"Gegen Diktatur"
Multimediale Unterrichtsangebote werden für die Auseinandersetzung mit zeithistorischen Themen immer wichtiger. Das klingt banal, ist es aber gar nicht. Wie Thomas Lindenberger kürzlich in seinem erhellenden Text zur Zeitgeschichte und ihrer Herausforderung durch die audiovisuellen Medien gezeigt hat, sind die "Mitlebenden" (Hans Rothfels) heutzutage als ständige Medienkonsumenten auch die "Mitsehenden" bzw. "Mithörenden" der Epoche - ob beim morgendlichen Aufstehen mit dem Radio, der Zeitungslektüre beim Frühstück oder dem regelmäßigen Gang ins Kino. Dies gilt ebenso für den Konsum von Hörbüchern und Videos, nicht zu vergessen von DVDs, und den Umgang mit weltweit miteinander verwobenen Computern, die selbstverständlicher Teil unseres Alltags sind.1
Bei der on- sowie auf einer CD-Rom offline zu besichtigenden Exposition "Gegen Diktatur - Demokratischer Widerstand in Deutschland" sind vor allem die "Mitsehenden" angesprochen und gefordert: über Fotos, Protokolle, Flugblätter, Plakate und andere Materialien. Was jeweils Interesse findet bzw. in den Blick gerät, bleibt den Nutzerinnen und Nutzern überlassen.
Die vom Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem Verein "Gegen Vergessen - für Demokratie" konzipierte Exposition war 2003 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und im Deutschen Bundestag zu besichtigen. Sie wurde unter der Mitwirkung von Susanne Brömel, Katharina Möhring, Katrin Passens, Anneke de Rudder, Clemens Stachel und unter der Leitung von Johannes Tuchel und Bernd Florath, zwei ausgewiesenen Kennern der Materie, erarbeitet. Für die von der Gedenkstätte herausgegebene CD-Rom wurde eine Präsentationsform gewählt, die den Inhalt der Ausstellung wiedergibt und ihn zusätzlich um pädagogische Arbeitsmaterialien ergänzt: "Sie soll darüber hinaus Lehrern und Schülern einige Anregungen geben, sich vertiefend mit der Problematik von Widerstand und Opposition gegen Diktaturen innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu beschäftigen."2
Wie wird dieser Anspruch nun eingelöst? Um diese Frage zu beantworten, wird von dem üblichen Besprechungswesen abweichend verfahren, in dem nachfolgend die Durchführung eines "Praxistests" zur Nutzung der Onlineausstellung dokumentiert wird. Ausgangspunkt hierfür war die Idee, dass es wenig "Sinn" macht, vornehmlich wissenschaftsextern zu nutzende Medien ausschließlich anhand von wissenschaftsinternen Kriterien zu bewerten. Empirisch begründete Hinweise für die tatsächliche Nutzung und Rezeption des Mediums erweisen sich möglicherweise im Vergleich als dringlicher als andere Fragen - etwa nach einer angemessenen Berücksichtigung des Forschungsstandes oder einer Sehnsucht nach antiquarischer "Vollständigkeit".
Die Beschreibung der Inhalte wird deshalb mit einer "wirklichen" Expertenmeinung kontrastiert. Die ausgewählte Probandin heißt Esther Kronberg, ist ab Ende August Schülerin der 12. Klasse am Melanchthon-Gymnasium in Wittenberg und Jahrgang 1987. Esther hat sich eine Stunde lang mit der Onlineausstellung beschäftigt. Das nachfolgend mit ihr geführte Gespräch wird dokumentiert und mündet in einem Fazit. Zunächst werden knapp die Inhalte der beiden Ausstellungskapitel sowie die sich auf der CD-Rom befindlichen Arbeitsmaterialien dargestellt.
