Als am 1. April 2001 die Ausstellung „Nachricht von Chotzen. Eine jüdisch-christliche Familie in Berlin“ in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz eröffnet wurde 1, lag mein Interesse zuvorderst an dem Schriftverkehr, insbesondere an den Postkarten, die die Mitglieder der Familie Chotzen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, aus dem Ghetto Riga und dem Berliner Sammellager gesendet haben. Zu diesem Zeitpunkt bereitete ich mit Kollegen eine Ausstellung über „Postkarten aus Theresienstadt“ im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in Berlin 2 vor und war von der umfangreichen Sammlung beeindruckt. Gleichzeitig erwarb ich die ein Jahr zuvor erschienene Publikation „Nachricht von Chotzen“ von Barbara Schieb 3 und konnte von der Familiengeschichte und den zahlreichen aufgeführten Dokumenten (die Postkarten sind mit ihrem Text aufgeführt) nicht mehr ablassen und hatte in kurzer Zeit das Buch erlesen. Ich war von den Biografien gefesselt und von der hervorragenden Aufarbeitung der Geschichte der einzelnen Familienmitglieder beindruckt, die für Schieb einen Beitrag zur „Individualisierung des Holocaust“ (S.8) darstellt. Gefallen hat mir dabei auch, wie sie den Leser an die Hand nimmt und trotz der vielen vorgestellten Personen keine Verwirrung aufkommen lässt. Ein einfaches und sehr effektives Mittel ist dabei auch der abgedruckte Stammbaum der Familie Chotzen auf der zweiten Umschlagseite, der bei Bedarf zu Rate gezogen werden kann.
Umso gespannter war ich auf das Web-Angebot www.chotzen.de, ein Kooperationsprojekt des Deutschen Historischen Museums und der Bundeszentrale für politische Bildung mit Unterstützung der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, welches mir als Nutzer ermöglichen soll, die „Mitglieder der Familie Chotzen von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis heute“ zu begleiten. Der Begrüßungstext auf unerklärlich langweiligem schwarzen Hintergrund verweist darauf, dass sich „die multimedial aufgearbeitete Geschichte der Familie Chotzen (...) besonders für den Schulunterricht (eignet)“. Dem würde ich gerne glauben schenken, doch bereits für den „Hausgebrauch“ drängen sich einem die Mängel der Seite geradezu auf. Über Darstellungsästhetik zu lamentieren ist mühselig. Mich spricht die schwarze Hintergrundfarbe keineswegs an, erinnert sie doch an die schwarze Umrahmung von Todesanzeigen – soll die Farbe dies oder ähnlich Leidvolles suggerieren? Über den Startbutton offenbarte sich vielversprechend das Menü: Zeitleiste, Touren, Kurzfilm, Material, Schule und Unterricht, Suche, Einstellungen, Hilfe, Impressum und Kontakt sowie Beenden. Um es kurz zu machen: Ich bewegte mich durch alle Menüpunkte und vermisste obgleich der großen Fülle an Dokumenten, Materialen und Multimedia zumindest die Postkarten aus Theresienstadt, die Barbara Schieb im Anhang ihrer Publikation abgedruckt hatte. Ich fand leider nur einige wenige. Hoffnungsvoll verdrängend, dass es sich dabei um eine wenig sinnvolle Fokussierung von mir handeln könnte, beschloss ich, mir einen Film anzuschauen. Ich entschied mich für den „Antisemitismus-Stream“ und als mir im Übertragungsfenster mitgeteilt wurde, dass ich den Film in etwa 40 Minuten anschauen könnte, brach ich den Vorgang gleich wieder ab. Ich verfüge zwar nicht über einen schnellen Internetanschluss, bin aber ansonsten mit der Übertragungsgeschwindigkeit zufrieden. Störend empfand ich auch, dass ich nicht über die Browser-Symbolleiste die jeweiligen Seitenaufrufe navigieren konnte, sondern immer erst über einen Pfeil am unteren Rand zur Menüleiste zurückklicken musste.
