sich leicht zu recht und auch leicht wieder zurück zu den Ausgangsseiten, die jeweils im Hintergrund verbleiben. Die Navigation bereitet keine Probleme. Beim Seitendesign ist allenfalls zu beklagen, dass bei Bildschirmformaten unterhalb von 19-Zöllern immer wieder zum Fortsetzungs-Button hochgescrollt werden muss. Nützlicherweise werden die Inhalte der verzeichneten Seiten kurz charakterisiert, sodass mancher "Fehlklick" bereits im Ansatz vermieden wird. Findet man interessante Links, erscheint vor jeder Weiterleitung zur Seite des jeweiligen Anbieters zunächst ein Impressum und eine Kontrollnotiz von ZOL. Dieses "Protokoll" kann aber auch übersprungen werden.
Vorgestellt werden zunächst verschiedene "Institutionen" der zeithistorischen Forschung, Archive, Forschungsinstitute, Universitäten, Fachgesellschaften, Bibliotheken, Museen und Gedenkstätten, Verlage und Behörden (644 Einträge, Stand vom 14. Juni 2004). Hiernach musste man bislang aufwändig "surfen". Unter der Rubrik "Personen" (309 Einträge) findet man Biografien und biografische Lexika, unter "Zeithistoriker im Web" vieles zur Selbstdarstellung - und auch manchen Selbstdarsteller - des geschichtswissenschaftlichen Personals. Um hier zu einer zentralen Konsultationsinstanz zu werden, bedürfte es wohl einer gezielten Aufforderung zur "Lieferung" aktueller Daten, wie dies seit 1994 etwa das "Vademecum der Geschichtswissenschaften" des Stuttgarter Steiner-Verlags zu tun pflegt.
Bei der Präsentation von "Projekten & Foren" (62 Einträge) liegt der Akzent insgesamt noch stark auf solchen Themen, die seit der Wende in Berlin und in Ostdeutschland bearbeitet werden. Generell vertreten diese Projekte und Diskussionsgruppen noch keinen repräsentativen Querschnitt der zeitgeschichtlichen Forschung, sodass man es allenfalls mit einem Zwischenbericht über mediale "Aufrüstung" zu tun hat. Die Potenziale des Netzes werden bei den präsentierten Beispielen einmal mehr erkennbar, und es wäre zu wünschen, dass der Blick über die deutschen Grenzen hinaus weiter gestärkt wird.
Bei den bislang von der ZOL-Redaktion angeregten "Themen" gilt es erst einmal abzuwarten. Zum einen ist es begrüßenswert, wenn etwa die zweidimensionale Fernsehkost der Knoppschen Standardformate durch eine Erinnerung an 25 Jahre "Holocaust-Serie" irritiert wird. Weniger sinnvoll erscheint mir, dem immer künstlicheren Reigen um Jahrestage nachzueifern, der bereits große Teile der Zunft erfasst zu haben scheint. Warum eigentlich muss jetzt an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 90 Jahren erinnert werden? Gedenken wir der schmalen Ressource "Aufmerksamkeit" wegen bald in Fünf-Jahres-Schritten? Wäre es nicht sinnvoller, sich auf die ganze Breite der Zeitgeschichte einzulassen, wissenswerte und merkwürdige Erträge der Forschung publik zu machen und ggf. sogar eine Rubrik einzuführen, die solchen "Entdeckungen" gewidmet wird? Die Zeitgeschichtsforschung, die oft genug übervorsichtig und mit einem seltsamen Seriositätszwang auftritt, könnte hier die Chancen des Internets selbstbewusster nutzen und die Trendfixierung der kommerziellen Medien und Verlage unterlaufen.