Eine Ausstellung und ihre Arbeitsmaterialien
Das erste Kapitel behandelt den Widerstand gegen den Nationalsozialismus (1933-1945), das zweite beschäftigt sich mit dem Widerstand gegen die SED-Diktatur (1945-1989). Beide enthalten jeweils fünfzehn Unterkapitel. Dort finden sich weitere Materialien, insbesondere mit biografischem Bezug. Die Ausstellung will am Beispiel von Einzelschicksalen zeigen, wie und woran sich Opposition und Widerstand gegen die diktatorischen Regime "entzündeten". Die Biografien sollen deutlich machen, was Menschen zu "außergewöhnlich mutigem Einsatz" trieb. Sie sollen die Vielfalt oppositionellen Handelns zeigen und unterschiedliche Strategien im Kampf mit der "Allmacht des Staates" darstellen: "Die Ausstellung widmet sich jenen Menschen, die während des NS-Regimes und in der DDR der Willkürherrschaft widerstanden und mit höchstem persönlichem Risiko für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie eintraten."3
Deutlich werden ebenso vielfältige wie widersprüchliche Motive: So konnten etwa persönliche wie gesellschaftliche Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zur Entscheidung führen, gegen diesen anzukämpfen. Diese Erfahrung wiederum konnte dazu führen, den Stalinismus ebenso zu bekämpfen. Die in der Ausstellung genannten Menschen, auf die dies auf unterschiedliche Weise zutrifft, sind Robert Havemann, Werner Rüdiger, Wilhelm Grothaus und Heinz Brandt. Viele weitere - zumeist die berühmten - Persönlichkeiten und deren widerständisches Handeln, wie etwa jenes von Carl von Ossietzky, Helmut Graf von Moltke oder auch Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro werden ebenso gewürdigt. Auch der 17. Juni 1953 wird nicht nur über die Ereignisse, sondern auch über die handelnden Akteure erzählt.4
Die dargebotene Vielfalt soll vor allem die ganze Breite "antidiktatorischen Widerstands" zeigen. Sie kann als außerordentlich breit beschrieben werden. Indes, was heißt das eigentlich: "Demokratischer Widerstand"? Waren die Menschen, die widerständig handelten, allesamt Demokraten, unserem heutigen Verständnis entsprechend? Oder ist gemeint, dass Widerstand gegen Diktatur per se demokratisch ist? Wie wäre "Demokratischer Widerstand" in beiden unterschiedlichen Diktaturen zu untersuchen?
Der Begriff wird vielmehr durch Biografien konkretisiert, sonst nicht weiter problematisiert. Die Pauschalisierung heterogener Biografien unter einer Überschrift legt keinen Schwerpunkt auf die historisch veränderbaren Vorstellungen darüber, was Begriffe wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie konkret bedeuten können. Offen bleibt, ob die mit den Begriffen zusammenhängenden Gegenwarts- und Zukunftsorientierungen der Akteure nur annähernd ähnliche Bedeutungen und Inhalte besaßen. Ein besonders eindeutiges Beispiel für viele Unterschiede ist der Vergleich der Biografien von Johann Georg Elser und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Wäre eine alleinige Überschrift wie "Gegen-Diktatur" nicht gleichsam weiter und dennoch präziser gefasst?
Jedoch: Für die Rezeption bzw. konkrete Nutzung des Mediums sind dies - wie oben angedeutet - nicht die primären Kriterien. Schließlich sind es ja die Geschichten, die faszinieren (sollen)! Hier kommt den Arbeitsmaterialien eine besonders wichtige Rolle zu, da vor dem Computer sitzend keine Gruppenbegleitungen und vertiefende Seminare - wie sie etwa in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand angeboten werden - möglich sind. Erörterte Themen im Materialanhang sind das Attentat von Georg Elser auf Hitler, die politischen Konzepte des 20. Juli, die revolutionären Sozialisten um Hermann Frieb, Bebo Wager und Waldemar von Knoeringen, der Volksgerichtshofprozess gegen Hanno Günther, Hilfen für Verfolgte im Nationalsozialismus bzw. für die Zeit nach 1945 der Friedenkreis in Jena Anfang der 80er Jahre, die politischen Thesen Robert Havemanns, die Samizdat-Zeitschriften am Beispiel der "Umweltblätter", die politischen Prozesse der SED gegen Regimegegner sowie die Republikflucht aus der DDR. Hilfreich ist, dass die Arbeitsmaterialien mit den jeweiligen Ausstellungskapiteln verlinkt sind.