Ich wechselte zum Menüpunkt „Zeitleiste“ und entdeckte eine sehr sinnvolle Möglichkeit, mit der ich besuchte Seiten, Dokumente, Texte etc. in einem persönlichen Album ablegen konnte und somit eine individuelle Sammlung über die Familie Chotzen und ihre historische Einbettung erstellen kann. Das Album selbst verbirgt sich hinter dem Symbol i für Info Fenster. Hier werden unter „Info“ auch weitere Fotos, Filme und Texte angeboten sowie unter „Sammeln“ die gespeicherten Dokumente – getrennt nach Bildern und Texten – abgelegt. Unter dem Menüpunkt „Material → Bilder“ misslang leider der Versuch, das willkürlich ausgewählte Dokument „Arbeitszeugnis Eppi Chotzens“ zu öffnen. Derer mit der gleichen Bezeichnung gibt es fünf und lediglich das erste Dokument auf der alphabetischen Liste ließ sich öffnen und leider nicht in das Album übertragen, da diese Funktion offenbar nur über den Menüpunkt „Zeitleiste“ verfügbar ist. Daneben ist es auch nicht lesbar, da das Dokument zu klein abgebildet ist und keine Lupenfunktion das Lesen ermöglichen könnte. Eine Transkription liegt ebenfalls nicht vor. Ein weiterer Versuch mit dem textreichen Dokument „Antrag auf Betreuung durch den Ausschuss Opfer des Faschismus“ (ebenfalls unter „Bilder“) war ebenfalls enttäuschend: Das Dokument konnte zwar geöffnet werden, aber auch dieses war wegen der zu kleinen Darstellung nicht lesbar. Warum werde ich als Nutzer überhaupt auf diese Dokumente hingewiesen? Diese Frage bleibt unbeantwortet und es drängt sich auch die Frage auf, inwieweit sich die eigentlichen Zielgruppen, seien es Jugendliche oder an dem Thema interessierte Erwachsene, auf diese Webseite einlassen und sich trotz technischer Mängel dem Thema nicht verschließen sollen, eine Frage, die sich auch die Verantwortlichen stellen sollten, damit sich die vermeintlichen Nutzer über die Schwächen mit dem Medium nicht von dem Thema abwenden.
Außerdem fehlt – ein erheblicher Mangel – eine Druckfunktion. Unter dem Menüpunkt „Links“ interessierte mich der „Dortmunder Linkkatalog zur Geschichtswissenschaft“. Nur wo ist dieser? Es besteht keine Möglichkeit auf diese Seite weitergeleitet zu werden, so wie für die weiteren Links ebenfalls jeweils keine URL angegeben ist.
Doch jenseits der technischen Realisierung ist das Bemühen um eine umfassende biografische Darstellung der zahlreichen Mitglieder der Familie Chotzen beeindruckend. Es scheint mir besonders gelungen, dass es im Rahmen der Zeitleiste eine Ebene gibt, die sich den historischen Ereignissen widmet, während sich auf einer zweiten Ebene die familienbiografischen Darstellungen befinden. Es ist begrüßenswert, dass sich in den historischen Publikationen und nunmehr auch fortschreitend in den interaktiven Medien, die sich historischen Themen widmen, der Blick auf die Akteure selbst richtet und sich von einem positivistischen Geschichtsbild distanziert. Unter diesem Aspekt ist das Web-Angebot über die Familie Chotzen empfehlenswert. Wünschenswert wäre allerdings eine Übersicht über die Familienmitglieder, die bei Bedarf aufgerufen werden kann und verhindert, dass man sich unter den zahlreichen vorgestellten Personen verliert.
Die für den Inhalt Verantwortlichen haben sich mit großer Sorgfalt und entsprechendem Einfühlungsvermögen der Familienbiografie genähert und eine interessante, erkenntnisreiche und nachhaltig wirkende Rekonstruktion vollbracht. Zu lange haben sich Historiker biografiebezogenen Darstellungsformen jenseits der „Prominenten“ und vermeintlichen „Helden“ verweigert und den interdisziplinären Nutzen von Geschichts-, Sozial- und Biografiewissenschaft verkannt. Dabei spielen auch autobiografische Interviews eine große Rolle, da sie eine geeignete Methode zur Erfassung und Analyse von Lebenswelten und der Sinndeutung von biografischen Prozessen und subjektiven Wirklichkeitsdeutung der Erzählenden ermöglichen. Durch die „Individualisierung des Holocaust“, wie Schieb es fordert, werden (auto-)biografische Quellen nicht allein zur Generierung historischer Fakten und Zusammenhänge hinzugezogen, sondern – und das ist das eigentlich interessante – werden Zeitzeugenberichte, Erzählungen und Interviews als Quelle gewonnen, aus der sich dem Forschenden die Kriterien erschließen, die den Lebensverlauf in seinem individuellen Sinn als auch die Deutung durch den Biografieträger selbst verstehbar macht. Es handelt sich um die Herausarbeitung individueller Identitäten im Hinblick auf die Gesamtbiografie der einzelnen Zeitzeugen und die Darstellung ihrer jeweiligen Wirklichkeitsdeutung.