Nun stellt sich für ZOL aber überhaupt die eingangs angerissene Frage, ob man an die Tagesaktualität anschließen möchte oder sich vielmehr auf die zuverlässige Sichtung wirklich empfehlenswerter "Arbeits"-Seiten beschränkt. Immerhin sind dies gegenwärtig schon fast 2000 Links. Allein die Qualitätssicherung dieser Informationen ist eine heroische Aufgabe, die dankbar begrüßt, wer in Seminaren von den Studenten nach zuverlässigen Verweisadressen gefragt wird. Allerdings könnte man sich die Startseite noch etwas lebhafter vorstellen, allzu lange wird man von dem gleichen Erscheinungsbild begrüßt, das auf die aktuellen "Themen", aber auch die Zeitschrift "Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History" verweist, die gleichzeitig mit ZOL startete und an dieser Stelle - auch unter dem Für und Wider des "Histotainments" - bereits separat besprochen wurde 1. Zweifellos nützlich sind die Hinweise auf tagesaktuelle Angebote zu zeitgeschichtlichen Themen im Fernsehen und in der Presse, die man als PDF-Datei einsehen und ausdrucken kann. Die Verweise auf H-Soz-u-Kult sowie Clio-online, mit denen ZOL klugerweise kooperiert, sind ebenso begrüßenswert, wie Hinweise auf andere Rezensionsanbieter, andere Foren und andere Portale.
Die Rubrik "Texte & Quellen" (604 Einträge) ist vorerst zwar noch sehr ausschnitthaft, aber nicht nur wegen der Arbeitserleichterung ungemein zukunftsträchtig. Die bereits erkennbare Vielfalt regt zu überraschenden Assoziationen an und erlaubt - von Hannah Arendts Nachlass in der Library of Congress bis zu den "Märtyrern des Erzbistums Köln" - echte Entdeckungen. Das gilt auch für die Verweise auf Nachschlagewerke, Lexika und Bibliografien. Besonders ausbaufähig sind die Bild-, Karten- und Textsammlungen bis hin zu Artikeln und Monografien, ja zu ganzen virtuellen Ausstellungen (etwa der jüdischen Familie Turteltaub), kurz: zu allem, was sich multimedial aufbereiten lässt. Der Verweis auf "Portale & Kataloge" (200 Einträge) eröffnet einen eigenen Kosmos an Knotenpunkten, die nachzuverfolgen wegen der Zirkularität der Verweise rasch den Eindruck hinterlässt, im Irrgarten des Netzes herumzutaumeln. Hier finden sich Polen- und Estlandportale ebenso wie Links zur "Leni Riefenstahl-Rezeption nach 1945". Zuletzt wird noch ein Link zu "Aufsatzdatenbanken" angeboten. Mit der "Suche"-Funktion ist der Autor nicht auf Anhieb klargekommen, das lag aber zweifellos an ihm selbst. Es fällt auf, dass die Zuordnung einzelner Seiten zu den hier gewählten Kategorien bisweilen schwer fällt und mit einem gewissen Rest an Willkür erfolgen muss.
Insgesamt spiegelt ZOL sicher einen Zwischenstand der Zeitgeschichtsforschung wider, dessen Schwerpunkte noch stark auf der Linie "Erster Weltkrieg - 1933 bis 1945 - DDR - 1968ff." liegen. Vor allem Film- und Bildressourcen, Bibliografien und Biografien sind inzwischen in breiter Auswahl zugänglich. Ein Großteil der Angebote im Netz wird aus benachbarten Medien und von "Dilettanten" im besten Sinne eingestellt. Alles ist im Fluss. Damit der Anspruch eingelöst werden kann, mit ZOL solle "die fachwissenschaftliche Kommunikation und Diskussion sowie der Nachweis und die Vermittlung zeithistorisch relevanter Informationen durch die Nutzung der Möglichkeiten des Internet verbessert werden", möchte man dem Projekt nicht nur einen langen Atem wünschen, sondern auch Nutzer, die das Portal als obligatorische Adresse annehmen.
Anmerkung:
1 Vgl. Bruendel, Steffen, Forum: Neue Zeitschrift für Zeitgeschichte vorgestellt: Zeithistorische Forschung/Studies in Contemporary History, in: H-Soz-u-Kult, 5. Februar 2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=426&type=diskussionenonen (15.06.2004)