"Praxistest"
Möglicherweise sind Schülerinnen und Schüler über multimediale Angebote mittlerweile besser ansprechbar als über Reliquien aus der Zeit der "Gutenberg-Galaxis" (Norbert Bolz). So wies Esther im Gespräch eingangs darauf hin, dass ihre eigenen Vorkenntnisse zum Thema, die sie aus der Schule "mitbringt", eher zerstreut und wenig zusammenhängend sind. Einiges habe sie aus dem Fernsehen erfahren. So wurde etwa im Geschichtsunterricht der neunten Klasse "Hitlers Machtergreifung" ausführlich thematisiert, während für das Thema Holocaust keine Zeit mehr gewesen sei.
Esthers Gesamtfazit fällt eindeutig aus: Das Angebot überzeugt "100%ig" und sei durchaus "cool". Als besonders positiv hob sie etwa die sehr übersichtliche Präsentation und das für sie problemlose Navigieren auf den Seiten hervor. Auch der Griff zu den Arbeitsmaterialien, die sie als verständlich und anregend beschrieb, erschien ihr selbstverständlich. Ihr eigenes Vorgehen beschrieb sie so: Die insgesamt 60 Minuten Durchgang nutzte sie dazu, nicht alle Kapitel oberflächlich, sondern einzelne möglichst intensiv und vollständig anzuschauen: "Ich wollte auch wirklich wissen, was z.B. auf den Flugblättern von Sophie Scholl drauf stand."
Auf die Frage, welche Person bzw. welches Ereignis sie inhaltlich am meisten interessiert hätte, nannte sie das gescheiterte Attentat Elsers, das ihr auch vorher nicht unbekannt gewesen sei. Neu sei hingegen für sie gewesen, dass Elser bei seiner nach dem Attentat durchgeführten Vernehmung ein "schlechtes Gewissen" gezeigt hätte, wie ein Zitat aus dem beigefügten Gestapo-Vernehmungsprotokoll andeutet: Dort verweist er auf die acht Personen, die seinem auf Hitler, Göring und Göbbels gemünzten Anschlag zum Opfer gefallen waren. Dieses "Pech" - Hitler hatte die Veranstaltung dreizehn Minuten früher, als Elser dies erwartet hatte, verlassen - könne man ihm heute nicht zum Vorwurf machen, denn die Tat sei für damalige Verhältnisse überaus "mutig und vorbildlich" gewesen. Esther sieht diese moralische Frage also weitaus weniger rigoros als dies bereits in wissenschaftlich-publizistischen Debatten diskutiert wurde.5 Festzuhalten ist, dass die intensive Auseinandersetzung mit dem Vernehmungsprotokoll, das bis heute als der wichtigste Zugang zum Denken und Handeln Elsers gilt, den von den Herausgebern gewünschten Zweck zu erfüllen in der Lage ist.
Generell betonte Esther, dass aus ihrer Sicht die Verbrechen des Nationalsozialismus weitaus schwerer wiegen würden als diejenigen, die in der SED-Diktatur verübt wurden. Die Beschäftigung mit DDR-Geschichte sei auch schwieriger, da "es noch nicht so lange her ist". Das wiederum heißt nicht, dass in ihren interessierten Blick nicht auch Geschichten aus der DDR fielen, z.B. "die Fluchtgeschichte mit dem Agrarflugzeug, die find ich spannend."