Die Repräsentativität qualitativer Studien und ihrer populärwissenschaftlichen Aufarbeitung wie am Beispiel der Familie Chotzen entspricht demnach einer theoretischen und nicht einer statistischen Repräsentativität. So gesehen ist die inhaltliche Darbietung sowohl der Familienbiografie als auch die der Einzelbiografien der Mitglieder der Familie Chotzen trotz ihrer gemeinverständlichen Reduzierung ein gelungenes Lehrwerk für die Zerrissenheit einer Familie im Kontext der übermächtigen historischen Ereignisse und ihrer fragmentierten biografischen Kontinuitätslinien, die bis in die Gegenwart reichen. Damit wird betont, dass es sich bei den „Opfern“ des nationalsozialistischen Regimes um Individuen handelt, die in ihren Lebensmilieus und in ihren sozialen Welten, in ihren Wirklichkeiten und Handlungen genauso durchschnittlich und eben dadurch auch spezifisch agierten wie der Rest der Bevölkerung. Es waren Menschen mit allen Eigenschaften, Vorlieben und Lebensvorstellungen, die eine individuelle Persönlichkeit ausmachen und sich als Teil der deutschen Gesellschaft zugehörig fühl(t)en. Die Erkenntnis, dass es sich bei den „Opfern“ nicht um eine homogene gesellschaftliche Gruppe handelt(e), die unter Pauschalierungen, Stigmatisierungen und Diskreditierungen subsumiert werden könne, dürfte bei Jugendlichen und dem Thema fernen Nutzergruppen eine nachhaltige Betrachtung auslösen, die sowohl ehemalige als auch zeitgenössische ausgegrenzte gesellschaftliche „Gruppen“ aus ihrer pauschalen Verurteilung löst und den einzelnen Menschen hervorhebt. Entsprechende Wertekonflikte können dadurch nicht diskutiert werden, jedoch die sich dahinter verbergenden Ängste und Sorgen. Daneben wird auf den Webseiten auch der notwendige historische Kontext nicht vernachlässigt, der sich durch sein breites Spektrum auszeichnet.
In dem Spannungsfeld der äußeren und inneren Erlebniswelt bewegt sich die Darstellung der Familie Chotzen. Die Bemühungen der einzelnen Familienmitglieder, wie unterschiedlich auch immer, sich dem Trudeln in die eigene Erleidensgeschichte zu entziehen, die damit verbundenen individuellen Strategien, das Scheitern, das Hoffen und das Weiterleben beschreiben das Dilemma des Individuums, sich zwischen Konformität und (zugeschriebener) Abweichung zu bewegen. In dieser schwierigen Balancebürde bewegte sich nicht nur die Familie Chotzen, sondern bewegen wir uns letztlich alle, wenn auch in unterschiedlichen inneren und äußeren Bedrohungen und unterschiedlichen Leidensausmaßen. Diese könnte eine lerntheoretisch sinnvolle Erkenntnis sein, die das Ähnliche der Menschen untereinander betont und vermeintliche oder wirkliche Unterschiede nicht verschweigt, jedoch darauf verweist, dass diese keine Bedrohung für die eigene persönliche und soziale Identität darstellen. Das kann uns die Geschichte der Familie Chotzen lehren.
Es bleibt fraglich, ob die technische Umsetzung, die inhaltliche Darbietung und die pädagogischen Zielvorstellungen in gleicher Qualität und Nutzerfreundlichkeit realisiert worden sind und ob das Internet für jedes Projekt das richtige Medium ist. Die Diskussionsmöglichkeiten, die eine gedruckte Publikation bietet, die Möglichkeit von Autoren, sich selbst und das Thema ausführlich zu reflektieren, das dialektische Prinzip im inneren Dialog der Schreibenden, sind meiner Ansicht nach unersetzbare Vorteile des Buches. Die Reduzierung einer Familiebiografie auf das Faktische spiegelt nur einen Teil der Lebenswirklichkeit wider und ermöglicht zwar die einzeln Familienmitglieder dem Betrachter verständlich zu machen, aber nicht, diese auch zu in ihrer komplexen biografischen Gesamtgestalt und in ihrem Handeln zu verstehen. Wer das berücksichtigt und problematisiert ist mit dem Internetangebot über die Familie Chotzen auf dem richtigen Weg, sich dieser Familiengeschichte zu nähern –vorausgesetzt die technische Bedienung wird erleichtert und die langen Ladezeiten reduziert. Ich habe jedenfalls die DVD bestellt. Und das Buch bleibt mein persönlicher Favorit.
Anmerkungen:
1 Das überarbeitete Webangebot der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz zur Ausstellung http://www.ghwk.de/sonderausstellung/chotzen/chotzen.htm.
2 Die Homepage der Blindenwerkstatt Otto Weidt http://www.blindes-vertrauen.de/home.html bietet im Archiv unter Pressespiegel Artikel zur Ausstellung „Postkarten aus Theresienstadt“.
3 Barbara Schieb, Nachricht von Chotzen, „wer immer hofft, stirbt singend, Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Band 9), Berlin 2000.