Bemerkenswert war zudem, dass Esther auf die Aktualität der dargestellten Themen hinwies: "Heute gibt es doch so was auch noch, wenn man an Rassismus denkt." Damit ist die Frage gestellt, welche Wünsche und Orientierungen für die Zukunft eigentlich konkret über die Onlinestellung vermittelt werden sollen - jenseits von allgemeinen Slogans, die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einfordern. Wenn im Hintergrund etwa der berechtigte Wunsch steht, die Menschen mögen sich im heutigen Alltag zivilcouragierter verhalten - böte sich dann nicht eine explizite Fortführung des Themas in die Gegenwart an? Auf diese Weise könnten gleichzeitig Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Bedingungen widerständischen Handelns in gegenwärtigen wie damaligen Verhältnissen diskutiert werden - und die Gefahr kurzschlüssiger Interpretationen vom Gestern zur Gegenwart wäre vermieden. Es überzeugt, dass sich die Herausgeber diesbezüglicher Analogien enthalten.
Fazit
Das Angebot ist einfach strukturiert, sehr vorzeigbar präsentiert. Das wichtigste aber ist: Es besitzt das Potential, die Nutzerinnen und Nutzer für die weitere Auseinandersetzung anzuregen. Das pädagogische Material ist überzeugend aufbereitet und kann zu komplexen Fragestellungen anregen. Legt man die knappen Interviewpassagen zugrunde, wird dies bereits deutlich. Esther schlug vor, dass die Homepage weiter ausgebaut und inhaltlich weiter vertieft werden könnte. Hilfreich scheinen ihr bereits jetzt die zahlreichen Verlinkungen zu weiteren Angeboten im Internet, die sich auf der CD-Rom befinden.
Eine abschließende Frage an die Ausstellungsmacher könnte lauten: Wieso eigentlich nur "Sehen", warum nicht auch "Hören"? Sicherlich lassen sich problemlos passende Ton- bzw. auch Filmdokumente finden und hinzufügen. Diese Erweiterung würde alle "Sinne" ansprechen, dem Rezeptionsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer entgegen kommen und möglicherweise dazu beitragen, auch diejenigen für das Thema zu interessieren, die dafür bislang unerreichbar sind.
Mehr "Hören" würde eventuell auch dazu führen, dass die damaligen Verhältnisse nicht ausschließlich vom jetzigen Gegenwartsstandpunkt betrachtet würden, sondern auch vom Standpunkt der damaligen Gegenwart. Deutlicher zum Vorschein kommen würde die Mehrdeutigkeit der vergangenen Ereignisse, die schon jetzt insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Arbeitsmaterialien zum Vorschein kommt. Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer interessieren sich für diese Historizität der Ereignisse.
1 Lindenberger, Thomas, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), H. 1, URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lindenberger-1-2004> bzw. den klassischen Artikel von Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) H. 1, 1953, S. 1-9.
2 Vgl. den Einführungstext auf der Startseite der CD-Rom. Diese ist Teil des Ausstellungsmaterials. Ausführliche Informationen zu den Leihbedingungen für die Wanderausstellung - ein Angebot, das sich vor allem an die Multiplikatoren der politischen Bildungsarbeit richtet - finden sich unter http://www.gdw-berlin.de/aus/html/Wanderaus_Leihbedin_GegenDiktatur.pdf
3 Ebenda.
4 Wer "mehr" haben will, kann folgendes Angebot der Bundeszentrale für Politische Bildung, des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Deutschlandradio nutzen: http://www.17juni53.de/ Vgl. außerdem die Datenbank der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur über die mediale Berichterstattung zum Jahrestag des 17. Juni 1953, die mehr als 2.500 Titel enthält: http://www.stiftung-aufarbeitung.de/
5 Vgl. den umstrittenen Artikel von Lothar Fritze "Das Attentat Georg Elsers auf Hitler im Bürgerbräukeller aus neuer Sicht" zum 60. Jahrestag des Attentats in der Frankfurter Rundschau vom 8. September 1999, S. 9.